Wahlen in Italien: Systemkrise und Aufstieg der extremen Rechten

24.09.2022, Lesezeit 15 Min.
1
Giorgia Meloni von der extrem rechten Partei Fratelli d’Italia führt in den Umfragen. Foto: WIkimedia Commons.

Bei den vorgezogenen Neuwahlen in Italien am Sonntag wird mit einem Sieg der Rechten gerechnet. Ein italienischer Sozialist erklärt die Ursprünge der aktuellen politischen Krise, den Aufstieg der Rechten und die Aufgaben für die Linke.

Am Sonntag, den 25. September, werden die Italiene­r:innen an die Urnen gehen, um eine neue Regierung und ein neues Parlament zu wählen. Die vorgezogenen Wahlen finden zwei Monate nach dem Fall der italienischen Regierung und dem Rücktritt von Ministerpräsident Mario Draghi statt. Es wird erwartet, dass der rechte Block, darunter die führende Partei Fratelli d’Italia unter Giorgia Meloni, gewinnt. Otto Fors von Left Voice sprach mit Giacomo Turci, Redakteur bei La Voce delle Lotte und Anführer der Revolutionären Internationalistischen Fraktion (FIR), über die Ursprünge dieser politischen Krise, den Aufstieg der Rechten und die Perspektive, die die FIR vertritt.

Im Juli fiel die italienische Regierung und Premierminister Mario Draghi trat zurück. Was waren die unmittelbaren Ursachen dafür? Und was waren die tieferen, langfristigen Ursachen?

Zunächst ist zu erläutern, dass das politische System Italiens eine parlamentarische Republik ist und der Ministerpräsident nicht direkt von den Bürgern gewählt wird, sondern vom Parlament bestimmt werden muss. Das Gleiche gilt für den Präsidenten (derzeit Sergio Mattarella), eine eher symbolische Figur, die ebenfalls vom Parlament gewählt wird. Die Regierung kann also fallen, wenn sie nicht genügend „Vertrauensvoten“ erhält, um ihre Gesetzesvorschläge zu verabschieden.

Draghi trat sein Amt vor anderthalb Jahren mit der Unterstützung aller parlamentarischen Kräfte außer der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia (FdI, Brüder Italiens) an. Es handelte sich um eine „technokratische“ Regierung, die jedoch mit den meisten anderen parlamentarischen Parteien paktierte, so dass es in seiner Regierung mehrere Minister:innen gab, die nicht von Draghi ausgewählt worden waren. Ansonsten war es eine Regierung von Technokrat:innen.

Draghi selbst hat eine Karriere zwischen Hochfinanz und Staatsbürokratie hinter sich. Er war von 2011 bis 2019 Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) und wird zweifellos als eines der öffentlichen Gesichter der Unterwerfung des griechischen Volkes unter die Sparmaßnahmen und die Privatisierungspolitik der Troika in die Geschichte eingehen. Seine Regierung basierte auf einer sehr heterogenen Koalition: Sie umfasste den rechten Flügel mit der nationalistischen Lega (Liga) von Silvio Berlusconi und Matteo Salvini, die populistische Partei Movimento 5 Stelle (M5S, 5-Sterne-Bewegung) und die Demokratische Partei (DP), die sich zum Teil aus dem sozialliberalen Flügel zusammensetzt, der einst die alte Kommunistische Partei regierte.

Die Regierung stützte sich auf das fragile Gleichgewicht dieser breiten Mehrheit und entwickelte die Elemente des Bonapartismus weiter, die bereits in den Regierungen des letzten Jahrzehnts vorherrschten. Der große Plan, den alle Klassensektoren und ihre politischen Parteien unterstützen sollten, die so genannte „Draghi-Agenda“, enthielt einfach zu wenige Zugeständnisse, um alle zu überzeugen.

Wenn wir die unmittelbaren Ursachen benennen wollen, so mag eine davon sehr trivial erscheinen, aber sie ist real: Das Parlament war voller neu gewählte:r Abgeordnete:r, die mindestens viereinhalb Jahre im Amt bleiben mussten, weil ihnen dies ein lebenslanges Einkommen garantierte. Mit anderen Worten: Sie folgten den Interessen ihrer eigenen „politischen Kaste“.

Die endgültige Krise der Draghi-Regierung begann Ende Juni, als sich innerhalb der M5S ein Riss bildete. Luigi Di Maio, der in der Regierung Draghi Außenminister war, stellte sich gegen den Vorsitzenden seiner eigenen Partei, Giuseppe Conte. Conte stellte in Frage, ob Italien weiterhin Waffen an die Ukraine liefern sollte, und eine Gruppe von M5S-Parlamentariern drohte damit, im Senat eine Resolution gegen die Waffenlieferung einzureichen. Di Maio, der mit Draghis Politik übereinstimmt, brach mit seiner eigenen Partei und bildete einen neuen Block, was die M5S schwächte.

Dies wiederum hat die Kluft zwischen dem M5S und Draghi vertieft. Es sei daran erinnert, dass diese Regierung eine Politik verfolgte, die dem Bedürfnis der Großkapitalist:innen entsprach, sich neue Marktanteile anzueignen, und die eine starke Umverteilung des Reichtums von unten nach oben auf Kosten der Kleinaktionäre begünstigte. Die wichtigste politische Konsequenz dieser Ausrichtung war die Isolierung der M5S, die versuchte einige wirtschaftliche Maßnahmen durchzusetzen, die Draghi nicht in Betracht zog. So enthielt sich die M5S bei einer wichtigen Abstimmung im Parlament der Stimme und einige Tage später reichte Draghi seinen Rücktritt bei Staatspräsident Mattarella ein, welcher diesen ablehnte.

Draghis Reaktion auf diese Krise veranlasste auch einen Teil des rechten Flügels zu einem Misstrauensvotum, da sie die Regierung für zu instabil hielten, um ein weiteres Jahr weiterzumachen (für 2023 waren Wahlen angesetzt). Damit war die Regierung endgültig gestürzt, es gab keine realistischen Aussichten mehr auf eine neue Mehrheit, und für den 25. September wurden Neuwahlen angesetzt.

Draghis Koalition war vor mehr als einem Jahr gebildet worden, um im Namen der „nationalen Einheit“ eine „Top-down“-Lösung für die politische Krise zu finden. Wie erklären Sie sich dieses Zusammentreffen rechtsextremer Kräfte mit anderen Kräften aus der Mitte, Neoliberalen usw.?

In Italien gibt es seit Jahren starke Anzeichen einer allgemeinen Krise, in der verschiedene Ebenen (wirtschaftlich, politisch, kulturell) miteinander verbunden sind. Der italienische Marxist Antonio Gramsci nannte dies eine organische Krise. Die Inflation von über 9 Prozent, der militärische Einsatz der NATO in der Ukraine, die Energiekrise, die Dürre, die noch immer nicht abgeschlossene Erholung nach dem Höhepunkt der Pandemie – all das hat sich zu einer allgemeinen Krise verdichtet, die es der herrschenden Klasse und den „regierenden“ Parteien objektiv schwer macht, die Massen von ihren politischen Projekten zu überzeugen. Dies führt immer wieder zu neuen Angriffen auf die Lebensbedingungen der großen Mehrheit.

Nationale Wahlen erweisen sich daher als unwirksam, wenn es darum geht, starke Regierungsmehrheiten zu bilden, die eine ganze fünfjährige Legislaturperiode mit relativ großer Unterstützung der Bevölkerung überstehen können. Es besteht daher die Tendenz, „technokratische“ Regierungen oder Koalitionsregierungen zwischen Parteien zu bilden, die eigentlich historische Feinde sind. Dies ist auch eine Möglichkeit, die potenziell subversiveren rechten Elemente aus dem Parlament auszuschließen, indem andere normalisiert werden.

Gleichzeitig wird versucht, die radikale Linke an den Rand zu drängen und zu schwächen, um diese Sektoren aus dem Parlament herauszuhalten und der Regierung die Möglichkeit zu geben, ungestört Gesetze zu verabschieden. In Wirklichkeit gibt es immer noch kein politisches Projekt, das die starke Hegemonie der Regierungsparteien über die Gesellschaft wiederherstellen könnte: Seit mindestens einem Jahrzehnt übersteigt der Anteil der Nichtwähler:innen die Unterstützung für irgendeine Partei, und es wird erwartet, dass sich am Sonntag etwa 35 Prozent der Wähler:innen der Stimme enthalten werden.

Am Sonntag finden in Italien Wahlen statt und die Popularität der Rechten und der extremen Rechten hat zugenommen. Wer sind die Fratelli d’Italia und Giorgia Meloni, und warum sind sie so beliebt? Ist es wahrscheinlich, dass eine rechtsextreme Regierung gewählt wird?

Ja, die letzten Umfragen haben der Rechtskoalition einen Vorsprung von etwa 20 Punkten vor der linken Mitte gegeben. Es ist klar, dass diese Koalition die Wahl gewinnen wird. Die Regierungsbildung wird eine komplexere Angelegenheit sein, die in erster Linie von den tatsächlich errungenen Sitzen im Parlament abhängt: Wir könnten eine Regierungsmehrheit haben, die sich teilweise von derjenigen unterscheidet, die die Wahl gewonnen hat.

Was die Rechte betrifft, so wurde versucht, sie ganz oder fast ganz in einer Partei, dem Popolo della Libertà (Volk der Freiheit), zu vereinen. Nach dem Scheitern dieses Versuchs ist ein Großteil des rechten Flügels immer noch in drei Parteien organisiert: Silvio Berlusconis Forza Italia, Salvinis Lega (die ein stärker nationalistisches Profil hat als ihre Ursprünge, in denen sie für die Abspaltung Norditaliens eintrat) und Melonis Fratelli d’Italia. Diese konnten ihr Bündnis bei praktisch jeder Wahl seit 2018 aufrechterhalten, durch welches sie bestätigten, eine relative Mehrheit im Land zu sein.

Fratelli d’Italia wurde 2013 als ein Bündnis führender Politiker:innen in Mittel- und Süditalien gegründet. Ihr Motiv war es nach der Krise ihrer Vorgängerpartei Alleanza Nazionale, der Nachfolgerin des Movimento Sociale Italiano (MSI, Italienische Sozialbewegung), die eine offen pro-faschistische Partei war, eine rechtsextreme Partei wieder aufzubauen. Giorgia Meloni steht für den Sieg des Sektors, der seine Hochburgen in Rom, wo Meloni aufgewachsen ist, und in ihrer Region Latium, hat. Diese Partei ähnelt stark der von Marine Le Pen in Frankreich, hat jedoch ein stärkeres Pro-NATO-Profil und weniger Verbindungen zu Russland, im Gegensatz zur Lega, die nun versucht, ihre früheren politischen Sympathien abzulegen.

Ein charakteristisches Merkmal der FdI ist, dass sie die alten Christdemokraten und die Forza Italia als bevorzugte Partei für Teile der Mafia in der südlichen Mitte mit Leichtigkeit ablöst, während sie im Norden vor allem dadurch wächst, dass sie Teile gewinnt, die in den vergangenen fünf Jahren die Lega unterstützt hatten. Der Erfolg der FdI besteht darin, dass sie offen ein katholisch-nationalistisches Profil in klarer Opposition zur Regierung Draghi vertritt. Ein Teil der sozialen Unzufriedenheit ist somit in die Unterstützung für diese Partei geflossen.

Der Wettbewerb zwischen Lega und FdI um die Rolle der führenden Mitte-Rechts-Partei, veranlasste Meloni, der Vorsitzenden der FdI, dazu weniger radikale Positionen einzunehmen. Diese stehen dem neoliberal-atlantischen Konsens näher, bleiben aber in Opposition zu Draghi, indem sie die Notwendigkeit einer weniger „pro-europäischen“ politischen Agenda behauptete und allgemeine Wahlen forderte, um die Jahre von Regierungen zu beenden, die den Willen des Volkes überhaupt nicht repräsentierten. Diese Position hat sich als fruchtbar erwiesen, da die FdI in den Umfragen mit über 24 Prozent der Stimmen stetig auf den ersten Platz gestiegen ist.

Es darf nicht vergessen werden, dass es auch nach dem Sturz der Christdemokraten und des MSI einen wichtigen Teil der Bevölkerung gibt, der sich mit der konservativen Politik identifiziert und von der katholischen Kultur beeinflusst ist, einschließlich derjenigen, die mit der 20-jährigen faschistischen Periode verbunden ist.

Welche Perspektive bieten die Revolutionäre Internationalistische Fraktion (FIR) und La Voce Delle Lotte in der aktuellen Krise und bei den Wahlen?

Erstens sagen wir, dass der Kampf gegen die Inflation, gegen den Krieg und seine Folgen und gegen die imperialistische Aufrüstungspolitik des italienischen Staates und der NATO in der kommenden Periode im Mittelpunkt stehen muss. Und es scheint auch klar zu sein, dass der Schlüssel zu tiefgreifenden Veränderungen in der Mobilisierung und Selbstorganisation breiter Sektoren der Arbeiter:innen und Unterdrückten liegt, mit einer Politik, die unabhängig von allen kapitalistischen Flügeln und der verfallenden italienischen politischen Kaste ist.

Wir denken, dass es in dieser akuten Situation entscheidend ist, einen Pol der Klassenunabhängigkeit zu schaffen, der die kämpferischsten Teile der Arbeiter:innenklasse mit Teilen der Jugend-, Migrant:innen- und Frauenbewegung zusammenbringen kann. Dazu wäre es notwendig, an die radikalen Erfahrungen der Aktionseinheit und der gemeinsamen Kampfprogramme anzuknüpfen, die in den letzten Jahren in Italien stattgefunden haben, auch wenn diese ihre Grenzen hatten.

Gleichzeitig ist es wichtig, eine politische Alternative anzubieten, da es unerlässlich ist, den Reformismus ohne Reformen der Mitte-Links-Formation der Partito Democratico und der sie unterstützenden Gewerkschaftsbürokratie anzuprangern. Dafür wäre es aber nicht nur notwendig unsere Kämpfe zu vereinen, sondern auch Schritte zu unternehmen, um eine vereinte, klassenbasierte, antikapitalistische politische Alternative zu schaffen.

Eine solche Plattform könnte Wahlen nutzen, um unter Tausenden von Arbeitnehmer:innen Wahlkampf zu machen. Im Falle eines guten Ergebnisses könnten wir sogar die Sitze im Parlament als Foren nutzen, um Kämpfe zu organisieren und ein Programm mit mehr Nachdruck zu verbreiten, damit die Arbeiter:innenklasse nicht für diese Krise bezahlen muss. Das Beispiel der Linksfront (FIT-U) in Argentinien und die Rolle, die unsere Genoss:innen in der Partei der Sozialistischen Arbeiter:innen (PTS) dort spielen, sollte von der italienischen Linken aufmerksam verfolgt werden.

Leider ist die politische Linke, die sich nicht mit der PD verbündet hat, sehr schwach, und einige Gruppen präsentieren sich in einer Liste, die von der Mitte-Links-Koalition der französischen NUPES1 von Mélenchon inspiriert ist. Dies ist eine Politik des Reformismus und der Klassenversöhnung.

Im Gegensatz zu denen, die immer wieder nach politischen Abkürzungen im Regime suchen, glauben wir, dass die Krise nur dann zugunsten der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten gelöst werden kann, wenn wir für eine Politik der Klassenunabhängigkeit kämpfen und große Erfahrung in der Selbstorganisation entwickeln. Nur wenn wir die Diktatur der Banker und Kapitalist:innen, die hinter allen Regierungen stehen, und diese Demokratie der Reichen brechen, kann eine sozialistische Gesellschaft auf einer neuen Grundlage aufgebaut werden.

Der Kapitalismus hat uns in eine ständige ökologische Katastrophe geführt, die Kriege, Verarmung und Hungersnöte verursacht. Um dieses Übel an der Wurzel zu packen, können wir nicht danach streben, dieses System zu „humanisieren“, sondern müssen darauf abzielen, es zu stürzen. Wir sind in Italien noch eine kleine Gruppe, aber wir glauben, dass unsere Stärke darin liegt, eine klare Politik zu entwickeln, die mit diesen großen Zielen verbunden ist.

Anmerkungen

1. Die Nouvelle Union Populaire Écologique et Social (NUPES) ist ein Wahlbündnis, das für die Parlamentswahlen im Juni in Frankreich gegründet wurde. Zu dem Bündnis gehören die sozialdemokratische populistische Partei La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon, die Grünen sowie Reste der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei. Die NUPES ist nun die zweitgrößte Gruppierung in der französischen Legislative.

Ursprünglich veröffentlicht am 21. September in Left Voice, übersetzt von Miri P.

Mehr zum Thema