War der Attentäter von Halle ein „Incel“?

31.10.2019, Lesezeit 6 Min.
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Seit dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle rätselt das Land über die Hintergründe der Tat. Woher kam diese Wut auf Frauen, auf Juden und Migrant*innen? Ein Psychogramm des Täters wird uns nicht weiterhelfen, wir brauchen eine Analyse der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse.

Beitragsbild von Fibonacci Blue from Minnesota, USA – Donald Trump alt-right supporter, CC BY 2.0

Als am 9. Oktober ein Attentäter erst versuchte, in die Synagoge einzudringen und dann eine Frau, sowie einen jungen Mann in einem Dönerimbiss erschoss, war das ganze Land geschockt. Im Anschluss fuhr der Mann seelenruhig durch die Innenstadt und lieferte sich einzelne Schusswechsel mit der Polizei.

Als nach und nach die Hintergründe der Tat bekannt wurden, wurde klar, dass hinter der Tat ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild als Motiv steckte. Der junge Mann glaubte, dass die Welt von einer jüdischen Verschwörung gelenkt wird. Den Feminismus verstand er als ein Werkzeug, um die weiße Rasse zu vernichten, in Kombination mit einer „unkontrollierten Massenmigration“. Daher auch sein Hass auf Frauen. Das ausgerechnet eine Passantin dem Attentat zum Opfer fiel ist damit kein Zufall.

Nun wird viel darüber spekuliert, wie der Attentäter ein solches Weltbild überhaupt entwickeln konnte. Auch die alte Mär von Videospielen wird wieder heraus gekramt. Bundesinnenminister Horst Seehofer möchte die „Gamerszene“ nun strenger überwachen. Manch einer nimmt gar die Mutter des Attentäters in die Verantwortung, ganz so als hätte der Täter losgelöst von den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen agiert.

Sich selbst bezeichnete der Attentäter als „Incel“, einer in bestimmten Internetcommunitys benutzte Selbstbezeichnung von Männern, die in einem „unfreiwilligen Zölibat“ leben und dafür Frauen verantwortlich machen. Doch auch solche Erklärungsversuche begnügen sich damit ein Psychogramm des Täters zu erstellen. Der Faschismus wird so zu einer individuellen Eigenschaft verklärt.

Der russische marxistische Theoretiker Leo Trotzki charakterisierte den Faschismus als eine „kleinbürgerliche Massenbewegung im Interesse des Großkapitals, mit lumpenproletarischem Anhang“. Der Attentäter von Halle gehört zu Letzterem. Soweit bekannt ist hatte er sich bei Bundeswehr beworben. Vermutlich um an Waffen zu kommen, hat seine Bewerbung dann aber wieder zurückgezogen.

Als deklassierte Einzelperson hatte er sich zunehmend im Netz radikalisiert. Dort ist das gezielte Verbreiten von Fake News über soziale Medien zu einem verbreiteten Phänomen geworden. Im Internet organisieren sich rechte „Trollarmeen“ um bewusst Falschmeldungen mit rassistischem Inhalt zu posten. Es gehört zur Strategie der Neuen Rechten, inspiriert durch Antonio Gramcsi, bewusst ein Gegennarrativ zur vorherrschenden Meinung aufzubauen und im Jahr 2015 mit der Regime-Krise von Angela Merkel ist ihn dieser Kunstgriff mit der massiven Lancierung von bewussten Falschmeldungen geglückt. Doch so neu, wie häufig behauptet wird, ist das gar nicht.

Schon das antisemitische Pamphlet „Protokolle der Weisen von Zion“ wurde bewusst von den Verfassern herausgebracht, um Stimmung gegen Juden zu schüren. Auch waren antisemitische Zeichnungen sehr verbreitet. Sie dienten vor allem dazu Juden zu Sündenböcken für die wirtschaftlichen Missstände im russischen Zarenreich zu machen. Lediglich das Verbreitungsmedium war ein anderes.

Neben Verschwörungstheorien finden sich im Internet auch viele Verweise auf die japanische Kultur. Die Selbstbezeichnung des Attentäters als „Niete“ könnte als Anspielung auf die Yakuza verstanden werden, die Bezeichnung für japanische Verbrecherbanden. Das Wort Yakuza steht für eine Niete in einem japanischen Kartenspiel. Das Blatt ist wertlos. Sie blicken mit Verachtung auf das Proletariat und schrecken auch nicht davor zurück Arbeiter*innen zu erpressen und sich von den Bossen anheuern zu lassen, um Streikende anzugreifen. Zudem sind sie in Zuhälterei und Prostitution verwickelt. Im marxistischen Diskurs würde man Lump oder Deklassiert sagen, jemanden der außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft steht.

Warum kann der bürgerliche Diskurs die Tat nicht erklären?

Der Kapitalismus wirft täglich aufs neue Heerscharen in das Elend hinab, ist selbst für die Deklassierung verantwortlich. Zusammen mit der imperialistischen Armee und dem ruinierten Kleinbürger*innentum erzeugt er täglich aufs Neue die materielle Basis für den Faschismus und ist zugleich darauf angewiesen die Zwischenschichten im Zweifel als Stoßtrupp gegen das Proletariat einzusetzen.

Daher kann er auch die materiellen Ursachen nicht erklären. Deshalb ist der bürgerliche Diskurs darauf angewiesen, faschistische Attentäter als geistig verwirrte Einzeltäter darzustellen. Der Kapitalismus als Ursache bleibt unerkannt.

Doch nicht erst heute scheitert die bürgerliche Intelligenz daran die Verbreitung antisemitischer Verschwörungstheorien als Gegenthese zur Aufklärung der westlichen Hemisphäre zu ergründen und ist auf Behelfslösungen angewiesen. Bis heute kann das Schrecken der Shoa nicht erklärt werden. Selbst Hitler – ungeachtet seiner Ernennung durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg – wird von der bürgerlichen Geschichtsschreibung zu einem Irren verklärt. Aber wie konnte so ein Irrer 1933 mit Unterstützung des Großkapitals die politische Macht in Deutschland an sich reißen? Die bürgerlichen Professoren verstummen.

Daher reicht es nicht, sich mit Gegenaufklärung zu begnügen. Stattdessen müssen wir ein Gegennarrativ aufbauen, das auf den realen Erfahrungen der Massen in den Betrieben, den Schulen, Universitäten und auf den Straßen fußt. Nur so können wir den massiven Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit begreifbar machen und die wahren Verantwortlichen für die wirtschaftliche Misere zur Rechenschafft ziehen.

Was wir brauchen sind Volkstribune, die in der Lage sind, wie Lenin sagt:

„auf alle Erscheinungen der Willkür und Unterdrückung zu reagieren, wo sie auch auftreten mögen, welche Schicht oder Klasse sie auch betreffen mögen, der es versteht, an allen diesen Erscheinungen das Gesamtbild der Polizeiwillkür und der kapitalistischen Ausbeutung zu zeigen, der es versteht, jede Kleinigkeit zu benutzen, um vor aller Welt seine sozialistischen Überzeugungen und seine demokratischen Forderungen darzulegen, um allen und jedermann die welthistorische Bedeutung des Befreiungskampfes des Proletariats klarzumachen.“

 

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