VSG: Noch kein gleicher Lohn für gleiche Arbeit
Die Kolleg*innen der Vivantes Service GmbH waren im Frühjahr 51 Tage im Streik. Letzte Woche Donnerstag ging ihr Arbeitskampf nun offiziell zu Ende. Das Ergebnis ist gemischt.
Am Donnerstag ging Berlins längster Streik seit mehr als fünf Jahren zu Ende. 51 Tage waren die Kolleg*innen der Vivantes Service GmbH (VSG) im Streik – vom 11. April bis zum 31. Mai. Jetzt hat die Tarifkommission einem Tarifvertrag zugestimmt, der demnächst von der Gewerkschaft und vom Unternehmen unterschrieben wird.
Die VSG-Kolleg*innen haben im Grunde einen Streik gegen Ausgliederung geführt. Das dürfen sie aber nicht so aussprechen, denn laut deutschem Richter*innenrecht wäre ein solcher Streik ein Eingriff in die „unternehmerische Freiheit“ und damit verboten. Deswegen hieß die Kampfparole: „TVöD für alle!“ Der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst gilt beim Mutterkonzern Vivantes. Würde man bei der Tochterfirma auch Tariflöhne zahlen, dann würde sich die Ausgliederung gar nicht rentieren. Eine Wiedereingliederung würde naheliegen. Genau das passierte bei einer Tochterfirma am Botanischen Garten Berlin, nachdem dort Tariflöhne erkämpft wurden.
Was wurde nun bei der VSG erreicht? Leider: deutlich weniger als TVöD. Laut einer Mitteilung der Gewerkschaft ver.di sollten die Löhne bei der VSG künftig „mindestens 90 Prozent“ des TVöD-Niveaus betragen. Aber wie ein VSG-Kollege und Mitglied der Tarifkommission im Interview vorrechnet, gilt diese Zahl nur für die Beschäftigten der Sterilisation. Hier war die Streikbeteiligung am Stärksten. In anderen Bereichen werden Beschäftigte nur 83-87 Prozent des Tariflohns erhalten. Dazu kommen zahlreiche weitere Schlechterstellungen bei Sonderzahlungen, Urlaubstagen, Arbeitsbedingungen usw. usf..
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ Das war eine Parole von unzähligen Arbeitskämpfen in den letzten Jahren in der Hauptstadt. Jedes Berliner Landesunternehmen hatte in den nuller Jahren Tochterfirmen gegründet, um Tarifverträge zu umgehen und Löhne zu drücken. Überall waren Belegschaften gespalten. Proteste dagegen gab es bei angestellten Lehrer*innen, am Botanischen Garten, beim Universitätsklinikum Charité, an der BVG… Der rot-rot-grüne Senat hatte in seinem Koalitionsvertrag versprochen, diese schreiende Ungerechtigkeit zu beenden und künftig in landeseigenen Tochterunternehmen Tariflöhne zu zahlen. Nur: Eingelöst haben sie ihr Versprechen nirgends.
Radikalisierung
Es gibt nun einen Tarifvertrag an der VSG, und das bedeutet rund 30 Prozent mehr Lohn für die Kolleg*innen – das ist ausschließlich dem langen Arbeitskampf zu verdanken. Der Streik bei der VSG war von Anfang an schwierig. Rund 70 Kolleg*innen haben den Kampf aufgenommen. Nur bei der Sterilisation konnte der Krankenhausbetrieb erheblich gestört werden. Die Geschäftsführung setzte hier unqualifizierte Streikbrecher*innen ein, wie wir erstmals berichtet haben, und gefährdete damit Patient*innen.
Für die ersten fünf Wochen „dümpelte der Streik nur so dahin“. Jeden Tag gab es ein Streiklokal an einem anderen der insgesamt neun Vivantes-Krankenhäuser. Aber richtig spannend war es nicht – neben Streikzelt, Streiklisten, Essen und Kaffee passierte nicht viel.
Erst in der sechsten Woche begannen die Streikenden mit radikaleren Aktionsformen. Sie blockierten die Landsberger Alle – und hier kam der Streik endlich in die bürgerlichen Medien. Plötzlich sprachen Politiker*innen der Regierungskoalition darüber. Doch trotz wohlwollender Worte aus den Reihen von SPD, Grünen und Linkspartei hat niemand die Einhaltung ihres Koalitionsvertrages ernsthaft in Erwägung gezogen. Der Finanzsenator, Matthias Kollatz-Ahnen, drohte sogar offen im Fernsehen damit, dass man im Falle von Tariflöhnen an der VSG die Dienstleistungen an Fremdfirmen vergeben würde. Mit anderen Worten: Die Kolleg*innen sollten ihre Jobs verlieren, wenn sie die Einhaltung der Wahlversprechen durchsetzen würden. Selbst für einen sozialdemokratischen Politiker unglaublich dreist!
Deswegen sind die VSG-Kolleg*innen immer wieder zu den Verantwortlichen gegangen. Immer wieder standen sie vor Landesparteitagen – besonders effektiv war, als sie den regierenden Bürger*innenmeister Michael Müller (SPD) während seines „Empfangs für Arbeitnehmer“ am Abend vor dem 1. Mai umzingelten. Die Sozialdemokrat*innen mussten dann so tun, als hätten sie gar keine Ahnung, was in ihren Landesunternehmen so passiert.
Der Streik bekam Unterstützung von anderen Arbeitskämpfen: Von den studentischen Beschäftigten der Berliner Hochschulen (TVStud), die zur gleichen Zeit für einen neuen Tarifvertrag kämpften; von der Feuerwehr, die eine Mahnwache mit Feuertonne vor dem Roten Rathaus aufgestellt hatte; auch von einer feministischen Veranstaltung für das Recht auf Abtreibung. Gemeinsam mit verschiedenen Belegschaften gab es ein richtiges Festival gegen Prekarisierung in Verantwortung des Landes Berlin.
Das Hauptamt
Die Forderung „TVöD für alle“ war durchsetzbar. Dass die VSG-Kolleg*innen mindestens bis zum 31. März 2021 – Lautzeit des neuen Tarifvertrages – Krankenhausbeschäftigte zweiter Klasse bleiben, war kein unvermeidbares Schicksal. Die Kolleg*innen haben ihre Entschlossenheit unter Beweis gestellt. Die Öffentlichkeit hatte Sympathie für ihre Forderungen – schließlich haben alle Menschen ein Interesse daran, dass die Arbeiter*innen im Krankenhaus halbwegs zufrieden sind.
Nur eine Kraft stand der vollen Durchsetzung der Forderungen im Weg: die Bürokratie der Gewerkschaft ver.di.
Bereits ein Jahr davor, im Sommer 2017, war die Charité Facility Management (CFM) im Streik. Das ist die Servicetochter des Berliner Universitätsklinikums Charité – CFM und VSG sind zwei sehr ähnliche Konstruktionen und beide Arbeitskämpfe haben sehr ähnliche Forderungen. Was wäre naheliegender gewesen als ein Zusammenschluss der Kämpfe? Die beiden Tarifkomissionen schlugen gemeinsame Streiktage vor. Doch der ver.di-Vorstand, der jede Streikaktion genehmigen muss, lehnte ab – ohne Begründung.
Es ist ein bekanntes Problem, dass die hauptamtlichen Funktionär*innen der Gewerkschaft, besonders in den höheren Stellen, in der Regel ein sozialdemokratisches Parteibuch haben. Oft fühlen sie sich dem Erfolg ihrer Parteigenoss*innen in den Regierungen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer Mitglieder.
Beim VSG-Streik war dieses Problem besonders krass. Die ver.di-Verhandlungsführerin saß gleichzeitig im Aufsichtsrat des Krankenhauskonzerns – in der Vergangenheit hatte sie bei Protestkundgebungen darauf hingewiesen, dass die Forderungen finanzierbar bleiben müssen.
Der ver.di-Apparat hat diesen Streik mit angezogener Handbremse geführt. Wichtige Gewerkschaftsfunktionär*innen ließen sich nie im Streikzelt blicken – nicht von der Landesebene, von der Bundesebene ganz zu schweigen. Ursprünglich wurden die „Gestellten“, die bei Vivantes angestellt sind, aber ihren Dienst bei der VSG leisten, gar nicht zum Streik aufgerufen. Erst nach starkem Druck aus der Basis wurde der Streikaufruf auf alle VSG-Mitarbeiter*innen ausgeweitet. Erst in der sechsten Streikwoche wurden Pflegekräfte zu einem Solidaritätsstreik aufgerufen. Gleich 30 Kolleg*innen traten in den Ausstand, was erhebliche Gewinneinbußen für Vivantes bedeutete. Was wäre passiert, wenn ver.di die Pflegekräfte und das Servicepersonal zu einem gemeinsamen Streik aufgerufen hätte?
Doch die ver.di-Bürokratie wollte gar nicht „TVöD für alle“. Als die selbsternannten Meister*innen der Kompromisse wollen die Bürokrat*innen vor allem ein schnelles Ergebnis. Das wurde besonders bei einer auf Video aufgenommenen Streikversammlung deutlich: Die Verhandlungsführerin versucht, den Arbeitskampf um jeden Preis zu beenden. Möglicherweise wegen einer Nachricht, die kurz danach die Öffentlichkeit erreichte: Vivantes zahlt seinen Manager*innen absurd hohe Gehälter – fast eine halbe Million Euro im Jahr für die Chefin –, und das wird vom Landesrechnungshof kritisiert. Das sind die gleichen Manager*innen, die Tariflöhne für das Servicepersonal „nicht finanzierbar“ nennen.
Doch nicht nur innerhalb der Gewerkschaftsbürokratie besitzt die SPD eine Basis. Auch im Staatsapparat sitzen SPD-Mitglieder in wichtigen Positionen, wie in der Verwaltung. Und so wusste man bestimmt unlängst über die baldige Veröffentlichung Bescheid. Der Bericht des Landesrechnungshofs, der die hohen Management-Gehälter bei Vivantes kritisiert, hätte sicherlich zu einer weiteren Radikalisierung des Streiks geführt. Man wurde also gewarnt. Deshalb hat sich die Gewerkschaftsführung noch einmal extra Mühe gegeben, den Arbeitskampf endlich zu beenden. Eine weitere Eskalation des Streiks hätte womöglich unabsehbare Folgen gehabt. Auch hätte der skandalöse Bericht unter Umständen noch mehr Kolleg*innen dazu gebracht, dem Streik beizutreten. Die Gewerkschaftsbürokratie hatte schlichtweg Angst, endgültig die Kontrolle über den Streik zu verlieren.
Was nun?
Die große Schwäche des Streiks war das anfängliche Vertrauen in diese Gewerkschaftsbürokratie. Es ist auch für Gewerkschaftsmitglieder schwer zu glauben, dass die eigene Führung – die Vertreter*innen, die man mit seinen Mitgliedsbeiträgen bezahlt – den Arbeitskampf bremst. Man möchte erstmal glauben, dass es sich um Fehler handelt. Erst mit der Zeit wird deutlich, dass System dahinter steckt.
Die Antwort auf diese bürokratische, bremsende Führung des Streiks lautet: Streikdemokratie! An jedem Streiktag muss es Versammlungen geben, die die Situation des Kampfes diskutieren und alle wesentlichen Entscheidungen treffen. Beim VSG-Streik gab es auch fast jeden Tag Versammlungen. Die Dynamik manchmal eher bescheiden, mit wenigen Redebeiträgen – die Selbstorganisierung muss erst erlernt werden.
Die Vermutung liegt nah, dass der VSG-Streik erfolgreicher gewesen wäre, wenn es von Anfang an radikale Aktionsformen und eine selbstbewusste Basis gegeben hätte. Doch sowas entsteht nicht von einem Tag auf den anderen. Die Kolleg*innen brauchten einige Wochen, um diese Sachen in der Praxis zu lernen. Umso wichtiger ist es, dass diese Lehren jetzt nicht mit dem Ende des Streiks verloren gehen. Der Vorschlag an die Kolleg*innen der VSG lautet, sich als Botschafter*innen zu verstehen, beim nächsten Streik gegen Prekarisierung dabei zu sein und von ihren Erfahrungen zu berichten. So können sie dafür sorgen, dass die nächste Belegschaft, die diesen Kampf aufnimmt, möglichst gleich zum Streikauftakt eine Straße blockiert, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, und sich nicht von der Gewerkschaftsführung verraten und verkaufen lässt.
Schließlich hat, durch den Bericht des Landesrechnungshofs, ganz Berlin von den skandalösen Gehältern des Vivantes-Managements erfahren. Aber wahrscheinlich haben nur wenige von dem Abbruch des Streiks erfahren. Die Streikenden der VSG können ihre Version der Geschichte an Kolleg*innen weitergeben, die den Kampf ebenfalls aufgenommen haben.
Manche Kolleg*innen treten nun aus Frust aus der Gewerkschaft aus. Diesen Frust verstehen wir total – und halten diesen Schritt dennoch für einen großen Fehler. Unorganisiert ist es noch schwerer zu kämpfen als innerhalb einer bürokratisierten Gewerkschaft. Wir müssen uns in unabhängigen Basisgruppen in ver.di organisieren. Wir müssen die Kämpfe gegen Prekarisierung vernetzen. Wir müssen unsere Führungen zwingen, die Kämpfe bis zum Ende zu führen, statt auf faule Kompromisse zu setzen. Und wir müssen das Ziel haben, die Bürokratie von ver.di zu stürzen, und die Gewerkschaft so umzukrempeln, dass arbeitende Menschen selbst über ihre Arbeitskämpfe entscheiden. Schließlich sind wir selbst die „Expert*innen“ für unsere Arbeitsplätze: Wir wissen, was wir brauchen, und wir wissen auch, wie wir den Betrieb notfalls dafür lahmlegen können.
Dafür müssen wir die Gewerkschaften demokratisieren und auch innerhalb unserer eigenen Strukturen demokratische Standards durchsetzen. In dem Sinne halten wir es für einen Fehler, dass es keine Abstimmung über den Tarifvertrag gab. Dafür votierte die Tarifkommission, weil nicht genug Kolleg*innen an den Mitgliederversammlungen teilnahmen. Das ist eine gefährliche Logik. Denn es geht nicht nur darum, dass Menschen mit einem prekären Job im Schichtbetrieb große Schwierigkeiten haben können, an solchen Treffen teilzunehmen. Vor allem hat die Bürokratie in den letzten Monaten immer wieder gezeigt, dass sie im Zweifelsfall die Beschlüsse der Mitglieder ignoriert. Deswegen ist eine Skepsis gegenüber solchen Versammlungen verständlich. Doch dem ist nur zu begegnen, in dem Aktivist*innen der Basis (auch der Tarifkommission) sehr beharrlich für demokratische Prinzipien eintreten. Eine Abstimmung wegen geringem Interesse abzusagen, bringt einen Teufelskreis mit sich – nächstes Mal gibt es dann noch weniger Interesse.
Der VSG-Streik war ein halber Erfolg. Es gab vorher keinen Tarifvertrag bei der VSG. Der Streik hat zwar das ursprüngliche Ziel verfehlt, jedoch haben die Kolleg*innen auch vieles gewonnen. Einerseits mehr Lohn in den Taschen, aber eben auch eine wertvolle Streikerfahrung, von der Beschäftigte überall noch lernen können. Aber es war eben auch eine halbe Niederlage. Die Gewerkschaftsbürokratie hat verhindert, dass wirklich gleicher Lohn für gleiche Arbeit erkämpft wurde. Die Lehre daraus ist, dass wir eine starke Organisierung der Basismitglieder der Gewerkschaft brauchen. Wir von Klasse Gegen Klasse wollen diese Organisierung mit unserer ganzen Kraft unterstützen.