Waffenstillstand in Gaza: Der Genozid ist noch nicht vorbei!

16.01.2025, Lesezeit 8 Min.
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Nach tagelangen intensiven Verhandlungen haben die Hamas und Israel am Mittwoch offiziell eine Vereinbarung über eine Waffenruhe in Gaza getroffen, mit dem erklärten Ziel, den 15 Monate langen genozidalen Krieg zu beenden. Was können wir davon erwarten?

Fast 15 Monate nach dem 7. Oktober und dem Beginn der genozidalen Angriffe der israelischen Truppen im Gazastreifen haben die Hamas und die israelische Regierung ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Das mehrstufige Abkommen kam wenige Tage vor dem Amtsantritt von Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten zustande und folgte auf ein Treffen zwischen Mohammed bin Abdulrahman Al Thani, Premierminister und Außenminister von Katar, mit den Vertreter:innen der Hamas und, getrennt davon, mit denen Israels.
Die Bilder vom Jubel in den verwüsteten Straßen von Gaza nach der Verkündung des Waffenstillstands am Mittwochabend sorgten für Zuversicht bei all jenen, die mit endloser Trauer auf die schrecklichen Entwicklungen blicken, die seit über einem Jahr den Alltag des Gazastreifens und Westasiens bestimmt haben. Diese Szenen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Lage politisch nach wie vor äußerst instabil ist, genauso wie auch die Lebensbedingungen der Bevölkerung in Gaza weiterhin lebensbedrohlich sind. Man sollte sich einige Faktoren vor Augen halten, insbesondere, dass es unwahrscheinlich ist, dass es sich um einen echten und anhaltenden Waffenstillstand handelt. Bezeichnend dafür stehen die weiteren israelischen Angriffe am gestrigen Abend, bei denen laut Reuters mindestens 20 Menschen getötet wurden.

Ist das wirklich ein Waffenstillstand?

Dieses Abkommen ist nur dann ein Waffenstillstand, wenn seine drei Phasen eingehalten werden. Die erste Phase soll am 19. Januar beginnen und sieht eine sechswöchige Einstellung der Feindseligkeiten vor, während der die israelischen Gefangenen in Gaza im Austausch gegen palästinensische Gefangene freilassen würde (Al Jazeera nannte am Mittwochabend die Zahl von 2.000 palästinensischen Gefangenen gegen 30 Gefangene der Hamas). Es bleibt unklar, wie es genau umgesetzt werden soll.

Das Abkommen sieht vor, dass Israel einige Palästinenser:innen in den Norden der Enklave zurückkehren lässt. Der Vertragstext erwähnt zwar nicht ausdrücklich den Rückzug der IDF (Israelische Armee) aus dem Netzarim-Korridor, der seit Februar 2024 gesichert ist, aber andere Versionen lassen vermuten, dass Israel einige Garnisonen auf dieser Achse, die die Enklave südlich von Gaza-Stadt von Ost nach West teilt, aufrechterhalten würde, um die Flüchtlingsströme zu kontrollieren. Eine Situation, die befürchten lässt, dass Israel die Bewegungen der Palästinenser:innen stark einschränkt, um die Kontrolle über den Norden zu behalten.

Es ist in dieser Gemengelage möglich, dass Netanjahu beschließt, die zweite Phase niemals einzuleiten. Die Verhandlungen dafür müssen spätestens am 16. Tag des Waffenstillstands beginnen und einen „dauerhaften Stillstand“ sowie einen vollständigen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Streifen besiegeln. Die dritte Phase, die einen Plan für den Wiederaufbau Gazas vorsieht, der mit der Wiedereröffnung einiger Grenzübergänge einhergeht, scheint noch weniger realistisch.

In diesem Zusammenhang berichtete die israelische Presse bereits über Netanjahus Bereitschaft, nach der Freilassung der ersten Gruppe von Geiseln wieder in die Offensive zu gehen. Andererseits soll Trump Netanjahu auch versichert haben, dass die USA die IDF unterstützen würden, wenn Israel sich nach der Zustimmung zu Phase 1 für eine Fortsetzung des Krieges entscheiden würde. Zu glauben, dass Netanjahu seine Meinung plötzlich geändert hätte, nachdem er Monate damit verbracht hatte, die israelischen Militärpositionen in Gaza zu stärken und auszubauen und eine maximalistische Position mit genozidalen Charakter zu vertreten, ist in Wirklichkeit reines Wunschdenken.

Bis zum Beweis des Gegenteils bedeutet das Abkommen über einen „Waffenstillstand“ kein Ende der Massaker und beschränkt sich derzeit im Wesentlichen auf den Austausch von Gefangenen. Die fragile Waffenruhe ist dennoch willkommen, da sich die Zahl der direkten Opfer in Gaza laut einer aktuellen Studie des Lancet auf über 70.000 belaufen soll. Sie ist auch ein Beispiel für die Entwicklung der Lage im Gazastreifen. Zum ersten Mal seit vielen Monaten konnten sowohl die Hamas als auch Israel durch eine Einigung mehr gewinnen als verlieren.

Das Massaker an den Palästinenser:innen ist noch nicht zu Ende.

Auf der einen Seite beginnt die durch mehr als ein Jahr IDF-Operationen dezimierte Hamas im Gazastreifen an Popularität zu verlieren, während die sogenannte „Achse des Widerstands“ im Libanon und in Syrien tiefgreifend geschwächt wurde. Auf der anderen Seite hat die israelische Armee, seit Netanjahu im August letzten Jahres das gleiche Angebot eines Waffenstillstands vereitelt hatte, relativ wenig erreicht, das über die Tötung des Hamas-Führers Yahya Sinwar hinausging. Der seither andauernde Krieg beginnt, die Moral der israelischen Truppen und die israelische Wirtschaft stark zu belasten.

Die internationale Empörung, mit der Israel konfrontiert ist und die unter der Jugend in den USA zur größten antiimperialistischen Bewegung seit dem Vietnamkrieg geführt hat, sowie der Zeitplan für eine neue US-Regierung haben Netanjahu ebenfalls einen Strich durch die Rechnung gemacht. Schließlich spielte auch die Wahl Trumps eine Rolle, da Netanjahu, der mit einer schweren innenpolitischen Krise konfrontiert war, nicht riskieren konnte, sich mit dem israelfreundlichsten US-Präsidenten, der je gewählt wurde, zu überwerfen, obwohl sich das vorgeschlagene Abkommen seit seiner damaligen Ablehnung kaum verändert zu haben scheint. Für den Premierminister, der sich einer wachsenden politischen Opposition sowohl auf der extremen Rechten als auch unter den Familien der israelischen Gefangenen gegenübersieht, war die Gelegenheit zu gut, um bei einer Regierung zu punkten, die bereits zugesagt hat, seine Völkermordpolitik bedingungslos zu unterstützen.

Trump wird sich wahrscheinlich bemühen, die Ruhe zu nutzen, um zu versuchen, den Prozess der „Normalisierung“ mit den Golfstaaten wieder in Gang zu bringen und die Palästinafrage auf die eine oder andere Weise zu begraben. Die israelische Seite befindet sich nach wie vor in einer Sackgasse. Netanjahu hatte die vollständige Vernichtung der Hamas versprochen, und dieses (wenn auch instabiles) Abkommen ist ein Beweis für das Scheitern dieser Politik. Die Frage nach der Regierung in Gaza und dem „Tag danach“ ist immer noch nicht ansatzweise beantwortet.

In diesem Rahmen wird die israelische Regierung wahrscheinlich langfristig Kräfte in Gaza behalten und versuchen, den Gazastreifen ähnlich wie das Westjordanland zu regieren, mit einem lokalen und internationalen Partner, um die Rückkehr der Hamas zu verhindern. Diese Dynamik wird die israelischen Siedlungen im Laufe der Zeit weiter fördern. Gleichzeitig dürfte Netanjahu unter dem Druck der extremen Rechten, die am Mittwoch ihre Wut zum Ausdruck brachten und mit einer Sprengung der Regierungskoalition drohten, die Annexion des Westjordanlandes beschleunigen. Für die Palästinenser:innen ist ein „Waffenstillstand“ immer eine gute Nachricht, aber die kommenden Tage könnten besonders düster sein.

Der Kampf gegen den Genozid und die Kolonisierung des palästinensischen Volkes ist also noch lange nicht beendet. Nur der Kampf für die vollständige Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes kann den Völkermord stoppen. Israels Regierung hat die Vernichtung des palästinensischen Volkes zu einer Bedingung für die Festigung ihrer Macht in der Region gemacht und wird jederzeit in der Lage sein, die Massaker und Bombardierungen wieder aufzunehmen. Die Mobilisierungen in Solidarität mit Palästina müssen angesichts dieser neuen Bedrohungen ausgeweitet werden. Vor allem haben die arabischen Arbeiter:innen und Unterdrückten in der Region eine wesentliche Rolle zu spielen. In massenhafter Solidarität mit dem palästinensischen Volk könnten sie Israel seiner Unterstützung in der Region berauben, indem sie ihre eigenen Autokraten stürzen, die Israel über ein Jahr lang passiv gewähren ließen oder sogar aktiv den Völkermord unterstützten. Letztendlich kann die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes nur im Rahmen einer sozialistischen Föderation der Staaten Westasiens, die endgültig von den imperialistischen Mächten und ihren Verbündeten in der Region befreit sind, ihre vollständigste Verwirklichung finden.

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