Wahlwiederholung in Berlin: Wie die Linkspartei konsequent ihre Wahlversprechen bricht

29.11.2022, Lesezeit 15 Min.
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Unterschriftenübergabe der Linkspartei an die Initiative "Deutsche Wohnen & Co enteignen". Foto: Martin Heinlein / Flickr.com

Kürzlich wurde bekannt, dass die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus Anfang 2023 wiederholt werden. Warum wir nicht die Linkspartei wählen werden und nicht glauben, dass sie die Veränderungen bringen wird, die wir wirklich brauchen.

„Große Immobilieninvestor:innen und Wohnungskonzerne bauen in der Regel wenig oder am Bedarf vorbei, erhöhen die Miete, verdrängen Mieter:innen und spekulieren mit Wohnraum. Sie gehören vergesellschaftet.“ – Wahlprogramm Die Linke Berlinwahl 2021 – oder: weshalb die Linkspartei unglaubwürdig ist.

Die Autor:innen dieses Artikels sind Teil der Fraktion „Für einen revolutionären Bruch mit Linkspartei und Solid“, bestehend aus (zum Teil ehemaligen) Mitgliedern der Linkspartei und ihres Jugendverbands, der Linksjugend Solid. Wir haben erkannt, dass DIE LINKE und auch Solid nicht die Kräfte sind, die wir brauchen, um auf wirkliche Veränderungen hinzuarbeiten. Was wir stattdessen brauchen und wie der Weg dorthin aussehen kann, möchten wir bei unserer Konferenz  am 14. und 15. Januar 2023 in Berlin unter dem Motto „15 Jahre Solid und Linkspartei – Welche Organisation für den Klassenkampf?“ mit euch diskutieren.

Am Mittwoch, 16. November entschied das Berliner Verfassungsgericht, dass die Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin wiederholt werden müssen. Der Tag, an dem das voraussichtlich stattfinden wird, ist der 12. Februar 2023. Schon am Tag der letzten Wahlen in Berlin war bekannt geworden, dass diese nicht wie geplant abgelaufen waren. Stimmzettel fehlten oder waren falschen Wahllokalen zugeordnet, es gab lange Schlangen, ebenso wie Berichte, dass Frauen, die einen Hijab trugen, an mehreren Orten der Zutritt zum Wahllokal aus rassistischen Gründen verwehrt worden sei.

Dieses Urteil des Gerichts bedeutet auch, dass die Parteien sich in den nächsten Wochen vor allem darauf konzentrieren werden, schnellstmöglich neue Wahlkampagnen aus dem Boden zu stampfen.

Obwohl nun hoffentlich alle stimmberechtigten Menschen, die wählen gehen wollen, dies können, ist das für uns kein Grund zur überschwänglichen Freude. Stimmberechtigt sind ohnehin nur ein Teil der in Deutschland lebenden Erwachsenen: die, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Und auch der Blick in die derzeitige Politik der Berliner Landesregierung stimmt uns nicht optimistisch. Der Berliner Senat wird aktuell von einer rot-rot-grünen Regierung, bestehend aus Grünen, Linkspartei und SPD angeführt. Es ist die zweite aufeinanderfolgende Regierungsperiode mit einer rot-rot-grünen Koalition in Berlin.

Aus der konservativen und wirtschaftsliberalen Ecke werden rot-rot-grüne Regierungskoalitionen oftmals als Untergang der deutschen Wirtschaft und als Zwischenschritt zum Sozialismus beschrieben. Wenn dies tatsächlich der Realität entspräche, würde uns das freuen. Berlin ist jedoch unter anderem das Bundesland mit den drittmeisten Abschiebungen, obwohl es als Stadtstaat nicht einmal zu den Bundesländern mit den meisten Einwohner:innen gehört. Im Nachbarland Brandenburg wird aktuell ein Abschiebegefängnis am Flughafen BER gebaut, von dem aus auch viele Berliner:innen abgeschoben werden sollen.

Proteste gegen den Koalitionsvertrag

Bereits bei der Vorlage des letzten Koalitionsvertrags gab es aus der Basis der Linkspartei viele Stimmen, die dagegen waren, dass ihre Partei erneut in die Regierung eintreten würde.

So forderten Teile der Neuköllner und Weddinger Linkspartei in einem Aufruf unter dem Hashtag #NeinzumKoalitionsvertrag, „für eine linke Opposition in Berlin“ einzutreten. Auch der Jugendverband Solid Berlin schloss sich dieser Forderung an. Kritik am Koalitionsvertrag entzündete sich vor allem am Umgang mit dem Volksentscheid zu Deutsche Wohnen & Co enteignen. Hier prangerte der Sprecher des Neuköllner Bezirksverbandes, Ruben Lehnert, an, dass dieser durch die Expert:innenkomission „versenkt“ werde. Wie schwach der Koalitionsvertrag ist, musste selbst die Berliner Linkspartei-Spitze anerkennen. So sagte Katalin Gennburg: „Es gibt in dem Koalitionsvertrag einen klaren Kurswechsel weg von einer kommunalen Wohnraumversorgung hin zu einer Entfesselung der privaten Bauwirtschaft.“ Stattdessen forderte sie jedoch nicht die Ablehnung der Regierungsbeteiligung, sondern „rebellisches Regieren„.

Um Wohnraum zu schaffen, nahm sich die Koalition vor, 20.000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen, wovon die Hälfte im gemeinwohlorientierten und bezahlbaren Segment sein sollte. Mit dem hohen Leerstand weckt es jedoch den Eindruck, dass dieses Vorhaben den Neubau von teuren Eigentumswohnungen verschleiert. Um ärmeren Teilen der Gesellschaft zu helfen, soll der Wohnberechtigungsschein (WBS) für alle in Berlin lebenden, leistungsberechtigten Wohnungslosen mit geringem Einkommen ermöglicht werden – unabhängig von der Dauer des Aufenthaltsstatus. Dies ist zu begrüßen, aber mit den mangelhaften Sozialleistungen und fehlendem Wohhnangebot immer noch nicht existenzsichernd. In Unterkünften nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz, Frauenhäusern und Einrichtungen der Kältehilfe untergebrachte Menschen sollen einen WBS mit höchster Dringlichkeitsstufe erhalten.

Um den Volksentscheid zu Deutsche Wohnen und Co enteignen umzusetzen, wurde eine Expert:innenkommission „zur Prüfung der Möglichkeiten, Wege und Voraussetzungen der Umsetzung des Volksbegehrens“ eingesetzt.  Dies bedeutet eine eindeutige Verschleppung des Volksentscheids auf undefinierte Zeit. Durch die Initiative DWE gab es bereits mehrere rechtliche und wirtschaftliche Prüfungen. Die Expert:innenkomission kann weder eine verbindliche Entscheidung treffen und ist dazu noch vom Senat mit Personalien besetzt worden, welche als Enteignungsgegner:innen gelten.

Auch in anderen Teilen des Koalitionsvertrages gibt es linke Defizite. So schreitet die Privatisierung der S-Bahn weiter voran. Zumindest die Krankenhäuser Charité und Vivantes will die Koalition in Landesbesitz behalten. Das „Zukunftsprogramm Krankenhäuser“ soll eine Anhebung des Gesamtfördermittelvolumens für alle im Krankenhausplan aufgenommene Krankenhäuser bedeuten – wie konkret die Situation für Beschäftigte verbessert, Personalmangel, Überstunden verhindert werden sollen, bleibt aus.

Mit Klaus Lederer als Kultursenator kann sich die Linkspartei die Fortsetzung des eintrittsfreien Sonntags einmal im Monat in Museen auf die Fahnen schreiben. Ein flächendeckendes kostenloses Angebot an Kultur und Aktivitäten ermöglicht dies jedoch nicht.

Doch auch für Aufrüstung ist sich die Koalition nicht zu schade. Polizei und Justiz sollen mehr Personal bekommen, sogenannte Kontaktbereichsbeamte sollen auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt. Erschreckend ist das Vorhaben an den „Kriminalitätsbelasteten Orten“, welche in Zukunft videoüberwacht werden, um dann weitere rassistische Kontrollen und Schikanen zu rechtfertigen, anstatt den bedürftigen angemessene Sozialhilfe zu geben. Und mit der Verdreifachnung der Zahl der Fahrradstreifen der Polizei kann man die Ausdehnung des Sicherheitsapparats auch gleichzeitig als ökologische Maßnahme vermarkten.

Durchsetzen konnte die Linkspartei dann doch nur ein kostenloses Grundschulmittagessen, was Kindern und Familien in Armut natürlich eine Stütze ist, jedoch bei der Höhe und Bedingungen von Hartz IV bzw. Bürgergeld keine Familien vor der Armut bewahren kann. Auch den einmal monatlichen freien Eintritt in staatliche Museen kann man als eine nette kleine Idee sehen, die es Menschen ermöglicht, verschiedene kulturelle Angebote wahrzunehmen. Jedoch sind dies alles im allem Errungenschaften, die die Lebensrealität von ärmeren Bevölkerungsgruppen höchstens leicht verbessern.  Diese kleinen Reformen und Verbesserungen gehen die strukturellen Probleme der Stadt nicht an und sind maximal ein Feigenblatt vor anderen Verfehlungen der Koalition.

Rebellisch in die Opposition?

Ein von der Gruppe Marx21 veröffentlichter Text zur Wahlwiederholung zieht aus der kurzen Amtszeit der R2G Regierung die Bilanz, dass DIE LINKE sich unglaubwürdig machen würde. „Wenn die Partei ihre Glaubwürdigkeit wiedererlangen möchte, muss sie deutlich ausstrahlen: Politikwechsel statt Weiter so!“, heißt es dort.
An der Stelle kommt die Frage auf, wann die Linkspartei jemals glaubwürdig gewesen wäre und Politik für die Arbeiter:innenklasse gemacht hätte. Seit ihrer Gründung im Jahr 2007 war die Linkspartei konstant an Landesregierungen beteiligt. Die Struktur der Linkspartei ist darauf ausgelegt, bei Wahlen erfolgreich zu sein. Das bedeutet auch, sich im Wahlkampf an die Seite von Bewegungen wie „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ (DWE) zu stellen und sie am Ende fallenzulassen, wenn die Wahl gewonnen ist. Die Linkspartei ist die Koalition mit SPD und Grünen eingegangen, obwohl von vornherein klar war, dass die Umsetzung des Volksentscheids auf wackeligen Beinen stehen würde. Die neugewählte Bürgermeisterin Franziska Giffey kündigte bereits kurz nach der Wahl in aller Deutlichkeit an, den Volksentscheid nicht umsetzen zu wollen: „Ich möchte nicht in einer Stadt leben, die das Signal sendet, hier wird enteignet“.

Seitdem die Neuwahl angekündigt wurde, hängt die Initiative DWE Plakate auf, auf denen führende Politiker:innen abgebildet sind, deren Gesichter durchgestrichen sind. Sie erwecken den Anschein, als hätten Bürgermeisterin Giffey, Senator für Stadtentwicklung Andreas Geisel (SPD), und Kai Wegner von der CDU die Verschleppung des Volksentscheides alleine zu verantworten. Abgesehen davon, dass die Umsetzung von DWE nicht an diesen drei Einzelpersonen scheitert, haben auch Grüne, die sich uneinig über die Bewertung des Volksentscheids sind, und die Linkspartei, die sich vor allem durch Passivität auszeichnet, einiges vorzuwerfen.

Dass die Linkspartei nicht die Menschen für breite Proteste und einen Widerstand gegen die Expert:innenkommission und für bezahlbaren und fairen Wohnraum organisiert hat, sondern lieber abwartet und hofft, dass sich das Blatt doch noch wendet, zeigt, dass auf sie kein Verlass ist. Was soll es heißen, wie Marx21 fordert, dass die Linkspartei „richtig in die Opposition“ statt „falsch in die Regierung“ geht? Das Profil der Linkspartei würde sich, nur weil sie in die Opposition geht, nicht vollständig ändern. Die Partei wäre in der Lage gewesen, die Koalition zu verlassen, wenn die Führung es denn gewollt hätte. In der Opposition würde die Linkspartei nun nicht mehr mit abschieben und auch nicht den Volksentscheid weiter verschleppen. Vielleicht würden sie dann gegen Abschiebungen und für bezahlbaren Wohnraum mobil machen. Doch wen würden sie überzeugen, und sind sie überhaupt selber davon überzeugt, antirassistische Politik und gute Wohnungspolitik machen zu wollen, wenn sie damit warten, bis sie nicht mehr in der Landesregierung sind?

Marx21 sagt, dass DIE LINKE ihre Glaubwürdigkeit durch die Arbeit in der Opposition zurückerlangen müsse. Doch wann war die Linkspartei glaubwürdig und hat Politik für die Arbeiter:innen gemacht? Während der Zeit der rot-roten Berliner Regierung, als in den 90er und 00er Jahren hunderttausende landeseigene Wohnungen an Immobilienkonzerne verkauft wurden und öffentliche Krankenhäuser privatisiert wurden, kann es schon mal nicht gewesen sein. Doch wenn DIE LINKE sowohl in der Regierung als auch in der Opposition keine Antworten für Arbeiter:innen in Krisen hat, brauchen wir andere Antworten auf die Krisen unserer Zeit. Die Zahl der Nichtwähler:innen steigt immer mehr, viele von ihnen haben in der Vergangenheit die Linkspartei gewählt und sind nun enttäuscht, da auch sie keine wirklichen Verbesserungen schafft.

Welche Antworten brauchen wir auf die Krisen unserer Zeit?

Mit der Krise der reformistischen Parteien, welche keine Antworten auf die immense Inflation von über 10 Prozent haben, einer Aufrüstung der Bundeswehr, Einsparungen im Bildungs und Gesundheitssektor, braucht es ein Notfallprogramm mit Forderungen, das Antworten auf die Bedürfnisse von Arbeiter:innen und anderen unterdrückten Menschen hat. Ein Preisstopp für Gas, Strom, Tanken, Nahrung und Miete, an die Inflation angepasste Löhne, Renten, Sozialleistungen und Bafög sowie eine entschädigungslose Enteignung der Energiekonzerne als erster Schritt hin zur Verstaatlichung der gesamten Industrie unter Arbeiter:innenkontrolle sind zentrale Teile eines solchen Programms und können den Arbeiter:innen und der Jugend eine Alternative zum Reformismus aufzeigen.

Aktuell erleben wir starke Zuspitzungen der kapitalistischen Krisen. Die Corona-Pandemie wird nicht aktiv beendet, sondern einfach geflissentlich ignoriert. Wir haben seit den Kriegen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawie nin den 1990er Jahren durch den Ukraine-Krieg den ersten Krieg auf europäischem Boden, durch den eine Energiekrise mit galoppierenden Gaspreisen entstanden ist. Wir haben die höchste Inflationsrate seit 1951, doch die Gehälter steigen nicht, oder nur viel zu wenig, um ein Ausgleich zu sein. Das Volksbegehren DWE, für das wir Unterschriften sammelten und in das wir Hoffnung setzten, wird von der Regierung verschleppt. Berlin wird immer weiter gentrifiziert, Menschen und Familien mit einem durchschnittlichen Einkommen werden immer stärker an den Stadtrand verdrängt.

Wir wissen, dass keine der Parteien, die derzeit in den Parlamenten sitzen, die Interessen von uns Arbeiter:innen, Studierenden und Jugendlichen im Blick haben und umsetzen werden. Was also ist unsere Wahlempfehlung für die Berlin-Wahl im Februar? Wir wählen ungültig – denn das letzte Jahr hat noch einmal mehr deutlich gemacht, dass wir keiner der etablierten Parteien vertrauen können und ihnen nicht guten Gewissens unsere Stimme schenken sollten. Natürlich sind nicht alle Parteien gleich schlecht. RRG ist allemal viel besser, als eine Regierung aus FDP, CDU und AfD wäre, und hat auch ein paar progressive Reformen hervorgebracht. Jedoch wiegen die Zahlen der Abschiebungen und die Verschleppung von DWE viel schwerer als die Brotkrumen, die uns die Landesregierung zuwirft. Wir wissen genauso, dass wirkliche Veränderungen in unserem jetzigen System nicht durch Wahlen und Parlamentsbeschlüsse entstehen können, sondern erkämpft werden müssen.

Deshalb müssen wir die Kämpfe auf der Straße führen, uns mit Streikenden solidarisieren, Selbstorganisation vorantreiben, aber auch die verschiedenen Bereiche der Arbeiter:innenklasse zusammenbringen, anstatt uns mit minimalen Versprechungen vor Wahlen zufrieden zu geben, welche sowieso im Parlament von der Bürokratie verschleppt werden.

Stattdessen wollen wir in den Betrieben, Schulen, Unis und Gewerkschaften eine von reformistischen Parteien unabhängige revolutionäre Bewegung aufbauen. Ein Teil davon ist die Notwendigkeit, sowohl politisch als auch organisatorisch mit der Linkspartei und Solid zu brechen. Vorschläge dazu, wie wir als Revolutionär:innen bei Wahlen intervenieren können, werden in unserem nächsten Artikel folgen.

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