Vorgezogene Wahlen in Griechenland
// Zwischen den Erwartungen der WählerInnen und der „realistischen“ Wende von SYRIZA //
Am 29. Dezember war das Theater Keramikos in Athen restlos voll. Alexis Tsipras, SYRIZA-Vorsitzender und Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten, sprach anlässlich der Auflösung des griechischen Parlaments und der Einberufung vorgezogener Parlamentswahlen am 25. Januar. Die Menschenmassen vor dem Theater zeigen zwar, dass seine Bewegung Aufwind hat und bei der nächsten Abstimmung als stärkste Kraft hervorgehen dürfte. Tsipras‘ Rede dagegen zeigt, wie sich das reformistische und keynesianistische Programm von SYRIZA entwickelt hat und immer mehr an Schärfe verliert, während sich Griechenland immer weiter in der Schlinge zwischen von Krise und Troika aus EU, EZB und IWF befindet. In den linken Teilen der Linken gibt es viele, die ausder von Tsipras verteidigten „Anti-Austeritäts-Politik“ einen Weg zu einem antikapitalistischen Bruch mit dem System gemacht haben. Leider ist fast sicher, dass nach den Wahlen genau das Gegenteil geschehen wird, trotz aller Erwartungen der Arbeiterinnen- und Jugendbasis von SYRIZA enttäuscht werden.
Der Bluff von Samaras und den ImperialistInnen
Im griechischen Fernsehen wiederholen sie sich pausenlos: Ministerpräsident, Antonis Samaras (Neue Demokratie, Konservative) und die mitregierenden SozialdemokratInnen der PASOK behaupten Mal um Mal, SYRIZA werde das Land ins Chaos führen.Das ist nichts weiter als ein politisches Manöver, unterstützt durch EU-KommissarInnen wie Pierre Moscovici (ehem. franz. Finanzminster), die SYRIZAs Umfrageerfolge hemmen wollen. Die letzte Erpressung kam von Bundeskanzlerin Merkel, wie der Spiegel Online wissen möchte: „Die Bundesregierung hält ein Ausscheiden des Landes für nahezu unausweichlich, wenn Oppositionsführer Alexis Tsipras nach den Neuwahlen die Regierung übernimmt, den Sparkurs aufgibt und die Schulden des Landes nicht mehr bedient.“ Die deutsche Regierung dementierte zwar umgehend, doch der mediale Druck intensiviert den ohnehin stattfindenden Nervenkrieg in Griechenland.
Dieser Druck von SpekulantInnen aller Art, die die europäischen Börsen in den letzten Tage erschüttert haben, ist skandalös. Aber aus Brüssel sowie von den scharfsinnigeren Teilen der griechischen Bourgeoisie ist eine andere Tonlage zu hören: Der Wirtschaftsterror, der an den Kursen der griechischen Börse abzulesen ist, kann zwar den Sieg SYRIZAs vielleicht nicht mehr verhindern, soll die Partei aber zumindest zu einer moderaten Regierungsführung zwingen. Die EU-Kommission bereitet sich nach Angaben mehrerer hoher EU-FunktionärInnen auf eine Regierung unter SYRIZA vor – besonders zumal Tsipras die revolutionäre Rhetorik aufgegeben hat, die er noch vor zwei Jahren für die Parlamentswahlen pflegte.
Für Paris und Berlin ist Athen tatsächlich, wie es die selben europäischen DiplomatInnen unterstreichen, keine Ansteckungsherd der Krise mehr, sondern nur noch eine einfache „Anomalie innerhalb der Europäischen Union. Mit einer Regierung, auch mit einer linken Regierung, wäre es absolut möglich zu diskutieren.“ Laut Financial Times „ist ein solches Szenario kein wirkliches Tabu mehr“ und „die politische Krise in Griechenland, die vor drei Jahren die gemeinsame Währung zusammenbrechen ließ, wird heute keine Bedrohung für die Existenz der Euro-Zone darstellen können.“
Hier ist noch hinzuzufügen, dass ihre möglichen KoalitionspartnerInnen einen Druck nach rechts auf SYRIZA ausüben könnten. Denn auch wenn das griechische Wahlsystem der obsiegenden Partei eine Prämie von 50 Parlamentssitzen zuspricht, um eine Regierungsbildung zu erleichtern, werden die in der letzten Umfrage Palamos vom 28. Dezember vorhergesagten 35 Prozent für SYRIZA nicht zur Alleinregierung ausreichen. Daher rühren die begonnenen Diskussionen in der Linken mit Dimar (bei dem fraglich ist, ob er die für den Parlamentseinzug nötige 3-Prozent-Hürde überspringt), aber auch mit den „Unabhängigen Griechen“ (Anel) von rechts, ebenso wie mit den bis vor kurzem noch mit PASOK verbundenen Personen, die heute hoffen, mit Brüssel das neu zu verhandeln, was sie damals entweder unter der Regierung Papademos oder der Regierung Samaras ohne Probleme mit umgesetzt haben.
Tsipras‘ Verhandlungslösung
SYRIZA wird seine Abgeordneten in eine Koalition treiben, die sie zu tausenden giftigen Kompromissen zwingt: „Heute ist eine historischer Tag“, verkündete Tsipras am 29. Dezember. „Die Zukunft hat gerade erst begonnen und dank des Votums der Griechen werden wir bald auch das Wort Austerität aus unserem Wortschatz streichen können.“
Neben dieser Prahlerei und flankierenden Drohungen – darunter die Offenlegung aller Beziehungen zwischen Samaras, seinem Wirtschaftsminister Venizelos und der Troika – sei eine Sache für Tsipras nicht verhandelbar: Die Ablehnung des letzten Schulden-Memorandums, das von der Troika ausgehandelt wurde. Sollte SYRIZA die Wahl gewinnen, werde das Sparprogramm in Höhe von 2 Milliarden Euro (eingeführt von Samaras selbst), für das eine Hilfszahlung von 7 Milliarden vereinbart wurde, abgelehnt.
Wie es Stathis Kouvélakis, Mitglied des Zentralkomitees von SYRIZA, zugibt, „hat Tsipras eine große Anstrengung gemacht, um als glaubhafter Staatsmann auftreten zu können. Seine Auslandsreisen, bei denen er manchmal SYRIZA-feindliche Orte besucht, zielen darauf ab, in der öffentlichen Meinung das Bild eines Staatslenkers abzugeben, und das obwohl er eine Partei repräsentiert, die vor fünf Jahre nur eine marginale Rolle spielte.“
Ein Austritt aus dem Euro steht nicht zur Debatte, hat Tsipras am 29. Dezember nochmals klargestellt, ebenso wie er „einseitige Entscheidungen“ verwirft. Die DiskussionspartnerInnen dafür aber sind die Geier, die Griechenland während der Krise ins Verderben gestürzt haben. Diese Geier bereiten sich nun auf eine etwas mühseligere Verhandlung als sonst in Athen vor und erhöhen entsprechend den Druck. Die Rating-Agentur Fitch hat die Kreditwürdigkeit Griechenlands zurückgestuft, betonend, „dass die Verhandlungen komplizierter und länger werden, aber alles in allem zuversichtlich, dass sie zielführend sein werden.“
Der zweite Programmpunkt der von SYRIZA vertretenen Wirtschaftspolitik besteht in einem „Haircut“, dem sich in den letzten Tagen Bloomberg und mehrere konservative europäische Medien angeschlossen haben. Die Idee ist, die griechischen Staatsschulden, die 170 Prozent des BIP betragen, neu zu verhandeln, um den GeldgeberInnen zumindest eine Teilzahlung der Schulden (ohne Rechnungsprüfung) zu gewähren. Damit wären sowohl die Geldgierigeren als auch die Scharfsinnigeren befriedigt. Das soziale Programm Tsipras‘ besteht in einer Anhebung des Mindestlohns auf das Niveau vor der Krise und der Schaffung von 300.000 neuen Arbeitsplätzen, die durch einen ernsteren Kampf gegen die Steuerflucht, die 25 Prozent des BIP ausmacht (Restliches Europa: 10 Prozent), finanziert werden sollen.
Wie es ein anderer Syriza nahestehender Intellektueller, Costas Lapavitsas, sagt: „Es ist nichts Radikales und noch weniger Revolutionäres an dieser Politik. Sie steht für einen bescheidenen gemeinschaftlichen Sinn. Es besteht so gut wie kein Zweifel daran, dass es sich bei den führenden Figuren um überzeugte Europäer handelt, die wirklich an ihren Beitrag glauben, die EU von innen zu verändern.“
Die Risiken eines Scheiterns der linken Regierung
Man erinnert sich an die Wahlen von 2009, bei denen Geroges Papandreou den GriechInnen das Blaue vom Himmel versprochen hatte, vor allem „eine echte linke Politik“. Alles nur, um danach unter dem Druck der EU, der Bourgeoisie und der griechischen Rechten zurückzurudern. In der Zwischenzeit haben die SozialdemokratInnen viel getan, um die sozialen Bewegungen zu verwirren, vor allem durch ihre gewerkschaftlichen VermittlerInnen.
Das Risiko der Stunde besteht nicht nur darin, dass SYRIZA ihre soziale Basis an den Parlamentarismus verkauft, dass sie ihre Versprechen von 2012 der Realpolitik opfert. Wenn sich keine starke Opposition mit Klassenperspektive gegen die zu erwartende Regierung organisiert, besteht auch die Gefahr, dass eine als Systemgegnerin wahrgenommene extreme Rechte die Wut aufsaugt. Tatsächlich, um eine jüngst veröffentliche Analyse von Perry Anderson aufzugreifen, „stehen Podemos und Syriza für weniger radikale Positionen als die gegen das System gerichtete Rechte.“
Revolutionäre MarxistInnen müssen deshalb in Anbetracht der durch einen wahrscheinlichen Sieg von SYRIZA hohen Erwartungen der ArbeiterInnenklasse und der Jugend stets daran erinnern, dass nur Mobilisierungen und Massenaktionen vom ersten Tag der neuen Regierung an die Erfüllung dieser Erwartungen bringen kann, nicht die Parlamentsmehrheit einer linken Regierung. Es kann kein Vertrauen in eine Politik der Klassenkollaboration geben, für die eine unter SYRIZA geführte Regierung alle Vorbereitungen treffen wird. Das einzige Vertrauen besteht in die Möglichkeiten der ArbeiterInnenorganisationen in Stadt und Land, der Studierenden und der griechischen Jugend.
In diesem Sinne müssen revolutionäre MarxistInnen dazu aufrufen, eine antikapitalistische und revolutionäre Alternative auf Klassenstandpunkt und unabhängig vom Reformismus zu stärken. Nur sie kann eine „Hoffnung“ verkörpern.
Dieser Artikel erschien zuerst am 2. Januar 2015 im Original auf Französisch.