Vor einem kämpferischen Frühling der Arbeiter*innenklasse?

19.04.2016, Lesezeit 9 Min.
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[© Dietrich Hackenberg - www.lichtbild.org, Nutzung nur gegen Honorar, Urhebervermerk und Belegexemplar]

Immer mehr Streikprozesse brechen sich Bahn in der „Streikrepublik“ Deutschland. Ob Amazon, Real, Botanischer Garten oder Vivantes – überall wird gegen Befristung, Tarifflucht oder Outsourcing gekämpft. Befinden wir uns auf den Spuren der Streikwelle des vergangenen Jahres?

Die Kassiererin von nebenan mal nicht im Supermarkt treffen, sondern mit einer Streikweste auf der Straße: Das passierte den Mieter*innen in Berlin-Neukölln am vergangenen 7. April, als ver.di zu einem neuen Warnstreik bei Real aufgerufen hat.

Am selben Tag streikten auch Amazon-Arbeiter*innen aus sechs Standorten anlässlich des Weltgesundheitstages. Sie kritisieren, dass die schlechten Arbeitsbedingungen bei dem multinationalen Konzern die Gesundheit der Beschäftigten gefährden.

Tarifflucht: Hässliches Gesicht des deutschen Arbeitsmarktes

Auf den ersten Blick könnten einem viele Unterschiede ins Auge stechen. Doch beide Unternehmen, der Online-Riese Amazon und die der Metro-Gruppe zugehörige Supermarktkette Real, wenden die gleiche Praxis an, um ihre Profite auf Kosten der Arbeiter*innen zu vergrößern: Tarifflucht.

Schon Anfang März hatte es bei Real zwei Warnstreiks gegeben, an denen sich Tausende Beschäftigte aus dem ganzen Bundesgebiet beteiligten. Mit massiven Kürzungen bei Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Nachtzuschlägen und einem Stopp der Tariferhöhungen bis 2017 will Real satte 400 Millionen Euro sparen. Dazu kommen noch Schließungen von bis zu 17 Filialen wie am Berliner Gesundbrunnen.

Den Austritt aus den Flächentarifvertrag begründet die Metro-Tochter damit, dass fast die Hälfte aller Lebensmittelkonzerne nicht nach Tarifvertrag zahlen. Während drei der zehn reichsten deutschen Unternehmer*innen in der Lebensmittelbranche ansässig sind, bleiben für die Beschäftigten nur noch Hungerlöhne und Prekarisierung übrig.

Bei Amazon kämpfen die Kolleg*innen schon seit mehr als drei Jahren für einen Tarifvertrag und das Ende von Befristung und gewerkschaftsfeindlichen Praktiken. Immer wieder beweisen sie große Kampfkraft, wie zuletzt vor Ostern, wo an sechs Standorten mehrtägige Streiks stattfanden. Auch international weitet sich der Kampf aus und die Arbeiter*innen vernetzen sich immer besser auch mit anderen kämpferischen Sektoren.

Doch dem Unternehmen ist nichts zu teuer, kein Mittel zu schäbig, um die Auswirkungen der Streiks – die enorm sind – für die Kund*innen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Erst vor kurzem erzwang Amazon am Arbeitsgericht Berlin, dass streikende Arbeiter*innen ihre Kundgebungen nicht auf dem Betriebsgelände abhalten können. Wieder einmal zeigt sich, auf welcher Seite die „unabhängige“ Justiz steht.

Dabei sind Real und Amazon kein Einzelfall: Im Gegenteil ist die Tarifflucht ein Kernelement der zunehmenden Prekarisierung, unter der große Teile der Arbeiter*innenklasse – besonders ihre jungen, weiblichen und migrantischen Teile –, zu leiden haben. In den letzten 20 Jahren halbierte sich der Anteil der nach Tarifvertrag zahlenden Unternehmen fast von 60 auf 35 Prozent. Das hatte ein Wachstum des Niedriglohnsektors zufolge: Die Löhne der unteren 20 Prozent nahmen im selben Zeitraum um zwei Prozentpunkte ab.

Deshalb sind diese Kämpfe emblematisch für eine wachsende Unzufriedenheit mit dem Akkumulationsmodell, das die deutsche Bourgeoisie durch die Agenda 2010 etablierte. Sie sind Ausdruck einer Arbeiter*innenklasse, die sich gegen die Prekarisierung zu wehren und organisieren beginnt.

Tarifrunden: Funktioniert die Sozialpartnerschaft doch noch?

Ebenfalls am 7. April gab es einen Streik- und Mobilisierungstag im Rahmen der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst. Auch wenn der Streikaufruf nicht flächendeckend war, und sich die Gewerkschaftsführungen bemühten, den partiellen Charakter der Mobilisierung zu betonen, kamen in ganz Deutschland mehr als 10.000 Arbeiter*innen zu Kundgebungen und Demonstrationen auf die Straße. Und schon am Vortag nahmen fast 5.000 Beschäftigte an Warnstreiks in Nordrhein-Westfalen teil.

Die Gewerkschaften fordern für die mehr als zwei Millionen Arbeiter*innen Lohnerhöhungen von sechs Prozent und eine betriebliche Altersvorsorge. Auch wenn die Kommunen im vergangenen Jahr 3,2 Milliarden Euro Gewinn machten, lehnen sie diese Forderungen rundherum ab: Auch am folgenden Montag gab es anlässlich einer neuen Verhandlungsrunde Kundgebungen in mehreren Städten.

Schon im vergangenen Jahr gab es große Warnstreiks anlässlich der Tarifrunde. Doch aus den geforderten 5,5 Prozent wurde weniger als die Hälfte. Die Streikführung der Gewerkschaftsbosse deutet darauf hin, dass die Handbremse angezogen bleibt – eine große Gefahr, die ein zufriedenstellendes Ergebnis verhindern könnte.

Doch nicht nur im Öffentlichen Dienst, auch in der Metall- und Elektrobranche drohen Streiktage – die Tarifrunde der IG-Metall steht vor der Tür. Sie fordert zwar mit fünf Prozent die geringste Erhöhung seit Jahrzehnten, doch kündigte die Gewerkschaftsführung an, eine neue Streiktaktik anzuwenden: Sie soll das Gewicht in die Betriebe zurück verlagern und mit eintägigen Warnstreiks echten Schaden anrichten. Am 29. April endet die Friedenspflicht und Warnstreiks sind möglich.

Wie schon oben beschrieben, werden die massiven Tarifrunden mit Millionen gleichzeitig betroffener Arbeiter*innen, wie im Öffentlichen Dienst oder der Metall- und Elektroindustrie immer mehr zur Ausnahme. Diese Entwicklung ist ein Ausdruck eines Prozesses, den wir als Verengung der Sozialpartnerschaft auf Kosten der Arbeiter*innen definiert haben. Denn selbst hier fällt es der Bürokratie immer schwerer, für die Belegschaft akzeptable Ergebnisse zu erzielen, ohne auf Mobilisierungen zurückzugreifen.

Berlin, Hauptstadt der Prekarisierung… und des Widerstands?

Berlin gilt als Hauptstadt der Niedriglöhne und schlechten Arbeitsbedingungen. Doch nicht nur in der Privatwirtschaft werden Werkverträge vergeben und Löhne gedrückt. Der Berliner Senat hat es sich zur Aufgabe gesetzt, möglichst viel Geld einzusparen und setzt dabei auf Tarifflucht, Outsourcing und gewerkschaftsfeindliche Praktiken.

Im Botanischen Garten kämpfen die Beschäftigten der „Betriebsgesellschaft Botanischer Garten und Botanisches Museum“, einer Tochtergesellschaft der Freien Universität, für die Eingliederung in den Tarifvertrag für Landesbeschäftigte (TV-L), mit dem sie monatlich mehrere hundert Euro mehr verdienen würden. Schon zwei Warnstreiks und zahlreiche Aktionen gemeinsam mit solidarischen Student*innen fanden statt. Die Geschäftsleitung geht in ihrer aggressiv arbeiter*innenfeindlichen Politik soweit, Reinigungskräfte frei- und zusätzliche Reinigungskräfte mit Werkverträgen einzustellen. Um Widerstand zu bestrafen und entlassen zu können, sind sie sogar bereit, doppelt zu zahlen.

Am vergangenen Dienstag und Mittwoch gab es zudem erste Warnstreiks bei den Vivantes-Krankenhäusern in Berlin. Auch hier stellen sich die Arbeiter*innen gegen Outsourcing und für einen Tarifvertrag für rund 250 Beschäftigte, die von einer Tochtergesellschaft von Vivantes angestellt sind.

Die Liste der Fälle ließe sich noch weiter führen. Die Berliner Lehrer*innen spüren die Kürzungswut des Berliner Senats, der die Lehrer*innenzimmer durch unterschiedliche Löhne und Privilegien spaltet. Nach mehreren gescheiterten Warnstreikwellen verließen die angestellten Lehrer*innen Anfang des Jahres wieder zweimal die Schulen und zeigten ihre Kampfbereitschaft. An der Basis wird die Forderung nach weiteren, auch mehrtägigen, Streiks laut.

Auch an der Charité herrscht großer Unmut darüber, dass die Geschäftsleitung nach den Streiks im letzten Sommer immer noch keine Veränderungen vornimmt. Während die Gewerkschaft die Arbeiter*innen auf die Abgeordnetenhauswahlen verweist, wollen diese weitere Aktionen sehen.

Neben diesen Angriffen auf die Arbeitsbedingungen und die gewerkschaftliche Organisierung gibt es eine Reihe von Großbetrieben, die massive Entlassungen angekündigt haben: Bombardier mit 7.000 und die Deutsche Bahn mit 2.100 Arbeitsplätzen sind nur zwei besonders gravierende Beispiele.

Auf den Spuren der Streikwelle

Im vergangenen Jahr erschütterte eine ganze Welle von Streiks die Bundesrepublik. Von der Deutschen Post, über die Charité, die Deutsche Bahn, den Sozial- und Erziehungsdienst bis hin zu Amazon und der Lufthansa – in zahlreichen Branchen wurde gestreikt. Diese Streikwelle zeichnete sich nicht nur durch ihre Massivität aus – seit mehr als 25 Jahren wurde nicht mehr so häufig gestreikt, immer wieder waren zehntausende Beschäftigte im Ausstand.

Sie brachte auch fortschrittliche Phänomene an die Oberfläche. Darunter lässt sich die von unten kommende Verbindung der Streiks nennen, die Elemente der Streikdemokratie wie beim Sozial- und Erziehungsdienst sowie an der Charité, sowie die Kampfkraft der Arbeiter*innen mit 420 bestreikten Stunden der GDL-Beschäftigten, die Teile der Industrie lahmlegte und die gesamte bürgerliche Öffentlichkeit gegen sie wandte.

Die Kämpfe, besonders die bei der Deutschen Bahn, der Deutschen Post und im Sozial- und Erziehungsdienst, hatten allesamt exemplarischen Charakter und richteten sich gegen Grundfesten des Ausbeutungsmodells in der BRD. Damit hätten sie mit einem Sieg das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital zugunsten der Werktätigen verschoben.

Aufgrund der verräterischen Rolle der Gewerkschaftsbürokratien, die die Arbeiter*innen zurückhielten und hinter ihrem Rücken verhandelten, endeten die meisten Streiks in Niederlagen oder Teilniederlagen. Deshalb konnte die überwiegende Mehrheit der Arbeiter*innen keine fortschrittlichen Schlussfolgerungen ziehen oder glitt sogar in die Passivität ab.

Das ist ein Grund, warum die jetzige Streikbewegung bisher nicht das Ausmaß der Streikwelle des letzten Jahres angenommen hat. Es handelt sich um ritualisierte Tarifrunden, Kämpfe um grundlegende Arbeiter*innenrechte wie die Tarifbindung bei einzelnen Betrieben und verschiedene Kämpfe für „Gleiches Geld für Gleiche Arbeit“ in Berliner Landesbetrieben. Die Arbeitskämpfe sind extrem isoliert und die Führungen machen keine Anstalten, diese Vereinzelung zu beenden.

Doch es hat sich etwas verändert. Die Handbremse, mit der die Kämpfe bisher noch geführt werden, kann von den Arbeiter*innen selbst gelöst werden. Sie müssen die fortschrittlichen Erfahrungen aus dem vergangenen Jahr aufnehmen und weiterführen. Ein erster, elementarer aber entscheidender Schritt dahin ist die Zusammenführung der stattfindenden Kämpfe. Die Kämpfer*innen könnten sich bei gemeinsamen Streikversammlungen und Kundgebungen ihrer Kampfkraft bewusst werden und konsequent für ihre Forderungen kämpfen, auch gegen die Gewerkschaftsbürokratie. Diese Prozesse zu unterstützen, ist eine zentrale Aufgabe der klassenkämpferischen Linken.

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