Vor der Februarrevolution
Schon vor 1917 forderten Streiks und Aufstände die blutrünstige Monarchie der Romanows in Russland heraus. Dieser Artikel erschien zuerst als Teil der Serie der Zeitschrift Jacobin Magazine über die Russische Revolution von 1917 unter dem Titel „Before February“. Der Autor, Todd Chretien, ist ein US-amerikanischer Aktivist und schreibt häufig für den International Socialist Review. Übersetzung von Xenia Wenzel.
„Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben“, warnte Lenin eine Gruppe Schweizer Jugendlicher in einer Rede zum zwölften Jahrestag der niedergeschlagenen Revolution von 1905. Diese Anmerkung Lenins bildete neben der Abdankung des Zaren Nikolaus II. keine sechs Wochen später die Grundlage für einen Klassiker unter den marxistischen Witzen: „Komm’ nicht zu spät zum Protest – die Revolution könnte gerade losgehen!“
Nichtsdestotrotz merkt man Lenins Arbeiten aus dieser Zeit an, dass er sich durchaus bewusst war, dass die Lage in seinem Heimatland jeden Moment überkochen konnte. 300 Jahre lang hatte die Zarendynastie der Romanows mit eiserner Faust regiert. Russland war zu dieser Zeit ein Imperium auf dem Vormarsch mit einer russischsprachigen Minderheit.
Die Zarenfamilie befand sich keineswegs in der Isolation: Indem sie riesige Bauernarmeen aufstellte, um so die Monarchie und Reaktion angesichts demokratischer und nationalistischer Bewegungen seit der Französischen Revolution 1789 aufrecht zu erhalten, hinterließ sie ihre reaktionären Fußabdrücke in Westeuropa. Die Romanows nahmen in der Aufzählung der Erzfeinde im eröffnenden Abschnitt des Kommunistischen Manifests zwar einen Platz ganz oben ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand das Imperium jedoch auf wackligen Beinen.
In Geschichte der Russischen Revolution begründet Leo Trotzki die Unbeständigkeit der russischen Gesellschaft damit, dass sich die Weltwirtschaft notwendigerweise mit ungleichmäßiger Geschwindigkeit entwickle. Nikolaus II. herrschte über ein Sammelsurium von Territorien und Völkern. Die Kurzversion seiner offiziellen Bezeichnung lautet „Kaiser und Autokrat aller Russen, Moskaus, Kiews, Wladimirs, Nowgorods, Zar von Kasan, Zar von Astrachan, Zar von Polen, Zar von Sibirien […], Großfürst von Smolensk, Litauen […] und so weiter und so fort.“
In erster Linie war der Zar der bedeutendste Grundherr in einer Klasse übrig gebliebener Adliger, die ihre westeuropäischen feudalen Pendants über ein Jahrhundert lang oder sogar länger überlebt hatten – erst 1861 wurde die Leibeigenschaft abgeschafft. Diese Klasse von 30.000 Aristokraten besaß rund 76 Millionen Hektar Land (mit Grundstücken im Schnitt von 2.200 Hektar) und damit mehr Land als 50 Millionen arme oder mittelbereicherte Bauern zusammen.
Diese Zahlen waren nicht nur „eine Einladung zum Bauernaufstand“, sondern zeugten auch von dem immer größer werdenden Gegensatz zwischen dem industrialisierten Westeuropa und dem bäuerlichen Russland. Aus Sorge, der technologische Rückstand könne Russlands militärischer Vormachtstellung zum Verhängnis werden, verließ sich der Zar zur Finanzierung einer modernen und zentralisierten Waffen- und Metallindustrie mit Zentren in Sankt Petersburg und anderen Orten auf französische und englische Banken. Einige der größten Fabriken der Welt entstanden auf russischem Boden und konzentrierten in sich eine neue Bevölkerungsschicht, die nichts außer ihrer Arbeitskraft zu verkaufen hatte. In seinem 1899 erschienenen Werk „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ vermutet Lenin, dass es in den 1890er Jahren zehn Millionen Arbeiter im Land gab.
Der Zar wollte dieses „Amalgam“ mit der Peitsche zusammenhalten. Antisemitische Gruppen, bekannt als Schwarze Hundertschaften, streiften durch das Land und terrorisierten die jüdische Bevölkerung, der russische Nationalismus verbot den Unterricht in Regionalsprachen und Streiks wurde die Stärke der Militärs entgegengesetzt. Die Hoffnung auf eine Hafenstadt an der Westküste des Pazifiks sowie die Befeuerung des Patriotismus führten 1904 zum Krieg der Dynastie gegen Japan, doch die militärische und strategische Überlegenheit der Japaner brachte die Opposition in Russland bald zum Überkochen.
Am 9. Januar 1905 marschierten hunderttausende Arbeiterinnen und Arbeiter, Studierende und Arme hinter dem Priester Georgi Gapon und flehten den Zar an, sie zu entlasten. Darauf wurde mit Seitengewehren und Scharfgeschützen geantwortet. Hunderte verbluteten in den Straßen.
Die „Generalprobe“ der Oktoberrevolution, als die die Revolution von 1905 bekannt geworden ist, brachte komplexe sozialen Brände zum Vorschein: Bauern und Bäuerinnen gegen Grundherren, die Arbeiterklasse gegen Vorgesetzte sowie im Prinzip das ganze Land (darunter Teile der Mittelklasse und sogar Kapitalisten) gegen die Monarchie.
Als die Revolution von 1905 vorbei war, hatten die Matrosen auf dem Panzerkreuzer Potemkin gemeutert und die Bauern und Bäuerinnen ein Siebtel der Landfläche in Brand gesetzt. Im Bewusstsein der internationalen Linken hatte sich eine neue Idee ausgebreitet, die Lenin später so beschrieb: „Eine eigentümliche Massenorganisation wurde im Feuer des Kampfes geschaffen: die berühmten Arbeiterdelegiertenräte, die Versammlungen von Delegierten aus jeder Fabrik.“
Rosa Luxemburg – Gründungsmitglied der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens – rief ausgehend von den Ereignissen in Russland den Massenstreik als „die erste natürliche, impulsive Form jeder großen revolutionären Aktion des Proletariats“ aus.
Mitten in der Revolution blühte die sozialistische Linke auf. Vor dem berühmten Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1903, auf dem sich die Bolschewiki und Menschewiki erst vereinigten und dann wieder spalteten (und es zu komplizierten Verhandlungen mit wichtigen Teilen jüdischer, polnischer, finnischer und anderer regionaler sozialistischer Organisationen kam), existierten in den verschiedenen Fraktionen vermutlich mehrere zehntausende assoziierte Parteimitglieder. Bis zum sogenannten Vereinigungsparteitag im Frühjahr 1906 waren mehrere Tausend beigetreten und bis zum Parteitag 1907 hatte die SDAPR (inklusive ihrer nationalen Unterorganisationen) trotz grausamer Repressionen annähernd 150.000 Mitglieder.
Der Zar war ob dieser Entwicklungen so erstaunt, dass er der revolutionären Bewegung ein Zugeständnis machte: eine Art Versuchsparlament, die Duma. Der städtischen Arbeiterklasse wurde zunächst nicht einmal das Wahlrecht eingeräumt. Später wurde das Gremium dahingehend verbessert, dass 2000 Grundherren – im Gegensatz zu 90.000 Arbeiterinnen und Arbeitern – einen Delegierten stellten. Dieses dürftige Angebot ging zwar über die üblichen Zugeständnisse Nikolaus’ II. hinaus. Es war jedoch nicht annähernd genug, um die Revolution aufzuhalten. Die Regierung verwandelte Russland so in einen Friedhof: 15.000 wurden hingerichtet, 20.000 verletzt und 45.000 flüchteten ins Exil. So erstickte das Blut das Feuer, zumindest für eine Zeit.
Zu Beginn des Jahres 1912 begannen die Streiks von Neuem, bis auch diese Bewegung ihr jähes Ende auf den sibirischen Lena-Goldfeldern fand, als die Truppen des Zaren hunderte Streikende erschossen. Die Arbeiterklasse stieg nun wie ein Phönix aus der Asche, die sozialistischen Parteien wurden größer und Streiks breiteten sich im ganzen Land aus. Im Jahr 1914 erreichte die sozialistische Tageszeitung Prawda Auflagen von 30.000–40.000 – und das in einem weitestgehend unalphabetisierten Land.
Im Sommer 1914 schien Russland an seine Grenzen gekommen zu sein: Der Status quo wurde immer unerträglicher. Nikolaus II. erklärte Deutschland am 19. Juli 1914 den Krieg. Dieses Mal brachte der Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn, im Gegensatz zum vergleichsweise gezügelten Konflikt mit Japan an den östlichen Außengrenzen, Hungersnöte und Krankheiten an die Türschwelle des russischen Kaiserreichs.
Eine Welle des Patriotismus in den Anfangstagen des Kriegs konnte die Stellung des Zaren zunächst aufrechterhalten. Hundertausende Bauern und junge Männer traten der Armee bei, während nationalistische Kundgebungen auf den zentralen Plätzen der Dörfer und Städte immer häufiger wurden.
Die Probleme, die der Revolution von 1905 ihren Auftrieb gegeben hatten, sollten ihren Höhepunkt bald erreicht haben. Der große Krieg brachte ein unvorstellbares Ausmaß an Todesopfern und Massengräbern mit sich. Der Erste Weltkrieg war der Austragungsort eines Spektakels, in dem die rückständigste und am wenigsten entwickelte Gesellschaftsordnung des Kontinents sich Hals über Kopf in eine Auseinandersetzung mit den fortschrittlichsten Industrienationen der Welt stürzte. Der Ausgangs dieses „Spektakels“ war erschreckend.
Drei Millionen Soldaten der zaristischen Armee starben, weitere vier Millionen erlitten schwere Verletzungen. Dazu starben drei Millionen Zivilisten an den Kriegsfolgen – und das bei einer Bevölkerung von 175 Millionen. Angesichts der deutschen Militärtechnologie schickte der Zar hunderttausend spärlich bewaffnete und schlecht ausgestattete Soldaten in den sicheren Tod. In den Wintern von 1915 bis 1917 erfroren zehntausende Soldaten in den Schützengräben.
Währenddessen ließ sich der kaiserliche Hof zu weiteren Ausschweifungen verleiten. Der Wanderprediger Grigori Rasputin hatte Macht über die Zarin Alexandra gewonnen und verlangte von ihr, dass ihr Mann alle Anzeichen von Illoyalität bestrafen sollte, so wie Iwan der Schreckliche es getan hatte. Rasputins Einfluss war so groß, dass russische Aristokraten ihn in der Hoffnung, erneuten Einfluss auf Nikolaus und seine Kriegspolitik zu gewinnen, ermordeten. Nachdem sie jahrhundertlang aus dem kaiserlichen Brunnen getrunken hatten, fürchteten die Großfürsten nun, dass sie von den zerfallenden politischen Kadavern darin vergiftet werden könnten. So erzählt Tsuyoshi Hasegawa, dass das Kaiserpaar sich weigerte, „die Außenwelt zu verstehen“.
Mit dem Voranschreiten des Krieges nahmen auch die Bauernaufstände (wie schon 1905) wieder zu, nur dieses Mal in Form eines Konflikts zwischen adligen Offizieren und Bauernsoldaten in den Schützengräben. Jedes Mal, wenn ein Offizier ein Selbstmordkommando in das deutsche Feuer befahl, standen nicht nur die Leben der jeweiligen Bauernsoldaten auf dem Spiel, sondern auch die Zukunft ihrer Familien, die sich auf die Rückkehr ihrer Söhne verließen, auf deren Pflege und Arbeit sie angewiesen waren. Darüber hinaus beraubte die Armee die Bauernfamilien ihres Lebensunterhalts und der Samen, die sie für die nächste Aussaat benötigten.
Vielleicht hätte Nikolaus II. oder zumindest die Monarchie den wachsenden Unmut der Bäuerinnen und Bauern die katastrophalen militärischen Verluste und die Differenzen mit der eigenen Klasse noch überlebt. Doch an seiner Türschwelle machte sich ein neuer potenzieller Feind breit. So wie der Krieg die Gräben mit Blut füllte, füllte er das 1914 umbenannte Petrograd mit Proletarierinnen und Proletariern. Dieselbe Arbeiterklasse, die die Regierung 1905 zum Stillstand brachte und so bitter für ihre Anstrengungen bezahlen musste, hatte nun die Aufgabe, jedes Gewehr, jede Kugel, jede Granate und jeden Eisenbahnwagen herzustellen und zu transportieren, von denen der Zar so abhängig war. Nikolaus II. hatte de facto keine andere Wahl, als diesen Feind immer weiter zu stärken.
Hasegawa schreibt, dass die Zahl der Arbeiterinnen und Arbeiter in Petrograd zwischen 1914 und 1917 von 242.000 auf 392.000 beziehungsweise um 62 Prozent anstieg. Frauen machten ein Viertel aller Beschäftigten aus. Die Anzahl der Streiks war in den ersten patriotischen Tagen des Kriegs hingegen rückläufig: Während 1914 vor dem Krieg 110.000 in Gedenken an den Blutsonntag streikten, gingen am 9. Januar 1915 nur 2600 auf die Straße. Als die kriegerischen Auseinandersetzungen abnahmen, gingen hingegen wieder mehr Menschen auf die Straße. In den sechs Monaten zwischen September 1916 und Februar 1917 streikten 589.351, davon nahmen 80 Prozent an politischen Streiks teil.
Inmitten dieser Massenbewegung arbeiteten sozialistische Gruppen hartnäckig daran, sich bei den Arbeiterinnen und Arbeitern einzuschleusen. Tausende Revolutionäre wurden 1905 und in der darauffolgenden Phase der Repression ermordet, weitere Tausende wurden einberufen und an die Front geschickt, um die Arbeiterbewegung von kampferprobten Führungspersonen zu säubern. Die zaristische Polizei kam einer Auslöschung der organisierten sozialistischen Linken in vielen Bereichen zwar bereits gefährlich nah. Langjährige Auseinandersetzungen und Kämpfe, Parteienorganisation im Untergrund sowie sozialistische Ausbildung hatten jedoch bereits ihre Früchte getragen.
Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich, wo die führenden Persönlichkeiten der wichtigsten sozialistischen Organisationen ihre eigenen herrschenden Klassen im Ersten Weltkrieg unterstützten, orientierten sich die meisten russischen sozialistischen Bewegungen an pazifistischen und internationalistischen Prinzipien. In Sankt Petersburg wimmelte es nur so von revolutionären Sozialistinnen und Sozialisten, die in Parteien und Gruppen, mal mehr, mal weniger kooperativ oder im Widerstreit, organisiert waren. Dazu gehörten Bolschewiki, Menschewiki, Meschrajonzy, Sozialrevolutionäre und sogar Anarchisten.
Natürlich gab es auch ein paar bekannte Sozialpatrioten, darunter besonders der Menschewiki-Führer Georgi Plechanow, der „Vater des russischen Marxismus“, den sowohl Lenin als auch der internationalistische Menschewik Julius Martow als Mentor ansahen.
Insgesamt kamen die ersten Wochen von 1917 nah an das heran, was Lenin als Bedingungen für das „eherne Gesetz der Revolution“ bezeichnet hatte, und zwar, dass die Revolution nur siegen kann, wenn die „unteren Klassen“ nicht mehr so weiterleben wollen und die „oberen Klassen“ nicht mehr so weitermachen können wie bisher.
Die Arbeiterklasse im russischen Kaiserreich war nicht die einzige, die sich den widrigen Bedingungen des Krieges widersetzte: Karl Liebknecht brach mit der kriegsbejahenden Führung der deutschen Sozialdemokratie und stimmte im Parlament gegen die Kriegskredite, Rosa Luxemburg verfasste im Gefängnis die „Junius“-Broschüre, deutsche und französische Soldaten erklärten an Weihnachten 1914 einen einvernehmlichen Waffenstillstand und der linke Flügel der sozialistischen Partei Amerikas widersetzte sich ebenso wie die linke Gewerkschaft Industrial Workers of the World vehement der Kriegslust von Woodrow Wilson.
Die Tiefe der sozialen, ökonomischen und militärischen Krise in Russland und das politische Bewusstsein sowie die Organisation der Arbeiterklasse (neben der wachsenden Auflehnung der Soldaten, Studierenden und unterdrückten Minderheiten) übertraf im Winter von 1916/1917 jedoch alle anderen Entwicklungen auf dem Globus.
Darüber hinaus war die anti-zaristische Bewegung durch eine schöne Illusion verbunden (die, auch wenn sie nicht von allen geteilt wurde, doch allgemein genug war): der Monarchie ein Ende zu setzen und Frieden, Demokratie und Wohlstand nach Russland zu bringen.
Es sollte nicht mehr lange dauern, bis die revolutionäre Bewegung in Russland diese Idee auf die Probe stellte. Der Februar 1917 war dabei nur der Anfang.
Zuerst auf Deutsch erschienen: marx21