Warum hat die Neue Antikapitalistische Partei in Frankreich ihren linken Flügel hinausgeworfen?
In Frankreich steckt die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) in einer Krise. Die Führung hat die wichtigste linke Opposition aus der Partei geworfen. Das ist wichtig für die internationale Linke – aber nicht unbedingt leicht zu verstehen. Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Krise der NPA.
In Frankreich wird im April nächsten Jahres ein:e neue:r Präsident:in gewählt. Dabei existiert eine Polarisierung zwischen der neoliberalen Rechten des derzeitigen Präsidenten Emmanuel Macron und der extremen Rechten von Marine Le Pen.
Über viele Jahre hinweg konnte die „extreme Linke“, wie sie in Frankreich genannt wird, trotz vieler antidemokratischer Hürden eigene Präsidentschaftskandidat:innen aufstellen. Die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) wird ihren Präsidentschaftskandidaten auf einer Konferenz am kommenden Wochenende wählen.
Im Vorfeld dieser Konferenz hat die Führung der NPA jedoch versucht, die wichtigste linke Opposition, die Revolutionär-Kommunistische Strömung (CCR), auszuschließen. Hunderte von Mitgliedern der NPA haben gegen die Ausschlüsse Einspruch erhoben, fast ein Drittel der rund 1.000 aktiven Mitglieder der Partei. Am 10. Juni wurde der Ausschluss schließlich vollzogen, wobei 296 NPA-Aktivist:innen ihre Absicht erklärten, eine neue revolutionäre Organisation zu gründen.
Was ist die NPA?
Die Neue Antikapitalistische Partei wurde im Jahr 2009 gegründet. Ins Leben gerufen wurde sie von der Revolutionär-Kommunistischen Liga (LCR), die aus der 68er-Bewegung hervorgegangen war und einst zu den größten trotzkistischen Organisationen in Frankreich und der Welt gehörte. Sie war gleichzeitig die führende Sektion des von Ernest Mandel geführten Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale (VS-VI).
In den 2000er Jahren hatte die LCR einige bedeutende Wahlerfolge. Ihr Kandidat, der junge Postler Olivier Besancenot, erhielt bei den Präsidentschaftswahlen 2002 1,2 Millionen Stimmen, sowie 2007 fast 1,5 Millionen Stimmen.
In den 1990er Jahren hatte die LCR begonnen, sich von ihrem trotzkistischen Erbe zu distanzieren. Sie erklärte, dass die „Ära der Oktoberrevolution“ vorüber sei. Eine Strategie, die auf einen aufständischen Generalstreik und die Diktatur des Proletariats abzielte, wurde für nicht mehr relevant erklärt. Stattdessen schlug die LCR-Führung eine Strategie der Ausweitung der bürgerlichen Demokratie vor, bis der Kapitalismus überwunden sei.
Diese theoretische Wende überzeugte verbunden mit taktischen Erfolgen die Führung von der Notwendigkeit, eine neue Partei zu gründen. Die NPA sollte Antikapitalist:innen aller Schattierungen zusammenbringen, ohne eine gemeinsame Strategie. Die NPA, so das Kalkül, könnte den ganzen Raum im politischen Spektrum besetzen, der von der zusammenbrechenden Sozialdemokratie und dem Stalinismus preisgegeben worden war. Bensaid, der Cheftheoretiker der LCR, befürchtete jedoch, dass „die Vergrößerung der Oberfläche zu einem Verlust an Substanz führen könnte.“ Zu Beginn meldeten sich bis zu 9.000 Menschen als NPA-Mitglieder.
Die NPA war in der Lage, sich als landesweite Kraft zu etablieren, und beinhaltete viele dynamische Elemente, während eine neue Generation darüber debattierte, welches Programm und welche Strategie notwendig war. Aus diesem Grund schlossen sich Revolutionär:innen aus vielen Traditionen dem Prozess an.
Doch die NPA nahm niemals ein eindeutiges revolutionäres Programm an und konnte infolgedessen nicht kohärent in die Klassenkämpfe eingreifen, die Frankreich im folgenden Jahrzehnt erschütterten. Ohne eine klare Abgrenzung von reformistischen Kräften stand die NPA unter dem ständigen Druck von größeren Formationen mit größeren Wahlerfolgen. Dies wurde besonders akut, als der frühere sozialdemokratische Minister Jean-Luc Mélenchon eine neue Formation ins Leben rief, zuerst die Linksfront Front de Gauche und nun La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich). Als typischer Sozialchauvinist verband Mélenchon progressive soziale Forderungen mit einer rassistischen Politik gegen Migrant:innen und einer Verteidigung des französischen Imperialismus.
Die NPA erlitt eine Reihe von Spaltungen, in denen sich einige Mitglieder Mélenchons Formation anschlossen. Bis zu diesem Jahr jedoch war die NPA niemals ein Wahlbündnis mit dieser Partei der “institutionellen Linken” eingegangen. Über die Jahre hinweg stagnierte die NPA nicht nur, sondern büßte unmittelbar Mitglieder ein. Während die alte LCR bis zu 3.000 Mitglieder hatte und die NPA einst 9.000 zählte, ist sie nun auf rund 1.000 geschrumpft.
Wer ist der linke Flügel der NPA?
Die NPA erlaubte ihren Mitgliedern, wie auch zuvor die LCR, stets, Tendenzen und Gruppen zu bilden. Zahlreiche Gruppen beteiligten sich an dem Prozess, aus dem die NPA hervorging. Heute umfasst der linke Flügel der Partei folgende hauptsächlichen Gruppen:
- Antikapitalismus und Revolution (A&R), die als Jugendorganisation der alten LCR entstanden war. A&R ist international mit Gruppen auf dem linken Flügel des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale verbunden.
- L’Étincelle (Der Funke). Diese Gruppe wird auch als “Fraction de Lutte Ouvrière” (FLO) bezeichnet, weil sie ehedem eine Oppositionsfraktion in einer anderen großen radikal-linken Gruppe, Lutte Ouvrière (Arbeiter:innenkampf), waren. Sie wurde 2008 aus der LO ausgeschlossen und schlossen sich daraufhin der NPA an. In Deutschland sind sie mit der Revolutionär-Sozialistischen Organisation (RSO) verbunden.
- Revolutionäre Demokratie (DR) war bereits in der LCR eine oppositionelle Gruppierung. Ursprünglich war sie vor vielen Jahren als Opposition in der LO entstanden.
Die größte Gruppe auf dem linken Flügel der NPA war jedoch die CCR.
Wer ist die CCR?
Die Revolutionär-Kommunistische Strömung (CCR) war seit ihrer Gründung vor zwölf Jahren Teil der NPA. Die CCR und ihre Vorläufer:innen haben niemals ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie mit dem “neuen Antikapitalismus” der Partei grundsätzlich nicht einverstanden waren. Sie haben die mehrdeutigen Gründungsprinzipien der NPA stets kritisiert und riefen zu einer Neugründung der Partei auf einer revolutionären, proletarischen Grundlage auf.
Die CCR gibt die Online-Zeitung Révolution Permanente heraus, die zu einer führenden Stimme der radikalen Linken in Frankreich geworden ist. Jeden Monat verzeichnet sie mehrere Millionen Aufrufe. Unabhängige Beobachter:innen haben sie eine “militante Zeitung auf dem Vormarsch” genannt, gelobt wurde sie unter anderem in der New Left Review und dem International Socialism Journal.
Die CCR berichtete jedoch nicht nur über den Klassenkampf. Der Gruppe ist es gelungen, wichtige Streikbewegungen anzuführen, wie etwa den kürzlichen Streik in der Total-Raffinerie in Grandpuits. Als die Bosse versuchten, die Anlage als Teil eines angeblichen „ökologischen Übergangs“ zu schließen, waren revolutionäre Aktivist:innen in der Lage, einen Streik anzuführen, der Ölarbeiter:innen mit der Umweltbewegung für einen Übergang unter Kontrolle der Arbeiterklasse zusammenbrachte.
Auf ähnliche Weise haben CCR-Aktivist:innen während des Streiks gegen die Rentenreform 2019 Basiskomitees von Busfahrer:innen und Eisenbahner:innen aufgebaut. Damit zwangen sie die Gewerkschaftsbürokratie, den Streik weiterzuführen, als diese längst kapitulieren wollte.
Die CCR ist Teil der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale. Eine Reihe von Genoss:innen haben sich dem aktuellen Kampf angeschlossen, ohne der gleichen internationalen Strömung anzugehören. Klasse Gegen Klasse ist mit der gleichen internationalen Tendenz verbunden. Unsere Berichterstattung hier erhebt also nicht den Anspruch der Neutralität.
Warum gibt es gerade jetzt einen Konflikt in der NPA?
Die NPA steht unmittelbar vor ihrer Konferenz, auf der sie einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl bestimmen will. Ein NPA-Kongress war überfällig – er war mehrfach verschoben worden.
In zwei regionalen Wahlen, in Neu-Aquitanien und Okzitanien, bildete die NPA-Führung Bündnisse mit Mélenchons Partei. Die Konferenz müsste nun also entscheiden, ob sie der Unterstützung der reformistischen Linken im Rahmen nationaler Wahlen zustimmt. Wenn ja, müsste die NPA einen Kandidaten wählen, der für eine solche Orientierung steht. Das ist besonders angesichts des Drucks des “kleineren Übels” von Bedeutung, falls es in der zweiten Runde zu einem Duell zwischen Macron und Le Pen kommen sollte.
Diese Führung wird gelegentlich als “die Mehrheit” bezeichnet. Doch in Realität scheint es derzeit so zu sein, dass eine deutliche Mehrheit der NPA-Mitglieder einer politischen Front mit dem Reformismus ablehnend gegenübersteht.
Es scheint so, als habe sich die Führung dazu entschieden, die Organisation zu spalten, um zu verhindern, dass die linke Mehrheit auf einer demokratisch gewählten Konferenz ihren Willen durchsetzt.
Der Vorwand für die Spaltung ist die “Vorkandidatur” von Anasse Kazib, einem Eisenbahner marokkanischer Herkunft und Mitglied der CCR und vormals der NPA. Kazib ist eine bekannte Figur in der französischen Arbeiter:innenbewegung. Er ist mehrfach im Fernsehen aufgetreten, um mit bürgerlichen Politiker:innen zu debattieren. In Streikversammlungen sowie in der Führung von Arbeiter:innenblöcken auf Demonstrationen der Gelbwesten hat er eine wichtige Rolle gespielt.
Anfang April gaben Kazib und die CCR öffentlich bekannt, dass er der Präsidentschaftskandidat der NPA werden wollte. Dies wurde nie als ein Ultimatum vorgestellt – es war ein Vorschlag zur Diskussion und Debatte. Kazib und die CCR präsentierten seine Vorkandidatur auf einem Treffen der NPA-Leitung, nachdem sie diese mit verschiedenen Gruppen des linken Flügels der Partei diskutiert hatten, bevor sie sie öffentlich bekanntgaben.
Die derzeitige Führung behauptet, dass diese Ankündigung eine Art des Bruchs der inneren Demokratie gewesen sei. Das ist schlicht unwahr. Kazib kündigte seinen Willen als NPA-Kandidat anzutreten in den gewählten Gremien der Partei an. Die regionalen Bündnisse mit Mélenchons Partei waren hingegen niemals in den gewählten Gremien der NPA diskutiert worden. Dieses Projekt wurde von der ehemaligen Mehrheit allein durchgeführt.
Schließlich ignorierte die Führung die grundlegendsten demokratischen Normen, indem sie eine bedeutende Minderheit der Partei ohne jede politische Diskussion ausschloss – beschlossen von einer kleinen Mehrheit des Exekutivkomitees, ohne irgendeine Art von Kongress oder Konferenz.
Wie reagiert die Linke auf die Spaltung durch die Führung?
Um es offen zu sagen: Nicht gut. A&R, FLO und andere linke Gruppen haben wiederholt betont, dass sie gegen die Bündnisse mit Mélenchons Partei sind. Es scheint, dass eine klare Mehrheit der Mitglieder der NPA solche Fronten ablehnt.
Doch anstelle von Anasse Kazib wünschen sie sich einen “Einheitskandidaten” für die NPA, wie etwa Philippe Poutou, der für die NPA in den vergangenen beiden Wahlen als Kandidat angetreten war. Einen antikapitalistischen Fabrikarbeiter auf der nationalen politischen Bühne zu haben war sehr bedeutsam.
Im Moment ist Poutou aber persönlich in die regionalen Bündnisse mit Melénchons Partei eingebunden. Die Mehrheit der Mitglieder der NPA unterstützt also die Linke – sollten sie einen Kandidaten nominieren, der die Politik der rechten Minderheit umsetzt?
Der linke Flügel der NPA, einschließlich der CCR, hätte über genügend Kräfte verfügt, um auf dem anstehenden Kongress die Führung der Partei zu übernehmen. Genau das verhinderte die Führung mit ihren Manövern.
A&R und FLO haben sich einigen Schritten der Führung widersetzt, CCR-Mitglieder von den Vorkongressversammlungen auszuschließen. Aber sie haben sich geweigert, für klare Resolutionen gegen diese De-facto-Ausschlüsse zu stimmen.
Im Laufe der Jahre haben diese Gruppen immer wieder gesagt, dass auch sie eine revolutionäre Neuausrichtung der NPA befürworten. Als sich nun jedoch die konkrete Gelegenheit bot, den rechten Flügel der Partei zu konfrontieren, erlaubten sie der ehemaligen Mehrheit, die wichtigste linke Opposition hinauszuwerfen.
Ein Offener Brief von Rob Lyons, der seit mehr als 50 Jahren Mitglied des Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale ist, ruft die linken Gruppen in der NPA auf, der Führung die Stirn zu bieten, sich den Ausschlüssen zu widersetzen und für ihre Prinzipien zu kämpfen.
Warum ist das alles wichtig?
Die NPA mag weit weg erscheinen. Die deutsche Linke folgt den Ereignissen in Frankreichs extremer Linken nicht sehr intensiv. Nichtsdestotrotz haben zwei der Gruppen der NPA Schwesterorganisationen in Deutschland: Die Internationale Sozialistische Organisation (ISO) ist die Sektion des Vereinigten Sekretariats, also mit der alten Mehrheit der NPA verbunden. Die RSO ist die Schwesterorganisation von L’Étincelle. Während die RSO sich inzwischen nach mehrfacher Aufforderung zu der Situation geäußert hat, schweigt die ISO noch immer darüber.
Die NPA ist wichtig, und zwar nicht nur wegen ihrer langen Tradition als trotzkistische Organisation in einem imperialistischen Land. Die NPA war ein Testfall für die Strategie der Bildung „breiter linker“ Parteien. Die Anführer:innen der LCR formulierten die Hypothese, dass Revolutionär:innen Masseneinfluss gewinnen könnten, indem sie ihr Programm verwässerten und den revolutionären Marxismus durch einen bewusst vagen Antikapitalismus ersetzten.
Die Kapitulation der NPA vor dem Reformismus bei den Regionalwahlen und der Rechtsruck in der nationalen Politik zeigen die Grenzen einer solchen Strategie. Das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale ist in den zwölf Jahren seit der Gründung der NPA bereits weit in diese Richtung gegangen. Sie unterstützten Syriza, kurz bevor dieses Projekt die griechische Regierung übernahm, und Podemos, bis diese Partei zur Juniorpartnerin in der Regierung des spanischen Imperialismus wurde.
Während jedoch die Strategien der „breiten Linken“ scheitern, sehen wir auch die Umrisse einer neuen internationalen Tendenz, die das Beste dessen repräsentiert, wofür die LCR und andere trotzkistische Traditionen einst standen. Dies ist nicht auf die CCR beschränkt, die eine neue Generation kommunistischer, proletarischer Aktivist:innen vereint. Viele NPA-Mitglieder, von denen einige schon seit Jahrzehnten Teil der trotzkistischen Bewegung sind, reagieren auf den Rechtsruck der NPA mit einer Kampagne für eine neue revolutionäre Arbeiter:innenpartei.
Auch in Deutschland haben wir als Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO) den Anlauf unternommen, auf der Grundlage der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse revolutionäre Sozialist:innen neu zu gruppieren. Das Gleiche geschieht beispielsweise in Mexiko und Chile – am auffälligsten aber in Argentinien, wo sich ein trotzkistischer Pol als landesweite Kraft etablieren und über eine Million Stimmen erringen konnte.
Als internationale Strömung haben wir ein Manifest vorgelegt, das versucht, dieser entstehenden Tendenz revolutionärer Arbeiter:innen und Jugendlicher eine Stimme zu geben. Wir sind der Überzeugung, dass sich Revolutionär:innen weltweit auf Grundlage der politischen Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse vereinigen müssen. Sozialist:innen aus verschiedenen Traditionen sollten sich um Übereinstimmungen zu den wichtigsten Ereignissen des globalen Klassenkampfes bemühen. Die Krise in der NPA bietet eine Grundlage für diese Art der politischen Klärung.
Wo kann ich mehr erfahren?
Freddy Lizarrague aus Buenos Aires hat einen ausführlichen Artikel über die tödliche Krise der NPA geschrieben. Er sollte leichter nach der Lektüre dieser Einführung leichter zu verstehen sein.
Über die strategische Bedeutung des Ausschlusses der CCR aus der NPA und über die Debatte in der deutschen Linken hat Stefan Schneider einen ausführlichen Artikel geschrieben.
Zu der Zeit, als die NPA gegründet wurde, schrieb Claudia Cinatti einen Artikel, in dem sie die theoretischen Grundlagen der Partei diskutierte: „Welche Partei für welche Strategie?“
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