War Rosa Luxemburg eine Gegnerin der Russischen Revolution?
"Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden." Jede*r kennt diesen Satz von Rosa Luxemburg über die Oktoberrevolution in Russland. Fast niemand kennt die Broschüre, aus der der Satz stammt. Dabei war die rote Rosa alles andere als eine Gegnerin der Oktoberrevolution. Die Geschichte eines gewollten Missverständnisses.
Im Herbst 1918 saß Rosa Luxemburg im Gefängnis in Breslau. Ihre „Sicherungsverwahrung“, die die kaiserlichen Behörden angeordnet hatten, dauerte bereits mehr als drei Jahre. Doch trotz ihrer Isolation entwickelte die Kommunistin von ihrer Zelle aus eine rege politische Tätigkeit. In den Spartakusbriefen analysierte sie die deutsche und internationale Politik, nebenbei leitete sie die Gruppe, aus der wenig später die Kommunistische Partei Deutschlands hervorgehen sollte.
Seit dem Sturz des Zaren im März 1917 verfolgte Luxemburg mit äußerster Spannung die sich entwickelnde russische Revolution. Den Aufstand, der Anfang November eine Regierung der Sowjets (Räte) an die Macht brachte, begrüßte Luxemburg mit Begeisterung:
Die deutschen Arbeiter sind jetzt berufen, die Botschaft der Revolution und des Friedens vom Osten nach Westen zu tragen. Hier hilft kein Mundspitzen, hier muß gepfiffen werden! (Spartakusbriefe vom Januar 1918. Zit. nach: Fröhlich. S. 305)
Nie dagewesene Herausforderungen
Die Revolution stand vor nie dagewesenen Herausforderungen. Aus ihrer Position als Parteigängerin verfolgte Luxemburg jede Entscheidung der Sowjets mit ihrer scharfsinnigen Kritik – genauso wie auf allen Ebenen der Sowjets und in allen Strukturen der Bolschewistischen Partei ununterbrochen kontrovers diskutiert wurde. Als die Sowjetregierung zum Beispiel gezwungen wurde, im Friedensvertrag von Brest-Litowsk einen Diktatfrieden mit dem Deutschen Reich zu akzeptieren, verteidigte Luxemburg diese Entscheidung als alternativlos:
Nur die standhafte Kadaverhaltung des deutschen Proletariats hat die russischen Revolutionäre dazu genötigt, mit dem deutschen Imperialismus als der einzigen Macht in Deutschland einen Frieden zu schließen. (Ebd.)
Die bolschewistische Partei war über diese Frage tief gespalten – nur eine äußert knappe Mehrheit sprach sich für die Annahme der deutschen Bedingungen aus. Hier schloss sich Luxemburg der Mehrheit der Parteiführung um Lenin an. Für sie war klar, dass die deutschen Sozialdemokrat*innen, die seit 1914 den imperialistischen Krieg unterstützten, die letztendliche Verantwortung für jeden Rückschlag der russischen Revolution trugen.
Im Herbst setzte sich Luxemburg hin, um ihre Kritik an der Russischen Revolution in Form einer längeren Schrift zusammenzufassen. Wegen des Ausbruchs der deutschen Revolution – am 9. November erreichte die Aufstandsbewegung Berlin, und wenige Tage später wurde Luxemburg aus dem Gefängnis befreit – konnte sie dieses Pamphlet nie fertigstellen.
Das unvollendete Manuskript „Zur Russischen Revolution“ landete bei Luxemburgs Anwalt, Paul Levi. Erst als dieser 1921 mit der KPD brach, veröffentlichte er die Schrift. Warum hat Luxemburg den Text nicht selbst veröffentlicht? Ging das in den Wirren der Revolution einfach unter? (Nach nur zwei Monaten wurde Luxemburg von den Schergen der Konterrevolution ermordet.) Ihre jahrelange Kampfgefährtin Clara Zetkin erzählte später, dass sich Luxemburg bewusst gegen eine Veröffentlichung entschieden hatte, weil sie ihre Meinung in wesentlichen Punkten geändert hatte.
An dieser Stelle ist kein Platz, um den kompletten Inhalt der Broschüre wiederzugeben. Luxemburg setzt sich mit verschiedenen Entscheidungen der Revolution kritisch auseinander: Etwa die Verteilung des Landes an die Bauern*Bäuerinnen oder die Auflösung der konstituierenden Versammlung. Doch ihre Kritik äußert sie klar auf dem Boden der Revolution selbst. Die Kritikpunkte, die sie vertritt, wurden genauso innerhalb der Sowjetregierung oder des Zentralkomitees der Bolschewiki vorgetragen. Sie war nichts anderes als eine kritische Bolschewistin.
Aus der Revolution lernen
Selbst mit dieser Kritik ging Luxemburg eher zurückhaltend um – aufgrund der antibolschewistischen Hetze der Sozialdemokrat*innen und allen Gegner*innen der sozialistischen Revolution in Deutschland. Und natürlich lernte sie aus der Revolution: Während sie in ihrer Kritik an der Russischen Revolution die Ansicht vertrat, dass es neben den Räten noch eine parlamentarische Versammlung geben sollte, bekämpfte sie diese Ansicht vehement, als sie von den Sozialdemokrat*innen wie Karl Kautsy für Deutschland vorgeschlagen wurde. In der Tat zeigte die Erfahrung: Eine solche Doppelmacht zwischen Arbeiter*innenräten und bürgerlichem Parlament konnte sich nicht lange halten – wer für beides eintrat, unterstütze letztendlich den Parlamentarismus und die Konterrevolution.
Selbst in dieser kritischen Broschüre – aus der immer nur der eine Satz zitiert wird – überwiegt klar Luxemburgs feurige Verteidigung der Revolution. Es ist nicht ohne Ironie, dass der Name dieser unsterblichen Kommunistin heute von einem großen reformistischen Apparat missbraucht wird. Die heutigen Regierungssozialisten tun gern so, als wäre Luxemburg „gegen die Diktatur“ und „für die Demokratie“ gewesen. Doch sie war, genauso wie Marx, Engels, Lenin und Trotzki, für die revolutionäre Diktatur der Arbeiter*innenräte zur Enteignung der Bourgeoisie.
In der „Roten Fahne“ schreibt sie denn von „Nationalversammlung oder Räteregierung?“ als Alternative. Ihre Haltung zur kapitalistischen „Demokratie“ der Sozialdemokrat*innen zeigt eine unübertreffliche Klarheit auf:
Was bisher als Gleichberechtigung und Demokratie galt: Parlament, Nationalversammlung, gleicher Stimmzettel, war Lug und Trug! Die ganze Macht in der Hand der arbeitenden Masse als revolutionäre Waffe zur Zerschmetterung des Kapitalismus – das allein ist wahre Gleichberechtigung, das allein wahre Demokratie!
Gegen deutsche Regierungssozialisten
Luxemburgs Kritik an der russischen Revolution richtet sich nicht in erster Linie gegen Lenin und Trotzki, sondern gegen die deutschen Sozialdemokrat*innen: Ebert, Scheidemann, Noske, Kautsky, Haase usw.. Mit brennenden Worten entlarvt sie deren Heuchelei:
Mögen die deutschen Regierungssozialisten schreien, die Herrschaft der Bolschewiki in Rußland sei ein Zerrbild der Diktatur des Proletariats. Wenn sie es war oder ist, so nur, weil sie eben ein Produkt der Haltung des deutschen Proletariats war, die ein Zerrbild auf sozialistischen Klassenkampf war. Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte, und die sozialistische Gesellschaftsordnung läßt sich eben nur international durchführen. Die Bolschewiki haben gezeigt, daß sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. (Zur Russischen Revolution, Kapitel IV.)
Genauso wie Lenin und Trotzki war es für Luxemburg klar, dass die sozialistische Revolution nur auf der internationalen Bühne siegen könnte. Deswegen lagen für sie die Probleme der Russischen Revolution in der Mitverantwortung der Sozialdemokrat*innen, die mit aller Kraft die Revolution in Deutschland zurückhielten. So schrieb Rosa Luxemburg an ihre langjährige Freundin Luise Kautsky (mit Kautsys Ehemann Karl hatte Luxemburg Jahre früher gebrochen):
Freust du Dich über die Russen? Natürlich werden sie sich in diesem Hexensabbat nicht halten können – nicht, weil die Statistik eine zu rückständige ökonomische Entwicklung in Rußland aufweist, wie Dein gescheiter Gatte ausgerechnet hat, sondern weil die Sozialdemokratie in dem hochentwickelten Westen aus hundsjämmerlichen Feiglingen besteht, die, ruhig zusehend, die Russen sich verbluten lassen. Aber ein solcher Untergang ist besser als ‚leben bleiben für das Vaterland!‘, es ist eine weltgeschichtliche Tat, deren Spur in Äonen nicht untergehen wird. (Brief an Luise Kautsky vom 24. November 1918. Zit. nach: Frölich. S. 303.)
„Sie haben es gewagt!“
Luxemburgs Schrift endet damit, dass sie ihre Kritik in die Geschichte des proletarischen Befreiungskampfes einordnet. Nicht „diese oder jene Detailfrage“ sei entscheidend, sondern die Revolution selbst, für die sie mit ihrer ganzen außergewöhnlichen Kraft kämpfte:
In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt! (Zur Russischen Revolution, Kapitel IV.)
Wie traurig, dass von der großartigen Revolutionärin nur ein Satz bekannt ist, mit dem sie fast wie eine Gegnerin der Revolution wirkt. Vor dieser Gefahr hatte Luxemburgs Mitstreiter W.I. Lenin seinerzeit gewarnt:
Die großen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütenstem Haß begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur „Tröstung“ und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert. (Staat und Revolution, Kapitel I.)
Deswegen geht es mit der morgigen Gedenkdemonstration für Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und W.I. Lenin darum, an das wahre politische Erbe für Luxemburg zu erinnern.
Zur weiteren Lektüre empfehlen wir: Paul Frölich: Rosa Luxemburg. Gedanke und Tat. Berlin 1990. Besonders das Kapitel „Kritik der Bolschewiki“.