Vorabdruck: Vorwort von Andrea D’Atri zur deutschen Ausgabe von „Brot und Rosen“
Am Samstag, den 23. Februar, wird das Buch „Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus“ der sozialistischen Feministin Andrea D'Atri erstmals einem deutschen Publikum vorgestellt. Als Vorgeschmack veröffentlichen wir hier das Vorwort der Autorin zur deutschen Übersetzung, geschrieben am 101. Jahrestag der Russischen Revolution.
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Stehen wir vor einer neuen Welle des Feminismus? Je nachdem, welche Klassifizierung wir anwenden, können wir von einer dritten oder vierten Welle sprechen (1). Aber unabhängig von dieser akademischen Debatte kann niemand bestreiten, dass wir einen neuen Aufstieg des Feminismus erleben, der in verschiedenen Erscheinungsformen die westliche Welt durchzieht. Er reicht von den Mobilisierungen für #NiUnaMenos (Nicht eine weniger) gegen sexistische Gewalt in Argentinien bis zur massiven #MeToo-Kampagne in den USA, die die sozialen Medien eroberte und in der Filmindustrie einschlug; von den Streiks der Frauen in Island und Frankreich gegen den Gender Pay Gap oder gegen die Einschränkung des Abtreibungsrechts in Polen bis zu den Millionen Frauen, die im Spanischen Staat auf die Straße gehen und die patriarchale Justiz verurteilen.
Frauen waren auch die Protagonistinnen der enormen Mobilisierungen gegen Trump kurz nach seiner Wahl zum US-Präsidenten. Und bei den Zwischenwahlen in den USA wurden vor kurzem so viele junge Latinas, indigene Frauen und Musliminnen ins Repräsentantenhaus gewählt wie nie zuvor. Zu Tausenden demonstrierten Frauen unter der Losung #EleNão (Er nicht), bevor der rechte Kandidat Jair Bolsonaro in Brasilien die Präsidentschaftswahlen gewann, und führten in Argentinien den großen Kampf für das Recht auf Abtreibung an, mit ihren grünen Halstüchern, die zum universellen Zeichen dieser Forderung geworden sind.
Diese neue Welle des Feminismus senkte die „Toleranzschwelle für den Machismus“. Dies zeigt sich im vermehrten Publikmachen – auch in sozialen Netzwerken – von sexueller Belästigung bis hin zu Debatten über geschlechtergerechte Sprache (2). Zeitschriften drucken Artikel über den Eintritt von Frauen in Arbeitsbereiche, die bisher überwiegend männlich geprägt waren. Parlamente diskutieren über Gesetze zur Gleichstellung oder zur Ausweitung von Frauenquoten in einer Zeit, in der zum ersten Mal mehrere Länder gleichzeitig von Frauen geführt werden, Frauen mächtige Armeen befehligen und große Unternehmen, Konzerne und internationale Finanzinstitutionen leiten. Ein Verkaufsboom macht die Bücher von akademischen, antikapitalistischen Feministinnen ebenso bekannt wie von Postfeministinnen, die ausgehend von ihren individuellen Erfahrungen die queer theories entwickeln. Das Kino, das Fernsehen und die neuen Unterhaltungsplattformen sind voller Filme, Programme und Serien mit starken, mutigen, selbständigen und rebellischen Protagonistinnen.
Die neue Welle des Feminismus schreitet voran in der Neudefinition der Realität und untergräbt dabei vorherrschende kulturelle Normen. Sie versucht in gewisser Weise, eine reformistische und politische Agenda der Gleichstellung durchzusetzen.
Der Aufstieg scheint sozusagen „gegen den Strom“ stattzufinden, denn diese Welle gewinnt zu einem Zeitpunkt an Schwung, da sich die Krise der bürgerlich-demokratischen Regime – vor allem im Herzen des US-amerikanischen Imperialismus – als Resultat der Rezession von 2008 und mit dem Ende des neoliberalen Konsenses verschärft. Während die herrschende Klasse auf diese Krise mit cäsaristischen (3) Regierungen wie der von Trump oder Bolsonaro antwortet, stehen wieder Handelskriege und Konflikte zwischen den Großmächten auf der Agenda. Aber wir beobachten nicht nur den Vormarsch einer in den verschiedenen Ländern durchaus heterogenen Rechten. Sondern wir sehen das wichtigere Phänomen der Auflösung der politischen Mitte und der traditionellen Parteien inmitten einer Tendenz zur politischen und sozialen Polarisierung.
Welche Bedeutung haben in diesem internationalen Rahmen die massiven Mobilisierungen der Frauen und das Wiedererstarken des Feminismus? Sind es möglicherweise die Frauen, die den Beginn eines neuen Zyklus der Radikalisierung der Massen und des Klassenkampfs einläuten?
Seit Ende des 19. Jahrhunderts nahm die Konzentration und Zentralisation des Kapitals zu und die Herrschaft der Monopole wuchs. Die alten Mächte hatten die Welt unter sich aufgeteilt, doch es strebten neue empor, die eine Neuordnung der kolonialen Herrschaft erzwangen. Die Verschärfung der Widersprüche zwischen den Mächten führte oft zu Krieg; aber die imperialistische Schlächterei war auch Geburtshelferin wichtiger revolutionärer Prozesse.
Die deutsche Sozialistin Clara Zetkin wies darauf hin, dass die Frauen in den Kämpfen, die sich durch den Weltkrieg ankündigten, einen herausragenden Platz einnehmen würden: Die Kundgebungen, Fabriksabotagen, Plünderungen von Lebensmittelläden wurden angeführt von Frauen, deren Kinder, Väter und Ehemänner an der Kriegsfront kämpften und starben. In diesem Kontext gab es einen scharfen Gegensatz zwischen der Einbeziehung der Frauen in die produktive Arbeit – selbst in Bereichen, die bis dahin ausschließlich Männern vorbehalten waren – und ihren fehlenden politischen Rechten.
Die relative Gleichstellung mit den Männern auf dem Arbeitsmarkt stand in krassem Widerspruch zu der Ungleichheit vor dem Gesetz, der sie unterlagen. So entstand die Forderung nach dem Wahlrecht für Frauen. Die Situation war einerseits von der sozialistischen Revolution in Russland beeinflusst, für die die Arbeiterinnen der zündende Funke waren. Andererseits ließen sich die bekanntesten Sektoren der Bewegung für das Frauenwahlrecht in Großbritannien in die Verteidigung der Nation einspannen und die internationalen Verbindungen der Bewegung zerbrachen (4).
Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre entstand die Zweite Welle des Feminismus und stellte den Mythos des patriarchalen Kapitalismus infrage, dem zufolge das Öffentliche und das Private getrennte Sphären seien. Sie ging mit einem langen Jahrzehnt der Radikalisierung der Massen einher, mit dem Entstehen der sogenannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ wie der Studierenden- und Jugendbewegung, der sexuellen Revolution und der Black Power-Bewegung. Mit dem Vietnamkrieg, dem weitverbreiteten antiimperialistischen Empfinden und der Anti-Kriegs-Stimmung, die eine ganze Generation erfasste, sah der US-amerikanische Imperialismus seine hegemoniale Stellung gefährdet. Seine Offensive geriet ins Stocken, und seine Niederlage in Südostasien ermutigte die Befreiungskämpfe der kolonialisierten Völker wie auch die Kämpfe der Arbeiter*innenklasse und der Studierendenbewegung in der westlichen Hemisphäre. Gleichzeitig trugen die Massenaufstände in Osteuropa gegen politische und militärische Interventionen seitens der damaligen Sowjetunion zur Hinterfragung der Weltordnung bei.
Der Kapitalismus erlebte daraufhin eine neuerliche wirtschaftliche, soziale und politische Krise. Aber die herrschenden Klassen antworteten auf diesen revolutionären Aufschwung nicht mehr mit einem Weltkrieg, sondern mit der Ausweitung und Verstärkung der demokratischen kapitalistischen Regime. Dies erforderte die Zusammenarbeit mit den politischen und gewerkschaftlichen Führungen, die sich mit Pauken und Trompeten an die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung machten und damit ihre Basis verrieten. Während die Mittelschicht und ein kleiner Sektor der lohnabhängigen Massen in das Konsumfest integriert wurden, versank die große Mehrheit in Armut, die nie dagewesene Ausmaße erreichte.
Die Preisgabe jeglicher revolutionärer Perspektive führte zu der Vorstellung, dass der Neoliberalismus alternativlos sei. Die sozialen Bewegungen wie der Feminismus wurden zu großen Teilen ebenfalls in die kapitalistischen Demokratien integriert. Einige Jahrzehnte lang eroberten die Frauen neue Rechte, während sie gleichzeitig die große Mehrheit der Prekarisierten, Migrant*innen, Armen und Ausgebeuteten darstellten (5).
Unter der Peitsche des Kapitals traten die Frauen in den Arbeitsmarkt ein und wurden zu dem Sektor, der am stärksten ausgebeutet wird und unter den schlechtesten Bedingungen lebt und arbeitet. Jedoch veränderten sie damit das Gesicht der Arbeiter*innenklasse für immer. Heute stellen sie ungefähr 50 Prozent der weltweiten Arbeitskraft. Allein das fordert die alten gewerkschaftlichen Organisationen heraus, ebenso wie die Regierungen und Regime. Und diese soziale Kraft entwickelt sich in Gesellschaften, in denen die Geschlechter formell gleichgestellt sind; zumindest um einiges gleicher als zur Zeit der Ersten Welle des Feminismus. Es gibt heute nicht nur sehr viel weniger juristische Hürden für Frauen, es besteht auch die weitverbreitete Auffassung, dass Frauen Männern „nicht unterlegen“ sind.
Durch die Integration von Frauen in die Institutionen des Regimes und die Schaffung einer Geschlechtertechnokratie, die Teil der Verwaltung des kapitalistischen Staates ist, oder durch den alternativen Weg eines Postfeminismus, der die liberale These der „Wahlfreiheit“ des Individuums betont, wurde in den letzten Jahrzehnten die Illusion erschaffen, dass die Frauen den Feminismus nicht mehr bräuchten. Oder anders gesagt, dass der Kampf für ihre Rechte veraltet sei.
Dennoch tritt der Kontrast zwischen der „Gleichheit vor dem Gesetz“ und der fortbestehenden „Ungleichheit im Leben“ heute erneut zutage. Femizide und andere Formen der Gewalt gegen Frauen durchziehen weiterhin alle Klassen und Länder. Prekarisierung betrifft Frauen nicht nur bei der Arbeit, sondern durchdringt jeden Aspekt ihres Lebens. Die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen hat sich in eine millionenschwere Industrie verwandelt, auch wenn eine kleine Minderheit die Ausübung der Prostitution als eine frei gewählte Arbeit verteidigt. Auch wenn Frauen für Lohn arbeiten, ist es ihnen nicht gelungen, sich von der patriarchal oktroyierten Verantwortung für die Reproduktionsarbeit, d.h. die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit, zu befreien.
In diesen Widersprüchen können wir die Ursprünge für die neue internationale Welle der Frauenbewegung finden, die nicht zufällig die Sprache und die Formen der historischen Arbeiter*innenbewegung aufgreift, um ihren Kampf gegen das Kapital zu benennen: internationaler Frauenstreik. Dies ist logisch, wenn wir bedenken, dass die Hälfte der Klasse der Lohnarbeiter*innen Frauen sind und sie die Mehrheit in einigen Sektoren stellen, die wie der Dienstleistungssektor zuletzt außerordentlich gewachsen sind. Durch diese Millionen Frauen wurde am 8. März 2018, dem Internationalen Frauenkampftag, der Slogan populär: „Wenn unsere Leben nichts wert sind, dann produziert doch ohne uns.“
Weiter oben fragten wir, welche politische Bedeutung die massiven Mobilisierungen von Frauen und das zu beobachtende Wiederaufleben des Feminismus haben. Und ob diese neue Welle des Feminismus den Beginn eines neuen Prozesses der Radikalisierung der Massen und des Klassenkampfs ankündigt.
Derzeit versuchen reformistische und andere gemäßigte Strömungen, diese Welle zugunsten der Parteien des Regimes und gegen die politische Rechte zu kanalisieren. Diese Politik des bürgerlichen Regimes, die verhindern soll, dass der Feminismus eine Perspektive aufzeigt, die das Regime insgesamt in Frage stellt und die Grenzen des patriarchalen Kapitalismus überwindet, ist heterogen. Angefangen von der „Arbeiterpartei“ (PT) Brasiliens, die die große Mobilisierung der Frauen gegen Bolsonaro in eine unkritische Unterstützung für ihren Kandidaten Fernando Haddad umlenken wollte; über die imperialistische Demokratische Partei in den USA, die bei den kürzlich stattgefundenen Zwischenwahlen Kandidaturen von Latinas, Muslimas, indigenen Frauen und lesbischen Frauen gefördert hat; bis hin zur argentinischen Ex-Präsidentin Cristina Kirchner, die derzeit die Opposition zur neoliberalen Regierung von Mauricio Macri anführt und der Frauenbewegung als einzig tragbare Option bei den nächsten Wahlen präsentiert wird.
Das Ergebnis können wir nicht vorhersehen. Die schönste Herausforderung liegt darin, dass die Geschichte uns die Möglichkeit schenkt, Einfluss auf ein lebendiges historisches, politisches, soziales und ideologisches Phänomen zu nehmen. Die radikalsten antikapitalistischen und kämpferischen Tendenzen gegen den Einfluss des Reformismus weiterzuentwickeln, um mit den breiten ausgebeuteten Massen zusammenzuströmen: Das ist die Perspektive, für die wir sozialistische Feministinnen der internationalen Strömung Pan y Rosas (Brot und Rosen) kämpfen. Denn eine Gesellschaft, die befreit ist von allen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung, denen die Menschheit heute in ihrer übergroßen Mehrheit unterworfen sind, ist kein Wunsch, sondern eine dringende Notwendigkeit, damit das Leben lebenswert wird.
Andrea D’Atri
Buenos Aires, 7. November 2018
101. Jahrestag der Russischen Revolution
Fußnoten
(1) Die feministischen Studien in Kontinentaleuropa verorten die Erste Welle in der Zeit der Aufklärung Mitte des 18. Jahrhunderts, während sie aus der Perspektive angelsächsischer Studien mit der Bewegung für das Frauenwahlrecht Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt. Die Dritte oder Zweite Welle wäre dann, je nach theoretischem Rahmen, in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachten.
(2) Im Spanischen [wie auch im Deutschen, A. d. Ü.] wird die etablierte Nutzung des männlichen Plurals für Substantive hinterfragt, um sowohl männliche als auch weibliche Individuen zu bezeichnen.
(3) A. d. Ü.: Cäsarismus ist ein Begriff des italienischen Kommunisten ntonio Gramsci für die autoritäre, auf Einzelpersonen gestützte Herrschaft in zugespitzten Klassenkampfsituationen.
(4) Dies wird in Kapitel IV ausgeführt.
(5) Dies wird in Kapitel VII ausgeführt.
Andrea D’Atri: Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus. Deutsch von Lilly Schön. Hamburg: Argument, Februar 2019. Ca. 250 S., broschiert, 15€.
© Armas de la Crítica (2004), Ediciones IPS (2013)
Deutsche Erstausgabe: © Argument Verlag 2019 (www.argument.de)
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