Wahlen in Frankreich: Ein Rückschlag für die extreme Rechte, ein Sieg für Mitte-Links
Die extreme Rechte liegt nach den Parlamentswahlen hinter der Neuen Volksfront und Macrons Ensemble. Wie könnte eine Regierungsbildung nun aussehen? Und was bedeutet die Wahl für die revolutionäre Linke?
Die Stichwahlen zur französischen Nationalversammlung am gestrigen Sonntag endeten mit einer großen Überraschung: Marine Le Pens extrem rechte Rassemblement National (RN), die noch bei der ersten Runde der Wahlen am vorherigen Sonntag unangefochtener Sieger war, erlangte weit weniger Sitze als erwartet.
Nach der offiziellen Auszählung ist die neue Nationalversammlung in drei etwa gleich große Teile (und andere kleinere Kräfte) aufgeteilt: Die Neue Volksfront – NFP (Sozialistische Partei, Kommunistische Partei, Grüne und Jean Luc Mélenchons La France Insoumise) nimmt den ersten Platz ein, gefolgt von Ensemble („Gemeinsam“), der Koalition von Präsident Emmanuel Macron, und erst an dritter Stelle Le Pens Rassemblement National (RN).
Keine Kraft erreicht die absolute Mehrheit von 289 Sitzen, um ohne Absprache mit einer anderen Kraft den Premierminister durchzusetzen. Die Sonntagnacht veröffentlichten Ergebnisse, als nur noch drei Sitze ausgezählt werden mussten, zeigen die NFP mit 181 Sitzen, Ensemble mit 166 Sitzen und RN mit 143 Sitzen. Dahinter folgt die traditionelle rechte Partei der Republikaner (LR), die 45 Sitze errang.
Das geringere Übel: Republikanische Blockade der extremen Rechten
Der Rückgang der extrem rechten Rassemblement National in diesem zweiten Wahlgang erklärt sich durch eine Vereinbarung, die als „Republikanische Front“ oder „Republikanische Blockade“ bezeichnet wird: Die Kandidat:innen der Neuen Volksfront, von Macrons Ensemble und einige LR-Kandidat:innen hatten damit ihre Kandidaturen zugunsten von denen anderer Parteien zurückgezogen, um die Kandidat:innen von RN zu schlagen.
Da nach dem französischen Wahlsystem nicht nur zwei Kandidat:innen in die Stichwahlen einziehen dürfen, sondern alle, die im ersten Wahlgang mehr als 12,5 Prozent der Stimmen erhalten haben, gab es viele Wahlkreise, in denen die zweite Runde von drei oder sogar vier verschiedenen Kandidat:innen bestritten wurde. In diesen Fällen zogen NFP und Ensemble ihre Kandidat:innen, die an dritter oder vierter Stelle lagen, zurück, um einen Sieg der RN zu verhindern. Die meisten der ausgeschiedenen Kandidat:innen kamen von der NFP, was auch den Aufstieg von Macrons Ensemble in dieser zweiten Runde erklärt.
Zu dieser Politik des kleineren Übels, um Le Pens Partei zu blockieren, gehörte auch, dass die Kandidat:innen der Neuen Volksfront selbst gegenüber völlig unpopulären Figuren in Macrons Regierung, wie seiner ehemaligen Premierministerin Elisabeth Borne und Macrons Innenminister Gérald Darmanin, zurücktraten. Borne war die Architektin der Rentenreform, zahlreicher Offensiven gegen Arbeitslose oder auch der Repression in Arbeiter:innenvierteln nach der Ermordung des jungen Nahel durch die Polizei sowie der Anwendung von Artikel 49.3 (Dekret) in zahlreichen arbeiter:innenfeindlichen Maßnahmen. Innenminister Darmanin war es, der eine rassistische und unsoziale Politik umsetzte, die oft von extrem rechten Vorschlägen inspiriert war. Im vergangenen Dezember feierte Marine Le Pen einen „ideologischen Sieg“ nach der Abstimmung über das von diesem Minister verabschiedete Einwanderungsgesetz.
Macron hat seinerseits bereits über das Comeback gesprochen, das ihm diese Politik des geringeren Übels ermöglicht hat, und erklärt, dass er die „Strukturierung“ der neuen Nationalversammlung abwarten werde, um „die notwendigen Entscheidungen zu treffen“.
Ohne eine absolute Mehrheit zeichnet sich ein Verhandlungs- und Krisenszenario ab. In den letzten Tagen haben einige Analyst:innen angesichts eines solchen Szenarios die Bildung einer heterogenen parlamentarischen Koalition zwischen Macronismus und der Neuen Volksfront angeregt. Das heißt, Macron als Präsident und ein Mitglied der Neuen Volksfront als Premierminister.
Jean Luc Mélenchon, dessen Organisation LFI über ein Drittel der Sitze der Neuen Volksfront verfügt, sagte in seiner Rede am Sonntag Abend, dass Macron „die Neue Volksfront zum Regieren auffordern muss“, ohne jedoch jemanden als möglichen Premierminister zu benennen.
Macron (und sein derzeitiger Premierminister Gabriel Attal, der noch am Sonntag zurücktrat) hatten eine heterogene Vereinbarung in Aussicht gestellt und auf die Möglichkeit einer „Pluralen Versammlung“ verwiesen, aus der eine Koalitionsregierung in Kontinuität mit der „Republikanischen Front“ hervorgehen würde.
Eine solche Aussicht wirft auf jeden Fall das Problem auf, auf welches Programm sich eine solche heterogene Koalition einigen könnte, die die Unterstützung eines breiten Spektrums erhalten müsste, das von der LFI bis zur LR reichen könnte.
Auf dem Weg zu einer Periode anhaltender Instabilität?
Das letzte Szenario ist, dass selbst mit relativen Mehrheiten in einer in drei Drittel geteilten Versammlung keine Einigung zur Bildung einer tragfähigen Regierung erzielt werden kann. In diesem Fall wären wir mit einer Situation der Unregierbarkeit konfrontiert, oder es würden auf Geheiß von Emmanuel Macron Regierungen gebildet, denen dann prompt wieder das Vertrauen entzogen würde. Wie France Info betonte, „könnte es zu einer festgefahrenen Situation kommen, in der es Regierungen gibt, die schnell mit einem Misstrauensantrag entlassen werden“, der mit 289 Stimmen angenommen werden kann. „Diese Situation könnte sich mindestens bis Juli 2025 immer wieder wiederholen, da eine erneute Auflösung der Nationalversammlung zur Ausrufung von Neuwahlen gemäß Artikel 12 der Verfassung erst zwölf Monate nach der letzten Wahl erfolgen kann.“
Angesichts dieses Szenarios wurde in den letzten Tagen die Idee einer „technischen Regierung“ ins Spiel gebracht, die sich aus parteilosen „Expert:innen“ und anderen Technokrat:innen zusammensetzt. So schrieb zum Beispiel der Verfassungsrechtler Benjamín Morel: „Die Idee ist, dass die Parteien sich nicht an der Regierung beteiligen, weil sie nicht für die Politik verantwortlich sein wollen, die verfolgt wird. So können wir ein Jahr bis zur nächsten Auflösung gewinnen, wenn die Parteien sich bereit erklären, die Regierung regierungsfähig zu machen, indem sie nicht für einen Misstrauensantrag stimmen“, erklärte er in der Nachrichtensendung La Chaîne Info. Ein solches Szenario gab es zum Beispiel in Belgien während der Covid-Krise, während Italien seit dem Zweiten Weltkrieg vier solcher Regierungen erlebt hat, zuletzt die des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi von Februar 2021 bis Oktober 2023.
Diese Aussicht scheint in einer so instabilen Situation wie dieser, mit Sparzwängen und dem Krieg in der Ukraine, schwer haltbar zu sein. Ein anderes Szenario wäre der Rücktritt von Emmanuel Macron. Der Präsident der Republik hat diese Möglichkeit zwar ausgeschlossen, doch das Ausmaß der sich abzeichnenden Krise zwingt dazu, sie ernst zu nehmen. Wie Vincent Martigny, Professor für Politikwissenschaft an der Université Polytechnique, in einem Interview mit Nouvel Obs betont, würde dieses Szenario die Krise nicht unbedingt lösen. „Angenommen, ein neuer Präsident würde gewählt, dann müsste er sich mit derselben Nationalversammlung auseinandersetzen, die aus den Wahlen am 7. Juli hervorging. Er würde genausowenig eine absolute Mehrheit haben wie Emmanuel Macron“. Die Situation wäre umso komplizierter, als die Frage, ob ein neu gewählter Präsident seinerseits die Nationalversammlung auflösen könnte, weniger als ein Jahr nach einer vorherigen Auflösung, zur Debatte steht.
Nach dem Rückschlag der extremen Rechten wird die Durchsetzung unserer Forderungen von unseren Kämpfen abhängen
Wie unsere Schwesterorganisation Révolution Permanente in ihrem Leitartikel nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse betonte, ist der Kampf gegen den Aufstieg der Rechten mit den Wahlen alles andere als beendet.
„Angesichts der bevorstehenden politischen Turbulenzen können die Wähler:innen der Linken nur auf ihre eigene Stärke und den Kampf der Arbeiter:innenklasse und der Massensektoren vertrauen. Keine Regierung, auch nicht die, die Macron einen ‚linken‘ Premierminister aufzwingt, wird in der Lage sein, unser Leben im Rahmen einer Fünften Republik zu verbessern, die dem Präsidenten weitreichende Befugnisse einräumt.
Angesichts von Macron und der extremen Rechten können nur die Kämpfe der Arbeiter:innen, der Jugendlichen und der Arbeiter:innenviertel es ermöglichen, die wesentlichen Forderungen durchzusetzen, die im Mittelpunkt der Wahlkampfdebatten der Linken standen: die Rücknahme der Rentenreform und die Einführung der Rente mit 60, die Erhöhung des Mindestlohns und aller Löhne, ihre automatische Angleichung an die Inflation, das Ende der autoritären und rassistischen Maßnahmen. Es wird nur möglich sein, die extreme Rechte langfristig zurückzudrängen, indem Mobilisierungen geschaffen werden, die in der Lage sind, ein solches Programm zu verwirklichen. Die Führungen der Arbeiter:innenbewegung, angefangen bei der CGT, müssen in diesem Kampf die Führung übernehmen und sich nicht länger der institutionellen Linken unterordnen.
Eine von den Führungen der Parteien, aus denen sich die NFP zusammensetzt, und vom Regime unabhängige Politik wird entscheidend sein, um die Interessen unserer Klasse in einer nationalen und internationalen Situation voller Gefahren zu verteidigen. Sie ist untrennbar mit dem Aufbau einer wirklich revolutionären politischen Alternative verbunden, die in der Arbeiter:innenklasse, an den Studienorten und in den Arbeiter:innenvierteln verankert ist.“
Dieser Artikel erschien zuerst am 7. Juli 2024 auf Spanisch bei La Izquierda Diario. Der Leitartikel von Révolution Permanente kann in der französischen Originalfassung hier gelesen werden.
Diskussionsveranstaltung: Wie bekämpfen wir den Aufstieg der Rechten in Frankreich und Deutschland?
Samstag, 13. Juli um 19 Uhr
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