Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution 1914-1919

22.01.2023, Lesezeit 295 Min.
1
Illustration: Juan Chiri / @macacodosul

Mathilde Jacob war Genossin, Sekretärin und Freundin Rosa Luxemburgs. In ihren Erinnerungen beschreibt sie die gemeinsame Zeit in Krieg und Revolution.

Wir freuen uns sehr, die Erinnerungen Mathilde Jacobs an ihre Freundin Rosa Luxemburg erstmals online zur Verfügung stellen zu können. Erschienen sind sie auf Deutsch zuletzt 1988 in der Internationalen wissenschaftlichen Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK). Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, haben wir darauf verzichtet, offensichtliche Tippfehler auszubessern. Aus technischen Gründen ist die Nummerierung der Fußnoten durchlaufend; in der Druckfassung beginnen sie nach der Vorbemerkung von Neuem. 

Dieser Text ist seit 2013 gemeinfrei, da die Autorin 1942 ermordet wurde. Wir danken den Herausgeber:innen und Autor:innen des einleitenden Aufsatzes, Sibylle Quack und Rüdiger Zimmermann, herzlich für ihr Einverständnis, dieses wichtige Dokument einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Die Zeitschrift IWK ist seit 15 Jahren eingestellt und trotz unserer Bemühungen konnten wir keinen Rechtsnachfolger ermitteln. Falls jemand weitere Rechtsansprüche am Text besitzt, bitten wir um eine Kontaktaufnahme. Wir wünschen uns, dass dieser Text in möglichst vielen Archiven gespiegelt wird.

In diesem Text wird besonders die Person Leo Jogiches lebendig. Mit der Veröffentlichung wollen wir auch die Kampagne unterstützen, eine Gedenktafel für Jogiches an seinem letzten Wohnort, Schwarzastraße 9a in Berlin-Neukölln, aufzustellen.

Von Mathilde Jacob. Hrsg. und eingeleitet von Sibylle Quack und Rüdiger Zimmermann

Vorbemerkung

Dank des guten Buches von Heinz Knobloch1 ist es nicht mehr nötig, Mathilde Jacob (1873-1943) der Vergessenheit zu entreißen: Sie war die Sekretärin Rosa Luxemburgs und später Paul Levis, aber sie war noch viel mehr als das: treue, verläßliche, immer hilfsbereite Freundin, zuverlässige und tapfere Widerstandskämpferin und Genossin. Sie war zu Lebzeiten einem größeren Kreis von Sozialisten und Sozialistinnen bekannt und sie wurde es später wieder durch die Briefe, die Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis an sie schrieb und die Mathilde Jacob, als Jüdin und Sozialistin von den Nationalsozialisten verfolgt und nach Theresienstadt verschleppt, für die Nachwelt hat retten können.

Mathilde Jacobs Name wird immer im Zusammenhang mit anderen, „berühmteren“ Personen genannt, ihre „dienende“ Funktion hervorgehoben. Ein typisches Frauenschicksal, scheint es. Um so wichtiger, daß jetzt über sie berichtet wurde und zwar als Hauptperson. Natürlich hat auch ihr Biograph Heinz Knobloch sie entdeckt, weil sie die Sekretärin Rosa Luxemburgs war; doch zeigt sein Buch, wie lohnenswert es ist, ihre Lebensgeschichte zu würdigen. Die helfende, dienende, unverheiratet gebliebene Mathilde, die sich aufopferte für ihre Freundinnen und Freunde, für ihre Mutter, ihre Verwandten – war sie nicht auch eine ungeheuer selbständige, mutige, konspirative Persönlichkeit, zunächst während des Ersten Weltkrieges, dann in der Illegalität in der KPD 1919, später in der Hitlerzeit?

Der hier folgende Bericht Mathilde Jacobs, der von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution handelt, gibt Auskunft über ihr Leben, das sie in der Zeit während des Ersten Weltkrieges und bis in das Jahr 1919 hinein geführt hat. Er zeigt eine hochinteressante Beziehung zu Rosa Luxemburg und gleichzeitig eine Vertrautheit mit Leo Jogiches, die vielleicht nur wenige Menschen im Umkreis von beiden hatten. Elzbieta Ettinger hat in ihrer Luxemburg-Biographie darauf hingewiesen, daß Mathilde Jacob eine ganz besondere Rolle spielte im Verhältnis zwischen Jogiches und Luxemburg, daß sie eine Art Vermittlerfunktion zwischen den verhärteten Fronten wahrnahm, aber auch, daß Jogiches ihr von privaten Dingen erzählte, sich Mathilde Jacob gegenüber auf ganz ungewohnte Weise öffnete.2 Der Bericht Mathilde Jacobs zeigt auch, wie stark sie in das politische Geschehen von Spartakus und später KPD involviert war.

Für die darauf folgenden Jahre kennen wir keine vergleichbaren autobiographischen Zeugnisse mehr von ihr. Aber wir wissen, daß sie eng mit Paul Levi zusammenarbeitete, zuerst in der KPD, dann wieder in der SPD; daß sie als verantwortliche Redakteurin von Paul Levis Zeitschrift „Unser Weg“ und später seiner „Sozialistischen Politik und Wirtschaft“ zeichnete. Auf keinen Fall ist richtig, was Peter Nettl in seiner Luxemburg-Biographie über Mathilde Jacob schrieb. Er sah sie – da er die Materialien bei der Hoover Institution on War, Revolution, and Peace nicht kannte – lediglich als unbedarfte, nur durch Rosa Luxemburgs Einfluß zur Politik gekommene Frau an, die schon bald nach Rosa Luxemburgs Tod ins unpolitische Leben zurückkehrte.3 Agnes Peterson konnte mit ihrer 1973 in der IWK erschienenen biographischen Studie über Mathilde Jacob deren Person sehr viel kenntnisreicher würdigen.4 Leider scheint auch Heinz Knobloch bisweilen ihre Rolle eher zu unterschätzen, wenn er schreibt, Mathilde Jacob sei wahrscheinlich nur wegen ihrer Arbeit als Sekretärin von Paul Levi 1921 aus der KPD ausgetreten.5 Das klingt, bei allem ernsthaften Bemühen, ihr als Hauptperson gerecht zu werden, doch wieder so, als handele es sich um eine Person, die keine eigenen Entscheidungen treffen kann.

Es ist nicht allzu viel, was wir über Mathilde in den dreißiger Jahren wissen. Heinz Knobloch meint, daß sie nach Levis Tod (1930) wahrscheinlich keine organisatorischen Bindungen zu Gruppen oder Parteien gehabt hätte.6 Leider konnten wir nicht feststellen, ob Mathilde Jacob in der SPD geblieben ist, weil die Mitgliederkarteien nicht mehr existieren. Was wir wissen, ist, daß sie weiterhin Kontakt zu einem Kreis von sozialistischen Freunden und Feundinnen [sic] hatte. In Kurt Großmanns Buch über die Emigration wird sie erwähnt als weitsichtige Person, die in Berlin 1939 ihre Umgebung vor einem unzuverlässigen Genossen warnte.7 Knobloch fand heraus, daß sie recht zurückgezogen lebte, ihre Wohnung in der Altonaer Straße 11 in Berlin-Tiergarten untervermietet hatte und Schreibarbeiten übernahm.

Aus einer Reihe von Briefen Mathilde Jacobs aus den Jahren 1933 bis 1941, die wir mit dem Manuskript von den Levi-Neffen aus den USA bekamen, wissen wir jetzt Näheres über ihre verzweifelten Versuche, aus Nazi-Deutschland herauszukommen.8 Es waren vergebliche Versuche. Die Briefe, allesamt an die nach USA emigrierte Schwester Paul Levis gerichtet, zeigen auf erschütternde Weise, wie sich Mathilde Jacobs Lage verschlechterte, welche Schritte sie unternahm, um gemeinsam mit der Familie ihres Bruders auszuwandern, wie diese Versuche immer wieder mißlangen, und wie sie Hilferufe an verschiedene Personen in den USA richtete. Zusammen mit der eindringlichen Schilderung Heinz Knoblochs über die menschenfeindlichen Bedingungen, unter denen Mathilde Jacob und die übrige jüdische Bevölkerung zu leben hatten, geben diese Briefe eine Ahnung von der Realität Mathilde Jacobs in den letzten Jahren in Berlin, bevor sie nach Theresienstadt kam und dort am 14.4.1943, wir wissen nicht wie, ums Leben gekommen ist.

Ein Schreiben des „International Rescue and Relief Committees“ in New York, datiert vom 9. Juni 1943, das bei den Briefen Mathilde Jacobs lag, zeigt die ungeheure Tragik der Situation: Mathilde Jacob war schon tot, als ihr schließlich von einem Hilfskommitee [sic] die Summe von 500 Dollar bereitgestellt werden konnte. Es zeigt auch, unter welch entsetzlichem Druck die in die Emigration Entkommenen standen, die ihre Familien, ihre Freunde, ihre Genossinnen und Genossen in Hitler-Deutschland zurücklassen mußten und denen es oft nicht gelungen ist, sie zu retten.

Wir wollen mit der Veröffentlichung des Berichts von Mathilde Jacob, den uns die Neffen von Paul Levi, Kurt und Frank Herz übergeben haben, dazu beitragen, ihr Andenken zu würdigen und wir sind sicher, daß ihre Aufzeichnungen auch heute, nach fast 60 Jahren, nichts an Bedeutung verloren haben.

Entstehung und überlieferung des Manuskriptes „Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution 1914-1919“ von Mathilde Jacob

Wann Mathilde Jacob zuerst den Gedanken faßte, ihre Erinnerungen an Rosa Luxemburg aufzuschreiben, wissen wir nicht. Vorarbeiten lassen sich bis in die Zwanziger Jahre verfolgen. Zum zehnten Todestag von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht veröffentlichte sie in der „Leipziger Volkszeitung“9 kurze Erinnerungen, die bereits Formulierungen enthalten, die mit den späteren Ausarbeitungen identisch sind. Auch der von Peter Nettl10 zitierte Auszug aus einer Korrespondenz Mathilde Jacobs mit Alvariez del Vayo vom März 1928 belegt, daß ganze Textpassagen Ende der Zwanziger Jahre bereits ausformuliert waren. Die erste vollständige Version des Manuskripts muß indes erst nach dem Tod von Paul Levi (1930) fertiggestellt worden sein und nicht, wie in der Literatur angegeben wurde, im Jahre 1929,11 da Mathilde Jacob auf das tragische Ende Levis Bezug nimmt. Die erste Manuskriptversion, die Mathilde Jacob nach Levis Tod fertigstellte, umfaßte 110 Schreibmaschinenseiten und trug einen deutlich provisorischen Charakter. Raum für Namen, Daten und Sachverhalte ist in diesem Manuskript freigelassen, einige Fußnoten sind unvollständig, stilistische Unebenheiten fallen ins Auge. Dennoch zeichnet sich gerade diese (wir nennen sie die ursprüngliche) Version durch eine Fülle biographischer Details aus. Gefühle werden zugelassen und ausgesprochen: Zuneigung, Abneigung, Eifersucht auf andere Freundinnen Rosa Luxemburgs, Kränkungen, Schuldgefühle – alles das findet sich in der ursprünglichen Textfassung. Vor allem auch kritische Untertöne gegen Karl Liebknecht sind nicht zu überhören.

Nach der Fertigstellung des Manuskripts scheint der Text durch „kundige“ Hände gegangen zu sein. über die Person des literarischen Beraters oder der Beraterin lassen sich nur Spekulationen anstellen. Wir wissen es nicht genau. Jedenfalls trägt die nachfolgend überlieferte Textversion einen völlig anderen Charakter. Die Sprache ist geglättet, persönliche Details sind weggelassen oder abgeschwächt. Manch pointiertes Urteil über handelnde Personen liest sich milder. Auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands erscheint bisweilen in einem besseren Licht. Qualitativ neu – aus der Sicht der frühen dreißiger Jahre – ist die reiche Beigabe von Dokumenten. Teilweise handelt es sich um Quellen, die der interessierten Öffentlichkeit der Weimarer Republik bekannt waren (Spartakusbriefe, Rosa Luxemburgs Parteitagsrede, Paul Levis Grabrede), teilweise um Briefe Rosa Luxemburgs, die seinerzeit völlig unbekannt waren. Mathilde Jacob hoffte sicherlich, mit dem Teilabdruck erhaltener Briefe ihren Text authentischer zu gestalten. Für die Luxemburg-Forschung, zunehmend von sozialistischen Dissidenten betrieben, wäre der Abdruck der Quellen von großem Gewinn gewesen. Gleichwohl trägt auch das zweite überlieferte, 133 Seiten starke Manuskript noch provisorische Züge. Es hat nicht die äußere Form, die die gewiefte Inhaberin eines Schreibbüros einem Verlag angeboten hätte. Mathilde Jacobs hat auch dieses Manuskript nochmals in mehreren Schritten überarbeitet und in eine Form gebracht, die mit großer Wahrscheinlichkeit für eine Veröffentlichung bestimmt war.

Welchen Weg sind diese verschiedenen Fassungen des Manuskriptes nach 1933 gegangen? Die Rettungsaktion der Papiere Mathilde Jacobs, darunter viele persönliche Dokumente aus der Feder Rosa Luxemburgs, hat Heinz Knobloch anschaulich beschrieben.12 Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges suchte der Direktor der Hoover Institution on War, Revolution, and Peace, Ralph H. Lutz, Mathilde Jacob in Berlin auf. Mathilde Jacob hatte unter Freunden die Nachricht verbreiten lassen, sie wolle ihr reiches Quellenmaterial über Leben und Werk Rosa Luxemburgs in sicheren Händen wissen. Durch Vermittlung von Angelica Balabanoff wurde in den Vereinigten Staaten eine Verbindung zur konservativen Hoover Institution in Stanford (Kalifornien) hergestellt, die damit begonnen hatte, eine einmalige Sammlung von grauer Literatur, Plakaten, Flugblättern, Bildern und Archivalien über die unterschiedlichsten sozialen Bewegungen Europas aufzubauen. Ralph H. Lutz traf Mathilde Jacob konspirativ am 28. Juni 1939 in Berlin. Er nahm Rosa Luxemburgs Gefängniskalender, ca. 200 Briefe, Bilder, Korrespondenz und Mathilde Jacobs Erinnerungen an Rosa Luxemburg mit. Seit dieser Zeit wird die ursprüngliche Fassung des Manuskripts von Mathilde Jacob in Kalifornien verwahrt. Archivintern trägt das Manuskript die Bezeichnung „Copy 4“. Es hat sich vollständig erhalten. Die erste überarbeitete Fassung findet sich im selben Archiv unter dem Namen „Copy 1“ und bis auf drei Seiten ist sie vollständig. Schließlich gibt es bei der Hoover Institution noch zwei fragmentarische Fassungen einer dritten, wiederum überarbeiteten Version, die „Copy 2“ und „Copy 3“ genannt werden. Diese letztgenannten Varianten sind indessen nur höchst lückenhaft erhalten.

Ein vollständiges Exemplar dieser dritten und letzten Fassung ging einen ganz anderen Weg. Es gelangte zwar auch in die Vereinigten Staaten, kam aber nicht zur Hoover Institution. Mathilde Jacob hatte die dritte Fassung ihrer Luxemburg-Erinnerungen nochmals gründlich überarbeitet. Auf der Basis des Manuskripts, das heute in Stanford fragmentarisch als „Copy 2“ und „Copy 3“ archiviert ist, hatte sie kleine Streichungen vorgenommen, neue Manuskriptteile angeklebt und den Text einer endgültigen redaktionellen überarbeitung unterzogen. Alles spricht dafür, daß dieser letzte Text für eine Veröffentlichung bestimmt war. Die zeitliche „Reihenfolge“ aller Manuskripte läßt sich deshalb relativ einfach ermitteln, weil handschriftliche überarbeitungen, Anstreichungen mit Bemerkungen über einzuarbeitende Passagen, überklebungen etc. die Entwicklung der Fassungen deutlich machen. – Der Faschismus zerschlug die Pläne für eine Veröffentlichung. Mathilde Jacob übergab die wahrscheinlich letzte Fassung an Jenny Herz, die Schwester Paul Levis. Im schwäbischen Heilbronn wurde die Abschrift zusammen mit dem politischen und literarischen Nachlaß Paul Levis verwahrt. Mathilde Jacob war Jenny Herz persönlich verbunden. Wir wissen, daß sie ihre knappe Urlaubszeit damit verbrachte, nach Paul Levis Tod dessen Nachlaß in Heilbronn zu ordnen.13

Mathilde Jacob pflegte wichtige Dokumente und Texte gezielt unter Freunden und Freundinnen zu verteilen. Dieser Vorsicht, die man auch Weitsicht nennen kann, verdanken wir einige kostbare Quellen. Warum sie Ralph H. Lutz keine Endfassung ihrer Erinnerungen an Rosa Luxemburg mitgegeben hat, bleibt unklar. Hatte sie die Textdurchschläge an andere Vertraute bereits restlos verteilt? Vieles spricht für diese Vermutung. Eine letzte Fassung des Manuskriptes jedenfalls teilte künftig das Schicksal des Levi-Nachlasses.

Ostern 1933 beschloß die Familie Herz auszuwandern. Obgleich Nationalsozialisten in Heilbronn über den Levi-Nachlaß Bescheid wußten, gelang es der Familie, die Papiere unbeschädigt zu retten. Paul Levis Bibliothek und ein Teil seiner Akten wurden mit Hilfe einer Spedition in die Schweiz geschafft. Die persönlichen Briefe Rosa Luxemburgs an Paul Levi aus dem Jahre 1914 und andere wichtige Dokumente aus dem Nachlaß lagerten in einem Safe in Heilbronn, bis sie Kurt Herz, einer der beiden Neffen Paul Levis, mit dem Zug nach Basel brachte. über Straßburg, wo die Familie Herz bis 1935 wohnte, gingen alle Materialien mit der Familie in die Vereinigten Staaten. 1946 verkaufte die Schwester Paul Levis einen Großteil des Nachlasses an den österreichischen Sozialisten und Bibliothekar Joseph Buttinger, der ihn 1972 an die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn gab. In ihrem privaten Besitz behielt die Familie Herz die Briefe Rosa Luxemburgs an Paul Levi und andere Dokumente, darunter auch die Endfassung der Erinnerungen Mathilde Jacobs an Rosa Luxemburg. Vor einiger Zeit übergaben Frank und Kurt Herz diese Materialien an Sibylle Quack mit der Erlaubnis zur Veröffentlichung und der Auflage, sie zum Levi-Nachlaß im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn zu bringen.

Die verschiedenen Fassungen des Manuskriptes von Mathilde Jacob, die in Stanford liegen, sind von der Wissenschaft vielfältig genutzt worden.14 Die erste auszugsweise Veröffentlichung unternahm Charlotte Beradt mit einem 1973 publizierten Quellenband „Rosa Luxemburg im Gefängnis“.15 Dabei stützte sie sich wahlweise auf die beiden ersten erhaltenen Textversionen des Jacob-Manuskripts. Den ersten Versuch einer Gesamtedition unternahm Anfang der siebziger Jahre Narihiko Ito. Er war im April 1971, als er die Hoover Institution besuchte, auf Mathilde Jacobs Manuskript gestoßen. Bei einem erneuten Besuch 1974 erstellte er ein Gesamtmanuskript aus den beiden in hoher Vollständigkeit überlieferten Textvarianten. Ito erkannte die „Copy 1“ als späteren Text und baute Passagen aus dem ursprünglichen Text in sein Manuskript ein, die er teilweise mit der Bezeichnung „aus dem ersten Manuskript“ kennzeichnete. Die Dokumente in Mathilde Jacobs Manuskript, die bekannt waren, nahm er nicht in den zu veröffentlichenden Text auf. Ito hatte geplant, das Manuskript, so wie er es in Stanford zusammengestellt hatte, als Anhang zu seiner deutschen Luxemburg-Briefausgabe im Verlag J.H.W. Dietz Nachf. zu veröffentlichen. Stattdessen erschien eine „Verarbeitung“ seines Textes in Form eines fiktiven Interviews mit Mathilde Jacob, das der damalige Verlagslektor, Charles Schüddekopf, unter dem Titel „Versuch eines Dialogs: Mathilde Jacob im Gespräch“ den Luxemburg-Briefen voranstellte. Das gewählte Genre – fiktives Interview – war gewiß originell. Wissenschftlich [sic] war es unbrauchbar. Der Zusammenhang des Textes wurde willkürlich demontiert, die Auswahlkriterien für die abgedruckten Textpassagen blieben im Dunkeln, die überlieferungsgeschichte des Manuskriptes wurde ignoriert und vollständig verwischt.

Die Idee liegt nahe, zum 70. Todestag Rosa Luxemburgs das Manuskript in vollständiger Form zu veröffentlichen. Es erschien uns am sinnvollsten, die Fassung zu edieren, die Mathilde Jacob selbst zur Veröffentlichung vorbereitet hatte. In Absprache mit der IWK- Redaktion wurde Einverständnis erzielt, eine völlig ungekürzte Fassung des Manuskripts zu dokumentieren. Es werden somit auch die Dokumente abgedruckt, die durch andere Quelleneditionen längst bekannt sind. Unser Editionsvorhaben wude [sic] auch von Rolf Jacob, dem Neffen von Mathilde Jacob, wohlwollend unterstützt. Er besitzt als engster Verwandter alle Urheberrechte an dem Manuskript seiner Tante. Für seine Zustimmung zur Veröffentlichung der überlieferten Endfassung „Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution“ in der IWK sind wir Rolf Jacob sehr dankbar.

Da die unterschiedlichen Fassungen des Manuskripts von Mathilde Jacob teilweise erheblich im Inhalt differieren, versuchten wir eine Präsentationsform zu finden, die auch die anderen Fassungen mitberücksichtigt. Eine kritisch-philologische Edition indes war aus Platzgründen nicht möglich. Wir haben uns deshalb für einen Mittelweg entschieden. Auf der Basis der Endfassung wurden alle Textabweichungen und Ergänzungen im Anmerkungsapparat verzeichnet, die neue Fakten vermitteln, eine andere Interpretation nahelegen oder auch nur eine andere Stimmung malen. Die signifikantesten Textabweichungen bestehen zwischen dem Ursprungsmanuskript und der von uns abgedruckten Endfassung. Deshalb haben wir im Fußnotenapparat nahezu durchgängig auf Textvarianten aus dem ursprünglichen Manuskript verwiesen. Nur in Ausnahmefallen sind Texte aus späteren Fassungen berücksichtigt. Die übrige Kommentierung wurde bewußt knapp gehalten. Annotiert wurden nur Namen und Zitate. Bei den Briefen Rosa Luxemburgs an Mathilde Jacob wird durchgängig auf die DDR-Briefausgabe verwiesen. Mit näheren Erläuterungen haben wir lediglich zwei von Mathilde Jacob in den Text aufgenommene Kassiber von Leo Jogiches und Paul Levi versehen. Beide Texte wären sonst nur schwer einzuordnen. Die Originalanmerkungen von Mathilde Jacob sind in den laufenden Anmerkungsapparat eingeordnet worden, allerdings mit besonderer Kennzeichnung.

Zum Schluß möchten wir vor allem Frank und Kurt Herz danken für die großzügige überlassung des Manuskripts. Ohne die freundliche Unterstützung der Hoover Institution, die einen Mikrofilm aller in Stanford erhaltenen Textvarianten16 zur Verfügung stellte, hätten wir die vorliegende Edition nicht realisieren können. Agnes Peterson, Leiterin der Central and Western European Collection, sei an dieser Stelle für ihre engagierte Kooperation – „transatlantic communication“, wie sie es nannte – sehr herzlich gedankt. Narihiko Ito half, das Rätsel der überlieferungsgeschichte des Manuskripts zu entwirren. Feliks Tych, Annelies Laschitza und Heinz Knobloch gaben uns wichtige Hinweise. Ihnen allen sind wir sehr verbunden. Dank sagen wir auch dem Herausgeber und der Redaktion der für IWK für ihre Entscheidung, Mathilde Jacobs Text erstmals ungekürzt einer interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren.

Von Rosa Luxemburg und ihren Freunden in Krieg und Revolution 1914-1919.

Von Mathilde Jacob

Zu Rosa Luxemburg trat ich in persönliche Beziehung, als mir Arbeiten für die „Sozialdemokratische Korrespondenz“17 übertragen wurden.18 Gemeinsam mit J. Karski19 und Franz Mehring20 hatte Rosa Luxemburg diese „Korrespondenz“ ins Leben gerufen mit dem Ziel, anzukämpfen gegen den sich in der alten Sozialdemokratischen Partei immer mehr ausbreitenden Revisionismus. Karski und Mehring diktierten ihre Artikel bei mir. Rosa Luxemburg sollten Weg und Mühe erspart werden, und so wurden auch ihre Manuskripte von den beiden diktiert. Dabei hatten sich manchmal kleine Irrtümer eingeschlichen, und Rosa Luxemburg, die Druckfehler in ihren Arbeiten haßte, kam schließlich selbst zu mir.

„Auf Ihrer Maschine sind Sie aber Meister“, sagte sie nach kurzer Zusammenarbeit beim ersten Besuch. – Es war sogleich ein Kontakt zwischen uns hergestellt, und nach beendetem Diktat bat sie, beim Vervielfältigen helfen zu dürfen. Es sei zwar nicht schwierig, meinte ich, aber man müsse übung darin haben. – Sie sei geschickt, erwiderte sie, ich möge ihr getrost eine Arbeit übertragen. – So zeigte ich, wie man auf der Matrize die nötigen Verbesserungen vornehmen müsse. Die von Rosa Luxemburg gemachten Korrekturen kamen aber beim Vervielfältigen nicht deutlich heraus. – „Ach“, meinte sie, „nicht einmal dazu bin ich zu gebrauchen!“

Die für die sozialdemokratischen Zeitungen bestimmten Artikel dieser „Korrespondenz“ überragten durch das umfassende Wissen ihrer Autoren und ihren fesselnden Stil die übrigen sozialdemokratischen Publikationen. Die „Korrespondenz“ wurde von den Redakteuren eifrig gelesen, doch nur wenige marxistisch redigierte Blätter druckten die Artikel nach. Im Kriege unterlag die „Korrespondenz“, wie alle Veröffentlichungen der Linksradikalen, der Zensur, die jede Kritik an den herrschenden Zuständen unterband. Ein Weitererscheinen war somit unmöglich gemacht, der Kampf mußte illegal geführt werden.

Zwei Gruppen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie kämpften gegen die Kriegspolitik: die Richtung Haase-Ledebour21 und die Richtung Luxemburg-Mehring. Beide Gruppen standen sich keinesfalls feindlich gegenüber; zwar marschierten sie getrennt, doch kämpften und schlugen sie meist zusammen. Sie hielten gemeinsame Besprechungen ab, und die persönlichen Beziehungen Rosa Luxemburgs, Franz Mehrings und ihrer Anhänger zu diesen Kampfgenossen waren, trotz aller politischen Gegensätze, freundschaftlicher Natur.

Die Gruppe um Haase-Ledebour, deren Abgeordnete am 21. Dezember 1915, nach 18 Kriegsmonaten, dem Reichstag die Kredite verweigerten, und die sich alsdann „Arbeitsgemeinschaft“ nannte, bildete den Kern der späteren „Unabhängigen Partei“. Sie erhob ihre Stimme stets zögernd und war zu Kompromissen immer bereit. [sie den sogenannten politischen Sumpf.]22 Die zweite bei weitem kleinere aber konsequent revolutionär-marxistische Gruppe, der spätere „Spartakus-Bund“, folgte der genialen Leitung Rosa Luxemburgs. Ihr zur Seite stand als gleichwertiger Kampfgenosse Franz Mehring. Nach Kriegsausbruch gesellte sich ihnen Karl Liebknecht23 zu, der gemeinsam mit Otto Rühle24 in der Reichstagssitzung vom 2. Dezember 1914 erstmalig die Kriegskredite verweigerte. Kühn und unerschrocken erhob er von da ab seine Stimme gegen den Weltkrieg und machte dem Reichstag mit seinem „Kleinen Anfragen“ viel zu schaffen. Als einzige Möglichkeit, öffentlich zu den Massen zu sprechen, stellte er sie wieder und immer wieder, bei jedem Anlaß, den die unheilvolle Kriegführung in reichem Maße bot.

Diese im Anfang so kleine Gruppe – Franz Mehring sagte einmal scherzend zu mir: „Bestellen Sie Rosa, sie dürfe mich als ihren einzigen Anhänger nicht verärgern,“ – wuchs schnell und gewann Einfluß. Tapfere opferbereite Kämpfer schlossen sich in Berlin und im Reich zusammen. Hier wie dort, um gegen den Krieg zu protestieren. – Auch wissenschaftliche Vorträge wurden in den Dienst dieses Kampfes gestellt. So veranstaltete Rosa Luxemburg für die Sozialdemokratische Partei im Herbst 1914 einen öffentlichen Kursus über „Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus“.25 Sie ging aus von der Entwicklung des Städtewesens, von der einsetzenden Geldwirtschaft, dem Zunfthandwerk, der Entdeckung Amerikas und den damit verbundenen Kolonialgreueln, um dann zur modernen Industrie und dem durch sie erzeugten Industrieproletariat überzugehen. Die Aufzeigung der Krisen, die der moderne Kapitalismus hervorruft, bot der Dozentin zu Erklärungen Gelegenheit, wie alle Versuche, die Krisen zu überwinden, zum Weltkrieg führen mußten.

Konnte auch ein Teil der zahlreichen Hörer, die an den Sonntagvormittagen in Bartschs Festsälen in Neukölln sich einfanden, den Schlußfolgerungen nicht immer zustimmen, den dialektisch meisterlichen Ausführungen folgten alle mit regem Interesse. In der letzten Vortragsstunde dankte der Leiter des Kursus für die reiche Belehrung. Goethes Worte variierend, sagte er am Schluß seiner Rede:

Mit euch, Frau Doktor, zu spazieren, ist ehrenvoll und bringt Gewinn. –

Ja, es war immer ein Gewinn, mit Rosa Luxemburg zu spazieren. Ihr reiches Wissen anderen zugänglich zu machen, gehörte zu ihrem Wesen.

„Sie müssen mich einmal besuchen,“ sagte sie während der Neuköllner Vorträge zu mir, „erstens Mimis wegen, zweitens meiner Bilder wegen und drittens, um mir eine Freude zu machen.“ – Mimi war die Katze Rosa Luxemburgs. Eines Morgens, als Rosa Luxemburg verfrüht ins Klassenzimmer der Parteischule gekommen war, wo sie vor dem Kriege Vorlesungen über Nationalökonomie hielt, fand sie das hilflose kleine Wesen, verletzt durch den umgefallenen Besen einer Scheuerfrau. Rosa Luxemburg nahm sich des Tierchens an, behielt es und zog es auf. Ihre Vertrautheit mit dem Kätzchen nahm ständig zu; sie pflegte ihm schließlich von ihren Freuden und Leiden zu erzählen. Zu welcher Tages- oder Nachtzeit sie auch heimkam, Mimi umschmeichelte sie, beschnupperte die Handtasche oder mitgebrachte Pakete und fand stets einen Leckerbissen für sich. – Selbstverständlich überlegte Rosa Luxemburg sorgfältig, wohin sie Mimi während ihrer Gefängniszeit bringen konnte. Die war für den 31. März festgesetzt, erfolgte aber durch plötzliche Verhaftung bereits am 18. Februar. Der nachstehende, kurz vor der Gefangennahme geschriebene Brief legt Zeugnis von der Sorge um Mimi ab:

Sonntag

Liebes Fräulein Jacob!

Vielen Dank für den reizenden Blumengruß, und dann meine Lieblingsblume: die zarten Anemonen! Sie haben mir wirklich eine große Freude gemacht. Aber die Norddeutsche Allgemeine hat doch recht: das deutsche Volk ist so verschwenderisch, wie wenn das Vaterland nicht in Gefahr und Not wäre. Wie sollen wir „durchhalten“, wenn das Volk nicht sparsamer wird? [. . .] Die Idee mit der Mimi zeigt mir, daß auch gute Geister, ja namentlich diese, die Schwäche und Gebrechlichkeit der irdischen Dinge nicht zu erfassen vermögen. Die Mimi im Korb getragen, für einen Tag mitgenommen und dann wieder abgeliefert! Wie wenn es sich um eine gewöhnliche Kreatur aus der Gattung felis domestica handelte! Nun, wissen Sie, guter Geist, daß Mimi eine kleine Mimose, ein hypernervöses Prinzeßchen im Katzenfell ist, das schon, als ich, ihre eigene Mutter, sie einmal mit Gewalt aus dem Haus heraustragen wollte, Krämpfe gekriegt hat vor Aufregung und mir in den Armen steif geworden ist, mit brechenden Äuglein wieder in die Wohnung getragen werden mußte und erst nach Stunden zu sich kam. Ja, ja, Sie haben keine Ahnung, was mein Mutterherz schon durchgemacht hat. Also lassen wir Mimichen in der Wohnung. Mir graut schon, wenn ich an den bevorstehenden und doch unvermeidlichen Transport denke, – vor dem 31. III., wo ich sie in die Villa im Grunewald schaffen muß [. . .].

Aber wenn Sie allein kommen, wird mir sehr wohl sein. Nur muß ich morgen und übermorgen schon zwei „unaufschiebbare“ geschäftliche Besuche erledigen, dann hoffe ich Sie am Mittwoch – wenn Sie Ihre Zeit ebenso verschwenden wollen, wie den schnöden Mammon – bei mir zu sehen.

Inzwischen mit herzlichen Grüßen

Ihre R.L.26

Rosa Luxemburg besaß viele kostbare Kunstmappen. Den englischen Maler Turner liebte sie besonders. Sie konnte sich an den zarten Farben seiner Landschaften nicht „satt sehen“. Sie selbst zeichnete und malte mit vieler Freude und ausgesprochenem Talent. Einige ihrer Zeichnungen und gemalten Porträts sind erhalten geblieben, darunter ein Selbstbildnis. – Ich glaube, Rosa Luxemburg oft eine Freude mit meinem Besuch bereitet zu haben. Wenn es sich darum handelte, für sie etwas zu tun, so galt für mich das Wort „Genug ist nicht genug!“ Und doch war sie stets der gebende Teil. Eine Unterhaltung mit ihr, ein Blick aus ihren verstehenden Augen, von einem warmen Händedruck begleitet, ließ viele den Lebenskampf mit neuen Hoffnungen aufnehmen.

Gegen Ende der Neuköllner Vorträge fühlte sich Rosa Luxemburg leidend. Der weite Weg von Südende nach dem Berliner Osten strengte sie jetzt an. Trotzdem unterbrach sie den Kursus nicht. Aber nach seiner Beendigung ging sie auf ärztlichen Rat ins Schöneberger Krankenhaus.27 Hier lernte ich Leo Jogiches28 kennen, den eine fünfundzwanzigjährige Freundschaft mit Rosa Luxemburg verband. Ich bin dem Schicksal dankbar, Zeuge dieser Freundschaft geworden zu sein, die während gemeinsamer Universitätsstudien in Zürich entstanden war.

Leo Jogiches besaß scharfen Verstand, reiches Wissen, und ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Er war der Voranstürmende und oft auch der Herrschende. Zu Zeiten hat sich Rosa Luxemburg seiner Eigenart völlig angepaßt. Dann aber brach ihr Feuergeist sich wieder Bahn, ging eigene Wege, und nicht selten entstand zwischen ihr und dem Freunde ein temperamentvoll geführter Meinungsstreit. – Niemand außer einigen Intimen ahnte, mit welcher Hingebung Rosa Luxemburg dem Freunde zugetan war. Diese zwei Menschen hatten sich so völlig in der Gewalt, daß sie mit keinem Blick oder Lächeln ihre Gefühle vor anderen verrieten. Sie sorgten umeinander, und ihre Freundschaft wurde immer klarer und fester. Aber diese Freundschaft hinderte Leo Jogiches nicht, auch gegen Rosa Luxemburg unerbittlich zu sein, wenn es galt, politische Arbeit zu leisten.

Gelegentlich sagte Rosa Luxemburg zu mir: „Leo läßt keine Gründe zu, die jemanden hindern könnten, seine Pflicht zu tun. Ich sollte einmal als Studentin einen Vortrag halten, fühlte mich aber körperlich so elend, daß ich fürchten mußte, nicht reden zu können. Ich schlug ihm vor, jemand anders mit dem Referat zu betrauen. ,übernehmen Sie nur den Vortrag‘, sagte er darauf, ,Sie werden sich bis zum Schluß halten können.'“ – „Und wirklich“, erzählte Rosa Luxemburg weiter, „ich brach erst zusammen, nachdem ich meinen Vortrag beendet hatte.“29 – Die hohe Auffassung Rosa Luxemburgs von Liebe und Freundschaft spricht aus der sich auf Frau von Stein beziehenden Briefstelle eines später einmal an mich gerichteten Schreibens, das ich in seinem Gesamtwortlaut hier einfüge:

Freitag, 9.4.15.

Mein liebes Fräulein Jacob!

Hoffentlich kriegen Sie diese Zeilen noch zum Sonntagsgruß, was mein Wunsch ist. Vielen herzlichen Dank für Ihre Briefe, die ich mehrmals lese und die mir viel Heiterkeit bringen. Heute kam der zweite (aus Jena, wo mir Ihr Hotel unbekannt ist) mit den schönen Einlagen. Mimis Bild hat mich schrecklich gefreut, ich muß immer lachen, wenn ich es anschaue; diese Szenen ihrer Wildheit, wenn jemand einen „Annäherungsversuch“ unternimmt, habe ich so oft erlebt, daß ich sie fast knurren höre bei dem Anblick des Bildchens. Es ist vorzüglich gelungen; und auch für den jungen Arzt, der soviel Interesse meiner Mimi erweist, hab ich von vornherein die lebhafteste Sympathie. Für die Blumen einen ganz besonderen Dank, Sie wissen gar nicht, welche Wohltat sie mir damit erweisen. Ich kann nämlich wieder botanisieren, was meine Leidenschaft und beste Erholung nach der Arbeit ist. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen meine Botanisierhefte schon gezeigt habe, in denen ich vom Mai 1913 ab etwa 250 Pflanzen eingetragen habe, – alle prächtig erhalten. Ich habe sie alle hier, ebenso wie meine verschiedenen Atlanten, und nun kann ich ein neues Heft anlegen, speziell für die „Barnimstraße“. Gerade alle die Blümchen, die Sie mir geschickt haben, hatte ich noch nicht, und nun habe ich sie ins Heft gebracht; besonders freut mich der Goldstern (das gelbe Blümchen im ersten Brief) und die Kuhschelle, da man dergleichen hier bei Berlin nicht findet. Auch die 2 Epheublälter der Frau von Stein sind verewigt, – richtig hatte ich Epheu noch nicht drin (hedera helix auf Latein); ihre Abstammung freut mich doppelt. Außer dem Leberblümchen waren alle Blumen sehr ordentlich gepreßt, was beim Botanisieren wichtig ist.

Ich freue mich für Sie, daß Sie soviel sehen; für mich wäre das eine Strafe, wenn ich Museen und dergl. besuchen müßte. Ich kriege dabei gleich Migräne und bin wie gerädert. Für mich besteht die einzige Erholung im Schlendern oder Liegen im Grase, in der Sonne, wobei ich die winzigsten Käfer beobachte oder auf die Wolken gaffe. Dies ad notam für den Fall unserer künftigen gemeinsamen Reise. Ich würde Sie nicht im geringsten stören, alles zu besuchen, was Sie interessiert, aber mich müßten Sie entschuldigen. Sie vereinigen freilich beides, was ja am richtigsten ist.

Ein Bild der Lady Hamilton habe ich gesehen in der Ausstellung der Franzosen des XVIII. J.; ich weiß nicht mehr, wie der Maler hieß, habe nur die Erinnerung einer kräftigen und grellen Mache, einer robusten, herausfordernden Schönheit, die mich kalt ließ. Mein Geschmack sind etwas feinere Frauentypen. Ich sehe noch lebhaft in derselben Ausstellung das Bild der Madame de Lavaliere von der Lebrun gemalt, in silbergrauem Ton, was zu dem durchsichtigen Gesicht, den blauen Augen und dem hellen Kleid wunderbar stand. Ich konnte mich kaum trennen von dem Bilde, in dem das ganze Raffinement des vorrevolutionären Frankreichs, eine echte aristokratische Kultur mit einem leichten Anflug von Verwesung verkörpert war.

Fein, daß Sie Engels‘ Bauernkrieg lesen. Haben Sie den Zimmermannschen schon durch? Engels gibt eigentlich keine Geschichte, sondern bloß eine kritische Philosophie des Bauernkrieges; das nahrhafte Fleisch der Tatsachen gibt Zimmermann. Wenn ich in Württemberg durch die schläfrigen Dörfer zwischen den duftenden Misthaufen fahre und die zischenden Gänse mit langen Hälsen unwillig dem Auto weichen, während die hoffnungsvolle Dorfjugend einem Schimpfworte nachruft, kann ich mir nie vorstellen, daß einmal in denselben Dörfern Weltgeschichte mit dröhnendem Schritt ging und dramatische Gestalten sich tummelten. Ich lese zur Erholung die geologische Geschichte Deutschlands. Denken Sie, daß man in Tonplatten aus der algonkischen Periode, d.h. aus der ältesten Zeit der Erdgeschichte, bevor noch jegliche Spur organischen Lebens war, also vor ungezählten Jahrmillionen, daß man in solchen Platten in Schweden Abdrücke von Tropfen eines kurzen Platzregens findet! Wie auf mich dieser ferne Gruß der Urzeiten magisch wirkt, ich kann Ihnen nicht sagen. Nichts lese ich mit solcher Spannung, wie Geologie.

Zur Frau von Stein übrigens, bei aller Pietät für Ihre Epheublätter: Gott straf mich, aber sie war eine Kuh. Sie hat sich nämlich, als Goethe ihr den Laufpaß gab, wie eine keifende Waschfrau benommen, und ich bleibe dabei, daß der Charakter einer Frau sich zeigt nicht, wo die Liebe beginnt, sondern wo sie endet. Von allen Dulcineen Goethes gefällt mir auch nur die feine, zurückhaltende Marianne von Willemer, die „Suleika“ des westöstlichen Divans. – Ich bin heilfroh, daß Sie sich erholen. Sie hatten es nötig! Mir geht es sehr gut.

Herzliche Grüße

Ihre R.L.30

Die Behandlung im Schöneberger Krankenhaus war noch nicht beendet, doch sobald die eigentliche Gefahr behoben war, ging Rosa Luxemburg wieder nach Haus. Mutig und unermüdlich kämpfte sie gegen die verderbliche Kriegspolitik. Sie fühlte sich durch das völlige Versagen, das sich dem Kriege Zur-Verfügung-Stellen der deutschen Sozialdemokratie persönlich gedemütigt.31

Führende deutsche Parteigenossen mit gleich scharfer Erkenntnis gab es bei Kriegsausbruch nur wenige. Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Clara Zetkin32 hatten an die Arbeiter der Welt einen Aufruf gerichtet, den diejenigen sozialdemokratischen Führer des linken Flügels mitunterzeichnen sollten, die sich zu seinem Inhalt bekannten: Verurteilung des völligen Versagens der deutschen Sozialdemokratie, Verweigerung der Kriegskredite, Verständigung und fester Zusammenschluß der sozialistischen Internationale. Es fand sich für die Mitunterzeichnung dieses Protestes nur ein einziger: Karl Liebknecht.33

Außer diesem Aufruf hatte Rosa Luxemburg noch einen zweiten geschrieben, der gegen Parteivorstand und Reichstagsfraktion ergehen sollte. Auch hierfür hatte sie um Unterschriften bei der Parteiopposition geworben. Aber alle Anhänger derselben machten Bedenken geltend oder verschanzten sich hinter Ausflüchten. Rosa Luxemburg faßte den Protest immer kürzer, es lag ihr daran, die Stimmen festzulegen, die sich gegen die Kriegspolitik einsetzten. Doch wie sie ihn auch faßte, niemand außer Karl Liebknecht setzte seinen Namen neben die der drei Aufrechten: Luxemburg, Mehring, Zetkin. Den Protest gegen Parteivorstand und Reichstagsfraktion in Deutschland zu veröffentlichen, erwies sich als eine Unmöglichkeit, die Presse verweigerte die Aufnahme.

Der Parteivorstand schickte Richard Fischer34 in die Schweiz, um seine Haltung und die der Deutschen Reichstagsfraktion vor der Internationale zu rechtfertigen. Um dem entgegenzutreten, sandte Rosa Luxemburg den Protest gegen Parteivorstand und Reichstagsfraktion in die Schweiz, um ihre gegensätzliche Stellung zu bekunden. Der Aufruf an die Arbeiter der Welt wurde ebenfalls ins Ausland geschmuggelt und dort publiziert.35 Jetzt hieß es mit dem Einzigen, mit Karl Liebknecht, gemeinsame Arbeit zu leisten, um die Massen wachzurütteln und aufzuklären. Bereits am 18. Februar wurde Rosa Luxemburg dieser Tätigkeit entrissen und ins Gefängnis gesteckt. Hiervon unterrichtete Karl Liebknecht die sozialdemokratische Presse durch den nachstehenden Text:

„Von den Quertreibern“.

Donnerstag Mittag ist die Genossin Rosa Luxemburg in ihrer Wohnung durch zwei Kriminalbeamte plötzlich verhaftet worden. Sie wurde zunächst im Automobil nach dem Berliner Polizeipräsidium Abteilung VII (politische Polizei) und von dort im grünen Wagen nach dem Weibergefängnis in der Barnimstraße transportiert. Es handelt sich um die Verbüßung der einjährigen Gefängnisstrafe, die der Genossin Luxemburg im vergangenen Jahre in Frankfurt a.M. zudiktiert wurde; auf höheren Befehl ist jetzt die bis zum 31. März erteilt gewesene Strafaufschubbewilligung aufgehoben und die sofortige Strafvollstreckung telegraphisch angeordnet. Einer Notiz der Deutschen Tageszeitung, die über den Vorgang erstaunlich rasch und sicherlich gut informiert ist und durch hämische Glossierung unsere tapfere Genossin ehrt, entnehmen wir, daß dieses behördliche Eingreifen durch die bei gewissen Stellen sehr mißliebige politische Tätigkeit der Genossin Luxemburg unmittelbar veranlaßt ist. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß unsaubere Spitzelhände am Werk waren.36

Ich hatte Rosa Luxemburg einige Zeilen ins Gefängnis geschickt und erhielt die gefaßte, ruhige Antwort:

Dienstag (Februar 1915)

Mein liebes Fräulein Jacob!

Ihr Brief am Sonntag war der erste schriftliche Gruß, den ich aus der Außenwelt bekam und er hat mir viel Freude gemacht. Soeben erhalte ich den zweiten, wofür ich Ihnen herzlich danke. Seien Sie um mich ganz ruhig: es geht mir gesundheitlich und „gemütlich“ ganz gut. Auch der Transport im „grünen Wagen“ hat mir keinen Schock verursacht: hab ich doch schon genau die gleiche Fahrt in Warschau durchgemacht. Ach, es war so frappant ähnlich, daß ich auf verschiedene heitere Gedanken kam. Freilich war auch ein Unterschied dabei: Die russischen Gendarmen haben mich als „Politische“ mit großem Respekt eskortiert, die Berliner Schutzleute hingegen erklärten mir, es sei „schnuppe“, wer ich sei, und steckten mich mit 9 „Kolleginnen“ in einen Wagen. Na, das alles sind Lappalien schließlich und vergessen Sie nie, daß das Leben, was auch kommen mag, mit Gemütsruhe und Heiterkeit zu nehmen ist. Diese besitze ich nun auch hier in dem nötigen Maße. Damit Sie übrigens keine übertriebene Vorstellung von meinem Heldentum bekommen, will ich reumütig bekennen, daß ich in dem Augenblick, wo ich zum zweitenmal an jenem Tage mich aufs Hemd ausziehen und betasten lassen mußte, mit knapper Not die Tränen zurückhalten konnte. Natürlich war ich innerlich wütend über mich ob solcher Schwachheit und bin es jetzt noch. Auch entsetzte mich am ersten Abend nicht etwa die Gefängniszelle und mein so plötzliches Ausscheiden aus den Lebenden, sondern – raten Sie! – die Tatsache, daß ich ohne mein Nachthemd, ohne mir das Haar gekämmt zu haben, aufs Lager mußte. Damit ein klassisches Zitat nicht fehlt: Erinnern Sie sich an die erste Szene in Maria Stuart, als dieser die Schmucksachen weggenommen werden: „Des Lebens kleine Zierden zu entbehren“, sagt Marias Amme, die Lady Kennedy, sei härter, als große Prüfungen zu ertragen. (Sehen Sie mal nach, Schiller hat es etwas schöner gesagt, als ich hier.) Doch wohin verirre ich mich? Gott strafe England und verzeihe mir, daß ich mich mit einer englischen Königin vergleiche! übrigens besitze ich „des Lebens kleine Zierden“ in Gestalt von Nachthemden, Kämmen und Seifen alle hier – dank der engelhaften Güte und Geduld Karls – und so kann das Leben nun seinen geregelten Lauf fließen. Ich freue mich sehr, daß ich so früh aufstehe (5.40) und warte nur darauf, daß auch die Frau Sonne gefälligst meinem Beispiel folgt, damit ich von dem frühen Aufstehen auch was habe. Am schönsten ist, daß ich beim Spaziergang im Hof Vögel sehe und höre: ein ganzes Rudel frecher Spatzen, die manchmal einen solchen Krach machen, daß ich mich wundere, weshalb kein strammer Schutzmann da „mang“ fährt; dann ein paar Amseln, wovon der gelbschnabelige Herr aber ganz anders singt, als meine Amseln in Südende. Er quatscht und kreischt nämlich ein Zeug zusammen, daß man lachen muß; vielleicht wird (er) im März- April Scham annehmen und anständig flöten. (Jetzt muß ich übrigens an meine armen Spatzen denken, die nicht mehr auf dem Balkon ihr gedecktes Tischlein finden und wohl verwundert auf der Brüstung sitzen. – (Hier müssen Sie unbedingt ein paar Tränen vergießen, es ist gar zu rührend!) . . .

Liebes Fräulein Jacob, ich erweise Ihnen die höchste Ehre, die ich einem Sterblichen antun kann: Ich werde Ihnen meine Mimi anvertrauen! Sie müssen aber noch auf bestimmte Nachricht warten, die Sie von meinem Rechtsanwalt bekommen. Dann werden Sie sie in Ihren Armen (nicht etwa im Körbchen oder Sack!!!) im Auto entführen müssen, mit Hilfe meiner Wirtschafterin, die Sie mitnehmen am besten (ich meine nur für die Fahrt, nicht fürs Leben) und die alle sieben Sachen der Mimi (ihr Kistchen, Torfmull, Schüsselchen, Unterlagen und – bitte, bitte! – einen roten Plüschsessel, an den sie gewöhnt ist) mit verpacken wird. Das alles kann doch im Auto verstaut werden. Doch, wie gesagt, warten wir damit noch einige Tage.

Was treiben Sie nun? Lesen Sie viel? Ich hoffe es. Ich lese eigentlich den ganzen Tag, sofern ich nicht esse, spaziere und die Zelle aufwische. Am schönsten ist die Krone des Tages: die zwei ruhigen Stunden abends von 7 bis 9 bei Licht, wo ich für mich denken und arbeiten kann. –

Frau Z[etkin] war leider so aufgeregt, daß ich um sie sehr unruhig bin.

Seien Sie mir nun vielmals herzlich gegrüßt, leben Sie wohl und seien Sie heiter.

Ihre R.L.

Selbstverständlich würde ich mich herzlich freuen, Sie zu sehen, aber damit müssen wir leider warten. Ich darf nur selten Besuche empfangen und vorläufig beanspruchen meine Rechtsanwälte den Zutritt. Holen Sie doch auch Ihre Vase aus meiner Wohnung ab!37

Clara Zetkin, die eine langjährige Freundschaft mit Rosa Luxemburg verband, war von Stuttgart nach Berlin geeilt, als sie von der Verhaftung Kenntnis erhalten. Sie ordnete die in Rosa Luxemburgs Wohnung zurückgebliebenen Schriftstücke und erlistete sich Zutritt zu ihr, indem sie angab, eine Schwägerin der Gefangenen zu sein. Daraufhin wurde der aufgeregten Clara Zetkin eine Unterredung gestattet. – Die kleine List wurde schnell entdeckt. Eine der Beamtinnen erkannte Clara Zetkin und teilte der Gefängnisvorsteherin nach dem Besuch mit, wer die „Schwägerin“ gewesen sei. Die Vorsteherin, die für ihre neue Gefangene bereits Sympathie gefaßt hatte, war großzügig genug, die Sache nicht zu beachten.

Nach wenigen Tagen reiste Clara Zetkin wieder ab, und außer Leo Jogiches sorgte jetzt niemand für Rosa Luxemburg. Ich bat, ihm helfen zu dürfen. Er lehnte ab und versuchte mit Hilfe der Wäscherin Rosa Luxemburgs, sie mit dem Nötigen zu versehen. Das stellte sich als zu beschwerlich, meist als unmöglich heraus, so daß Leo Jogiches meine Hilfe erbat.

Rosa Luxemburg selbst erteilte mir Vollmacht, – die Assistenz von Leo Jogiches war selbst verständlich – mich um ihre Wohnung zu kümmern und alle sonstigen Angelegenheiten zu ordnen, als sie „zu Besuch“ kam. „Das war der schöne Tag zu Hause,“ hat sie am 12. März auf ihrem Kalender in der Zelle vermerkt, und „Das war der zweite schöne Tag“ steht auf dem nächsten Kalenderblatt.38 Das Gericht hatte Rosa Luxemburg zwei Tage aus dem Gefängnis beurlaubt, damit sie alles Nötige ordnen konnte. Um sie zu empfangen, traf ich einige Vorbereitungen in der Südender Wohnung. Als ich ein Auto hörte, eilte ich auf die Straße, Rosa Luxemburg zu begrüßen. „Das habe ich mir so gedacht, daß Sie mich erwarten würden,“ sagte sie und umarmte mich. Bald gesellten sich Leo Jogiches und Karl Liebknecht zu uns. Paul Levi,39 Rosa Luxemburgs Verteidiger vor der Frankfurter Strafkammer, dem sie seit diesem Prozeß40 freundschaftlich verbunden war, wollte sich die günstige Gelegenheit, seine Klientin sehen und sprechen zu können, nicht entgehen lassen und war mit einem Frühzug aus Frankfurt gekommen. Auch Franz Mehring fand sich ein, und noch einige andere politische Freunde drückten Rosa Luxemburg im Laufe des Tages die Hand.

Als wir beieinander saßen, wurden Gefängnisepisoden erzählt. Karl Liebknecht berichtete von seiner Glatzer Festungszeit und von seines Vaters Gefängnissen, Leo Jogiches von seinen und Rosa Luxemburgs Kerkern in Polen und Rußland. Paul Levi konnte zu jener Zeit nur von einer Karzerstrafe aus seiner Berliner Studienzeit berichten, während Franz Mehring damals noch „gänzlich unbescholten“ war. Es waren zwei frohe Tage, die einen bittern Nachgeschmack hatten, als unsere Freundin Abschied nahm. Sie tröstete uns lächelnd. Wir winkten dem Auto, das sie entführte, vom Balkon aus zu.

Der begleitenden Gefängnisaufseherin war untersagt worden, jemanden von uns im Auto mitzunehmen. Karl Liebknecht, in seiner göttlichen Unbekümmertheit um erlaubte und unerlaubte Dinge, sprang in den abfahrenden Wagen hinein, und die während beider Tage von Liebknechts Liebenswürdigkeit und Ritterlichkeit entzückt gewesene Aufsicht wehrte die Begleitung nicht ab. –

Rosa Luxemburg hatte im Gefängnis Selbstbeköstigung, wofür 60 Mark monatlich bezahlt werden mußten. Für diese Summe kam der Sozialdemokratische Parteivorstand auf, während ein wohlhabender Parteifreund den nötigen Zuschuß für die Wohnungsmiete und sonstige Ausgaben zur Verfügung stellte. – Ich war zu jener Zeit weder davon unterrichtet, daß Rosa Luxemburg ohne Mittel war, noch wußte ich über die notwendigen Ausgaben Bescheid. Leo Jogiches vermied es, mich darin einzuweihen, er rechnete nur zu gegebener Zeit die verausgabten Gelder mit mir ab. Damals wußte ich auch nicht, wie schädlich die Gefängniskost für die leidende Rosa Luxemburg war. Man sagte mir, sie bekäme Lazarettkost, was mich beruhigte. Erst später erfuhr ich, wie schlecht, oft sogar ungenießbar auch diese war; denn Rosa Luxemburg klagte nie und verlangte nichts. Sie war stets heiter, arbeitete und erfrischte sich durch sie interessierende Bücher. – Nach etwa 7 Monaten Gefängnishaft verschlechterte sich Rosa Luxemburgs körperlicher Zustand so sehr, daß sie zeitweise das Bett hüten mußte. Wahrscheinlich auf Anordnung des Arztes erlaubte jetzt die Gefängnisvorsteherin, daß ich etwas Zusatznahrung bringen durfte – „einmal in der Woche und auch nicht viel“, bestimmte sie.

Allmonatlich durfte Rosa Luxemburg Besuch enpfangen. Als erster suchte Dr. Franz Mehring mit seiner Frau die Freundin auf. Noch zwei oder drei andere Freunde durften kommen, die übrigen Besuchsmöglichkeiten sollte auf Rosa Luxemburgs Wunsch ich wahrnehmen, weil die Schmuggeltätigkeit bei mir in besten Händen lag, wie sie meinte. Briefe durfte die Gefangene ebenfalls nur einmal im Monat schreiben und empfangen, doch nahm die Vorsteherin diese Vorschrift nicht genau, so daß wir öfter ein paar Zeilen schicken konnten. Sogar Blumen sandten wir, die sie als Strafgefangene eigentlich nicht erhalten durfte. Als ich zu Anfang solche abgeben wollte, sah die diensthabende Beamtin die Gefängnisakte Rosa Luxemburgs ein und meinte: „Da Sie es durchaus wollen, können die Blumen hier bleiben. Aber die Gefangene ist fünf Mal vorbestraft, wir werden sie ihr nicht bringen dürfen.“ Sie sind ihr aber doch gegeben worden,und [sic] sie hat hiervon und von späteren Blumenspenden in ihre Hefte, „Barnimstraße 10, Zelle 219“ beschrieben, eine stattliche Zahl eingeklebt.

Gleich nach ihrer Inhaftierung machte Rosa Luxemburg sich an die Arbeit, um den von der Parteileitung begangenen Verrat am Sozialismus aufzuzeigen. „Die Krise innerhalb der deutschen Sozialdemokratie“ ist das Werk benannt, das in der ganzen Welt als Junius-Broschüre bekannt geworden ist.41 – Karl Liebknecht hatte als Rosa Luxemburgs Rechtsbeistand jederzeit Zutritt zu ihr; trotz scharfer Kontrolle verstand er es, Artikel und Flugblätter hinein- und herauszuschmuggeln.42

Nachdem der immer unbequemer gewordene Liebknecht als Armierungssoldat ins Feld geschickt worden war, ließ Leo Jogiches politische Berichte durch mich ins Gefängnis gelangen; die äußerungen Rosa Luxemburgs hierzu, ihre Artikel, Texte für Flugblätter u.a.m. kamen auf demselben Wege heraus. Rosa Luxemburg und ich waren unermüdlich im Erfinden neuer Schmuggelmethoden, die oft recht zeitraubend waren. Bei schriftlichen Sendungen vereinbarten wir ein Stichwort oder ein Zeichen, das den Empfang bestätigte. Nicht selten kam es vor, daß diese Bestätigungen ungewöhnlich lange ausblieben. Dann litten wir Qualen der Angst. Wir zitterten füreinander um die Zuchthausstrafe, die uns die Entdeckung unserer geheimen Korrespondenz eingetragen hätte. Blieb die Bestätigung gar zu lange aus, so wurde selbst Leo Jogiches unruhig und versuchte mich zu trösten. Rosa Luxemburg verstand es ausgezeichnet, in ihren Briefen, die der Zensur unterlagen, Zeichen und Winke zu geben und unsern Mut zu stärken. So schrieb sie am 3. Oktober 1915:

Mein liebes Fräulein Jacob!

Sie haben mich plötzlich so reich und fröhlich gemacht, daß ich Ihnen gleich danken muß. überhaupt geht es mir mit Ihnen wie im Märchen mit dem „Tischlein deck dich“. Kaum hatte ich neulich den Wunsch nach einem guten Brief ausgesprochen, als er auch schon hier war; und jetzt saß ich gerade etwas gedeppt, als mir der herrliche Strauß wieder soviel Farbe und Duft in die Bude gebracht hat, und auch das Gefühl, daß Sie hier in der Nähe waren. Wenn ich Sie bloß hätte für einen Moment sehen können! . . . Zunächst das Wichtigste: die Blumen. Ob Sie auch wissen, was das für Schätze sind, die sie mir geschickt haben? Also auf jeden Fall: Die kleineren gelben mit der braunen samtigen Mitte, das ist der Alant (Inula helenium), die großen gelben, die der Sonnenblume ähnlich sind, das ist Topinambur (Helianthus tuberosus), endlich die winzigen gelben in den vielen Trauben, so schön duftend, das ist die Kanadische Goldrute (Solidago virgaurea), alle drei aus der Familie der Kompositen. Die wunder voll gelbrot gefärbten Blättchen sind natürlich von einer Eberesche, der blutrote Zweig ist ein Prunus oder „Türkische Kirsche“, Zierstrauch aus der Familie der Rosazeen; endlich der Zweig mit den ganz schmalen, unten silbrigen oben dunkelgrünen Blättchen ist ein weidenblättriger Sanddorn. Die Farben der Astern sind unaussprechlich schön, – ein echtes Herbstgemälde der ganze Strauß. Es freut mich herzlich zu hören, daß mein alter Herr [Franz Mehring] schon wieder wohler ist; er gehört zu jenen großen Bäumen, die von der geringsten Krankheit wie ein kleines Kind gleich umfallen, sich aber ebenso rasch wieder aufrichten. Von Karl [Liebknecht] hatte ich gestern einen Brief; es geht ihm offenbar ganz elend in jeder Beziehung, obwohl er munter schreibt wie immer; aber wenigstens war er noch wohlauf; allerdings ist der Brief schon am 25. geschrieben, und wie es seitdem mit ihm steht, wissen die Götter. Er hat meine Karte erhalten, und ich will ihm bald wieder Nachricht geben. Auch Clara [Zetkin] ließ mir eine Zeile zukommen.

Was ist es aber, daß Sie heute so tonlos und traurig schreiben? Ist irgendetwas passiert, oder täuscht mich mein Ohr? Hoffentlich lassen Sie mich gleich alles wissen, was Sie erfahren, ob es Gutes oder Böses ist; das Schlimmste von allem ist die Ungewißheit. Wie steht’s mit Grozi? [Leo Jogiches] Hat er seine Arbeit wieder aufgegeben oder mangelts an Energie?43 Sie wollten ihm ja Temperament beibringen. – Wie üblich habe ich noch einige Bitten in petto: 1) eine Tasse! und möglichst mit dem gleichen Muster: Palmblätter; jene schöne ist nämlich den Weg alles Fleisches gegangen; 2) das zweite Buch von Tugan-Baranowsky (Theoretische Grundlagen des Marxismus), steht bei mir auf dem großen Regal. Das alles hat natürlich Zeit bis zur nächsten Gelegenheit.

Noch eine kleine Unruhe plagt mich. Rechnen Sie denn mit meinem Kassierer [Leo Jogiches] ordentlich ab und notieren Sie auch alle die unzähligen Ausgaben?! Ich wäre Ihnen sehr dankbar für eine Beruhigung.

Vielen Dank für Ihre Kirschen, sie sind ein Meisterwerk, und ich habe heute, dank Ihnen, ein ferschtliches [sic] Abendbrot.

Ich umarme Sie und Mimi herzlich

Ihre R.

Eben bemerke ich an meinem Unterrock einen ganz neuen Gürtel. Was sind Sie für eine Zauberin, daß sich alles verjüngt in Ihrer Hand! Aber warum verschwenden Sie Ihre Zeit und Aufmerksamkeit auf soche [sic] elenden Lappalien? Das macht mich ganz unglücklich.44

Schließlich ging auch dieses Gefängnisjahr zu Ende.45 Rosa Luxemburgs Wohnung war in peinlichster Ordnung, Leo Jogiches war zufriedengestellt. Während des „großen Reinmachens“ hatte er es sich nicht nehmen lassen, von Zeit zu Zeit die Oberaufsicht zu führen, damit jeder Gegenstand seinen alten Platz erhielt.

Genau zu der Stunde, da Rosa Luxemburg ins Gefängnis eingeliefert worden war, um ½ 4 Uhr nachmittags, sollte sie entlassen werden. Sie hatte mich gebeten, sie abzuholen und nach Haus zu geleiten. Als ich Karl Liebknecht, der auf Urlaub in Berlin war, um an den Landtagssitzungen teilzunehmen, hiervon erzählte, wollte er mich begleiten. Ich kannte ihn als unpünktlich und drohte, nicht warten zu wollen. Doch obgleich ich verfrüht am Potsdamer Platz, dem Ort unserer Verabredung war, erwartete mich Karl Liebknecht bereits, mit so viel Blumen in den Händen, wie er halten konnte.

Viel zu früh auch nahmen wir eine Autotaxe, fuhren von Café zu Café, bestellten etwas und waren doch zu aufgeregt, um es zu verzehren. Dazu beschäftigte uns der Gedanke, wie die geplante Demonstration ausfallen würde. Die sozialistischen Frauen Berlins wollten es sich nicht nehmen lassen, Rosa Luxemburg beim Verlassen des Gefängnisses zu begrüßen. Da sie fürchteten, die Polizei könnte Absperrungsmaßnahmen vornehmen, hielt sich ein Teil von ihnen seit den frühen Morgenstunden in den Häusern der Barnimstraße und der angrenzenden Querstraßen verborgen. Wirklich sperrten Polizisten die Straßen, die zum Gefängnis führten, ab, als sie einen Zug Demonstrantinnen kommen sahen. Dieser Zug begab sich nunmehr in den nahegelegenen Friedrichshain. Die Genossinnen aber, die sich verborgen gehalten hatten, stürzten, als unser Wagen sich dem Gefängnis näherte, hervor und jubelten Karl Liebknecht zu, so daß die Schutzleute im Augenblick machtlos waren.

Als ich ins Gefängnis kam, vergaß ich unter dem Eindruck der gelungenen Sympathiekundgebung und vor lauter Aufregung zu Rosa Luxemburg zu gehen, bis die Vorsteherin kam und mich fragte, ob ich Frau Dr. Luxemburg nicht heimbringen wolle. „Sie haben sich so harmlos nach der Stunde der Entlassung erkundigt,“ fügte sie hinzu, „ich konnte mir nicht träumen lassen, daß solch ein Unfug inszeniert würde. Die Frauen täten besser, ihren Männern die Strümpfe zu stopfen und den Haushalt zu besorgen.“

Endlich stand ich vor Rosa Luxemburg. „Sie wollen mich wohl nicht holen, Mathilde? Sie sind doch schon lange hier und kommen nicht zu mir. Wir warten auf Sie, damit wir nach Haus fahren können.“ – Adolph Hoffmann46 hatte sich zu uns gesellt und brachte seiner Kampfgenossin einen Strauß roter Nelken. Auf die Frage, wie’s ihm ginge, meinte er in seiner originellen Art: „Mir geht’s gut, Rosa. Fünf ärzte im Lazarett konnten mich nicht zu Tode kurieren.“ – Die Vorsteherin bat uns, das Gefängnis durch den Lazarettausgang in der Weinstraße, der nicht von Menschen umlagert war, zu verlassen und ließ das Auto dort vorfahren. Wir gingen über den Lazaretthof. Die Krankenzellen dort haben etwas größere Fenster, die sich nicht, wie in den üblichen Gefangenenzellen, unterhalb der Zellendecke befinden, sondern in normaler Höhe angebracht sind. Aus allen diesen Fensterchen schauten die Insassen durch die Gitterstäbe und winkten mit Tüchern; Aufseherinnen sahen aus den Korridorfenstern; das Gefängnis war aufgestöbert, erregt, lebendig und seiner elenden, grauen Monotonie entrissen. – Karl Liebknecht wollte das Auto zum Friedrichshain fahren lassen. Wir baten, davon Abstand zu nehmen, da wir fürchteten, man könnte Rosa Luxemburg aufs neue verhaften. So fuhren wir den direkten Weg nach Südende.47

Begrüßungs- und Sympathietelegramme liefen ein, es kamen Freunde und Deputationen der Berliner Wahlkreise mit Blumen und Geschenken. Sie waren für die damalige Zeit recht kostbar und bestanden aus Mehl, Reis, Gries, Eingewecktem oder was sonst die Frauen für ihre verehrte Führerin aufgespart hatten, damit sie wenigstens in den ersten Monaten bequemer leben könnte. „Mathilde, Sie müssen nachdenken, wem ich von den Lebensmitteln abgeben kann,“ sagte Rosa Luxemburg am Abend jenes Tages. Sie wollte, während andere Not litten, so viel nicht für sich behalten. Als sie ermüdet aber zufrieden in ihrem Bett lag, meinte sie, wohl der zurückgelassenen Leidensgenossinnen gedenkend: „Ach, warum habe gerade ich es so gut?“

Obgleich größte Schonung am Platze gewesen wäre, arbeitete Rosa Luxemburg, ohne sich Erholung zu gönnen. Oft schrieb sie ihre Manuskripte unter heftigen Schmerzen. Sagte ich dann: „Rosa, vielleicht ruhen Sie ein wenig,“ so antwortete sie: „Ich nehme keine Notiz von den Schmerzen. Ich tue so, als ob sie mich nichts angingen und kann dann sehr gut arbeiten.“ Ich blieb häufig nachts in Südende. Die Wohnung hatte ein hübsches Fremdenzimmer, das mir Rosa Luxemburg einräumte. Ich sorgte meist nur dafür, daß die übrigen Räume in Ordnung waren. Für mein Zimmer nahm ich mir wenig Zeit. Eines Tages fand ich es gründlich gesäubert, einige neue Bücher auf dem Tisch und frische Blumen in Vasen und Schalen. „Ja“, sagte Rosa Luxemburg, „das Zimmer habe ich gescheuert und geputzt, darauf verstehe ich mich. Meine Zelle war sauber wie ein Schmuckkästchen.“ – Zu jener Zeit waren Leo Jogiches und Karl Liebknecht die häufigsten Gäste in Südende. Manchmal begleitete Sonja Liebknecht48 ihren Mann. Dann gab es schöne Stunden, die Politik wurde ausgeschaltet, nach kurzer Unterhaltung wurde vorgelesen, meist Goethe.

Karl Liebknecht hatte mich seit Jahren zu politischen Hilfsarbeiten herangezogen. Ich bewunderte seinen Mut und seine Ausdauer, ich schätzte seine stets gleichmäßige, freundliche und kameradschaftliche Art.49 – Die Zusammenarbeit zwischen ihm und Rosa Luxemburg wurde immer enger. Insgeheim wünschte ich, beide wären weniger unzertrennlich gewesen. Auch wuchs die politische Bedeutung Karl Liebknechts über ihn hinaus, stets wurde er mit Rosa Luxemburg gemeinsam genannt. Sein politisches Auftreten wurde immer kühner, oft aber waren seine Handlungen tollkühn und nicht frei von Eitelkeit.50 Gelegentlich sprach ich mit Rosa Luxemburg kritisch über Karl Liebknecht, und sie sagte daraufhin: „Vergleichen Sie ihn nicht mit Leo Jogiches, wie Sie es zu tun pflegen, vergleichen Sie ihn mit deutschen Genossen und Sie werden sehen, wie hoch er über ihnen steht. Außerdem sollten Sie Lassalle fleißig lesen, Sie können viel dabei lernen; auch er war eitel.“ – Sie selbst kannte ihren Lassalle und liebte ihn.

Rosa Luxemburg hat jeden neuen Lenz mit gleichem Entzücken begrüßt. In jenem Frühjahr aber, als sie die enge Kerkerzelle verlassen hatte, erfüllte sie das Grünen und Knospen mit besonderer Freude, und jubelnd zog sie das erste Ehrenpreis aus seinem Versteck hervor. – Nach einem Spaziergang mit Karl Liebknecht sagte sie zu mir: „Ich wußte nicht, daß Karl ein so guter Botaniker ist. Der arme Kerl hat bis jetzt immer ventre à terre gelebt, ich werde ihn davon zu heilen wissen.“ – Manchmal fuhr Rosa Luxemburg in früher Morgenstunde mit mir nach dem schönen Lichtenrade. Gelegentlich begleitete uns Leo Jogiches. Rosa Luxemburg hatte sich ihm gegenüber so weit durchgesetzt, daß sie sich um den Genuß von Spaziergängen, von Theater- oder Konzertbesuchen nicht bringen ließ. Einer ihrer erklärten Lieblinge war Mozart. Mit großem Genuß hörte sie immer wieder „Figaros Hochzeit“. Hugo Wolfs Goethe-Vertonungen liebte sie sehr; sie las und sammelte alles, was über Wolf erschienen war.

Einige Male reiste sie zu illegalen Zusammenkünften ins Reich, um Referate über die politische Lage zu halten. Die dann geführte Diskussion führte zur Klärung und zum politischen Verstehen der Hörer. Es bereitete Rosa Luxemburg Freude, wieder persönlich mit Parteifreunden Fühlung zu nehmen. Sehr zufrieden kam sie von einer Reise aus Süddeutschland zurück. In Stuttgart war sie einige Tage bei Clara Zetkin geblieben. Es war das letzte Wiedersehen zwischen beiden.51 Auch Paul Levi hatte sie aufgesucht. Er lag von Kriegsstrapazen krank in Königstein im Taunus. Ich habe ihm auf Rosa Luxemburgs Wunsch gleich nach dem Herauskommen die „Junius-Broschüre“ geschickt. „Das erste Buch, das ich wieder gelesen habe,“ schrieb er mir, „meine Kräfte wollten zum Lesen nie ausreichen. Diese Schrift aber habe ich, ohne sie aus der Hand zu legen, ausgelesen. Sie ist grandios!“52

Auf der illegalen Reichskonferenz, die die Spartakus-Gruppe am 1. Januar 1916 in Berlin abgehalten hatte, wurde eine erhöhte politische Aktivität beschlossen. Als politische Plattform wurden von den Delegierten 6 Leitsätze angenommen. Diese Leitsätze, die eine Anwendung des Erfurter Programms auf die derzeitigen Probleme des internationalen Sozialismus darstellten, waren von Rosa Luxemburg verfaßt, und der eine oder andere Leitsatz wurde fortab Flugblättern und Artikeln vorangesetzt. Zum ersten Mal gedruckt erschienen diese Leitsätze im Anhang der Junius-Broschüre.

Als erste größere Aktion des Spartakus-Bundes war eine Demonstration vorbereitet, an der sich die „Arbeitsgemeinschaft“ nicht geschlossen beteiligte. Einige ihrer Führer befanden sich unter den Demonstranten, andere sah man als Zuschauer auf dem Balkon eines Cafés, wieder andere hatten die Aktion abgelehnt. Aber die Arbeiter, auf die es ankam, waren zahlreich zur Stelle. Sie waren in den Betrieben durch Handzettel nachstehenden Wortlauts aufgefordert worden:

Zum 1. Mai. Abends 8 Uhr.
Wer gegen den Krieg ist, erscheint am 1. Mai,
abends 8 Uhr, Potsdamer Platz (Berlin).

Karl Liebknecht war trotz vielseitiger Bitten nicht davon abzubringen, sich der Menge zuzugesellen. So schloß sich ihm auch Rosa Luxemburg an.

„Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“

rief Karl Liebknecht wiederholt in die vielköpfige Menge.53 Plötzlich bemerkte ich, daß Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht neben Polizisten einherschritten. Ich sah, wie die Büttel mit Gummiknüppeln schlugen und hörte empörte Rufe: „Schämt euch, einen Hilflosen zu lagen [sic]!“ Karl Liebknecht wurde in die Polizeiwache des Potsdamer Bahnhofs gebracht, und Rosa Luxemburg ging freiwillig mit. Es war mir gelungen, ihnen bis zur Tür der Wache zu folgen. Nach kurzer Zeit kam Rosa Luxemburg auf mich zu: „Hier bin ich, Mathilde.“ „Sie wollten doch verhaftet werden Rosa. Hat man sie freigegeben? Wo ist Karl?“ „Kommen Sie nur, wir demonstrieren jetzt. Karl ist noch im Polizeibureau, aber als Abgeordneter ist er immun, er wird bald wieder da sein.“ Wir mischten uns unter die Demonstranten, während die Schutzleute bemüht waren, die Massen auseinanderzutreiben; der Straßendamm war angefüllt mit berittener Polizei, die ihre Pferde zwischen die Menge trieb. Die aber hielt tapfer aus und stimmte immer wieder neue Kampflieder an.

Nachdem es der Polizei gelungen war, die Demonstanten [sic] in die Seitenstraßen abzudrängen, so daß der Zug sich auflösen mußte, gingen wir in die Redaktion des „Vorwärts“, um Parteifreunde zu bitten, Karl Liebknecht von der Polizei herauszufordern. Wir trafen jedoch niemanden an, der uns hätte helfen können. Endlich hatten wir Hugo Haase telephonisch erreicht. Er begleitete uns zum Alexanderplatz-Gefängnis, da wir ausgekundschaftet hatten, daß Karl Liebknecht dorthin gebracht worden war. Im Gefängnis wurde nachts – es war inzwischen Mitternacht geworden – kein Bescheid erteilt. Müde und erschöpft fuhren wir heim. – In der Frühe des nächsten Morgens begab sich Rosa Luxemburg zu Sonja Liebknecht, um sie von der Verhaftung ihres Mannes in Kenntnis zu setzen. Wie immer hatte Karl Liebknecht sein Arbeitszimmer abgeschlossen. Während beide Frauen noch beratschlagten, wie sie in das Zimmer gelangen könnten, um alles „Kompromittierende“ fortzuschaffen, erschienen Kriminalbeamte. Das Zimmer wurde gewaltsam erbrochen, und man beschlagnahmte zurückgebliebene 1. Mai-Flugblätter. Der Text dieses Flugblattes, der aus Rosa Luxemburgs Feder stammt, lautet:

Auf zur Maifeier.

3. In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats.

4. Die Pflicht der Ausführung der Beschlüsse der Internationale geht allen anderen Organisations pflichten voran.

(Leitsätze.)

Genossen und Genossinnen!

Zum zweiten Male steigt der Tag des 1. Mai über dem Blutmeer der Massenmetzelei auf. Zum zweiten Male findet der Weltfeiertag der Arbeit die proletarische Internationale in Trümmer geschlagen, während die Kämpferscharen des völkerbefreienden Sozialismus als widerstandsloses Kanonenfutter des Imperialismus einander abschlachten.

Die sozialistische Internationale liegt seit zwei Jahren danieder, und was haben die Arbeiter aller Länder, was haben die Völker gewonnen? Millionen von Männern haben bereits ihr Leben gelassen auf Geheiß der Bourgeoisie. Millionen sind für Lebenszeit zu elenden Krüppeln geschlagen. Millionen von Frauen sind zu Witwen, ihre Kinder zu Waisen gemacht, in Millionen Familien sind unstillbares Leid und Trauer eingezogen. Nicht genug! Not und Elend. Teuerung und Hungersnot herrschen in Deutschland, Frankreich, Rußland. Belgien, aber Polen und Serbien, die von dem Vampir des deutschen Militarismus bis aufs Blut und bis aufs Mark der Knochen ausgesogen werden, gleichen großen Friedhöfen und Trümmerhaufen. Die ganze Welt, die vielgerühmte europäische Kultur gehen zugrunde in der entfesselten Anarchie des Weltkrieges.

Und zu wessen Nutz und Frommen, zu welchem Zwecke all diese Schrecken und Bestialitäten? Damit die ostelbischen Junker und die mit ihnen versippten kapitalistischen Profitmacher durch Unterjochung und Ausbeutung neuer Länder ihre Taschen füllen können. Damit die Scharfmacher von der schweren Industrie, die Heereslieferanten von den blutigen Leichenfeldem goldene Ernten in die Scheunen schleppen. Damit Börsenjobber mit Kriegsanleihen Wuchergeschäfte treiben. Damit Lebensmittelspekulanten sich auf Kosten des hungernden Volkes mästen. Damit der Militarismus, die Monarchie, die schwärzeste Reaktion in Deutschland zur nie dagewesenen Macht, zur ungeteilten Herrschaft empor steigen.

Um ihre schlimmsten Feinde stark und übermütig zu machen, läßt sich die Arbeiterklasse wie eine Herde Schafe zur Schlachtbank treiben. Und die blutige Orgie findet gar kein Ende, ja, sie dehnt sich immer weiter aus! Morgen vielleicht wird sich der Völkermord auf neue Länder und Weltteile erstrecken. Die deutschen Kriegshetzer treiben mit Macht zum Kriege mit den Vereinigten Staaten. Morgen vielleicht sollen wir das Mordeisen gegen neue Bruderscharen: gegen die Brust unserer amerikanischen Arbeits- und Kampfgenossen zücken!

Arbeiter! Parteigenossen! Ihr Frauen des Volkes! Wie lange wollt Ihr dem Spuk der Hölle ruhig und gelassen zusehen? Wie lange wollt Ihr stumm die Verbrechen der Menschenmetzelei, die Not und den Hunger ertragen? Bedenkt, solange sich das Volk nicht rührt, um seinen Willen kundzutun, wird der Völkermord nicht aufhören. Oder aber er hört erst dann auf, wenn alle Länder an den Bettelstab gebracht, wenn alle Völker zugrunde gerichtet sind, wenn von der sogenannten Kultur nicht ein Stein auf dem andern geblieben ist. Die Reichen können noch lange den Krieg „durchhalten“. Sie leiden keinen Hunger, sie haben üppige Vorräte eingehamstert, sie machen ja die schönsten Geschäfte bei der Metzelei, sie stärken ihre politische Herrschaft durch den Selbstmord der Arbeiterklasse. Aber wir, aber das arbeitende Volk aller Länder, wollen wir noch lange mit eigenen Händen unsere Ketten fester schmieden?

Arbeiter, Parteigenossen! Genug des Brudermordes! Der 1. Mai kommt als Mahner, er pocht an Eure Herzen, an Eure Gewissen. Der Verrat am Sozialismus, an der internationalen Solidarität der Arbeiter hat die Völker ins Verderben des Weltkrieges gestürzt. Nur die Rückkehr zum Evangelium des völkerbefreienden Sozialismus, zur proletarischen Internationale kann die Völker, kann die Kultur, die Arbeitersache aus dem Abgrund retten. Zeigt denn am 1. Mai, daß dieses Evangelium in Euren Herzen und Hirnen lebt. Beweist den herrschenden Klassen, daß die Internationale, daß der Sozialismus nicht tot sind, daß sie mit neuer Kraft wie ein Phönix aus der Asche emporsteigen! Die proletarische Internationale kann nicht in Brüssel, in Haag oder in Bern durch ein paar Dutzend Leute wieder aufgerichtet werden. Sie kann nur aus der Tat der Millionen auferstehen. Sie kann nur hier in Deutschland wie drüben in Frankreich, in England, in Rußland auferstehen, wenn die Massen der Arbeiter allenthalben selbst die Fahne des Klassenkampfes ergreifen und ihre Stimme mit Donnergewalt gegen den Völkermord erschallen lassen.

Arbeiter, Parteigenossen und Ihr Frauen des Volkes! Laßt diesen zweiten Maifeiertag des Weltkrieges nicht vorübergehen, ohne ihn zur Kundgebung des internationalen Sozialismus, zum Protest gegen die imperialistische Metzelei zu gestalten.

Am 1. Mai reichen wir über alle Grenzsperren und Schlachtfelder hinweg die Bruderhand dem Volke in Frankreich, in Belgien, in Rußland, in England, in Serbien, in der ganzen Welt! Am 1. Mai rufen wir vieltausendstimmig:

Fort mit dem ruchlosen Verbrechen des Völkermordes! Nieder mit seinen verantwortlichen Machern, Hetzern und Nutznießern! Unsere Feinde sind nicht das französische, russische Volk, sondern das sind deutsche Junker, deutsche Kapitalisten und ihr geschäftsführender Ausschuß: die deutsche Regierung. Auf zum Kampfe gegen diese Todfeinde jeglicher Freiheit, zum Kampfe um alles, was das Wohl und die Zukunft der Arbeitersache, der Menschheit und der Kultur bedeutet!

Schluß mit dem Kriege! Wir wollen Frieden!

Hoch der Sozialismus! Hoch die Arbeiter-Internationale!

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!54

Auf Grund dieses zu vielen Tausenden verbreiteten Flugblatts, und weil Karl Liebknecht auf „frischer Tat ertappt worden war“, wie das Ausnahmegesetz hinsichtlich der Immunität von Abgeordneten lautet, wurde er vom Alexanderplatz nach dem Zellengefängnis in der Lehrter Straße gebracht und ihm der Prozeß gemacht. Jetzt begannen für Rosa Luxemburg schwere Tage. Ein großer Teil der von Karl Liebknecht geleisteten politischen Arbeit mußte von ihr übernommen werden. Sie stand Sonja Liebknecht hilfreich zur Seite und war bemüht, durch überbringung von Büchern den Gefangenen die Öde des Kerkers vergessen zu lassen. Sie konferierte mit Theodor Liebknecht, dem Bruder Karls, über die zu ergreifenden juristischen Maßnahmen.

Der erste Verhandlungstag im Juli 1916 brachte – nicht unerwartet – das Urteil: 2 ½ Jahre Zuchthaus! An diesem Tage streikten und demonstrierten Berliner Arbeiter für ihren Karl Liebknecht. Vertrauensleute der „Arbeitsgemeinschaft“ und des „Spartakus-Bundes“, die in den Betrieben hierfür agitiert hatten, wurden ins Gefängnis oder in den Schützengraben geschickt. Karski und nach ihm der greise Franz Mehring waren vorher in Haft genommen worden. – Rosa Luxemburg beantwortete das Urteil mit einem Flugblatt, das im ganzen Deutschen Reich und auch an der Front verbreitet wurde:

2 ½ Jahre Zuchthaus!

Arbeiter! Parteigenossen!

Der Streich ist gefallen! Zu 2 ½ Jahren Zuchthaus haben sie unseren Karl Liebknecht verurteilt. Weil er rief: Nieder mit dem Kriege! stecken ihn die Kriegsknechte in die Zuchthausjacke. Weil er für die Verbrüderung der Völker am 1. Mai demonstrierte, soll er im Hause der Verworfenen schmachten. Weil er für das Volk um Brot und Freiheit kämpfte, haben sie ihn in Ketten geschlagen.

Genossen! Werden wir das Schandurteil ruhig hinnehmen? Werden wir uns den blutigen Faustschlag ins Gesicht gefallen lassen?

Arbeiter! Ihr Frauen des Volkes!

Heraus aus den Betrieben!

Ein machtvoller Proteststreik im ganzen Reich zeige der Säbeldiktatur, daß das deutsche Volk aufgehört hat, sich wie ein Hund zu ducken. Wir haben satt den Völkermord und seine Greuel! Wir haben satt die Not, den Hunger und das Halseisen des Belagerungszustandes. Die Herrschenden sollen erfahren, daß hinter Liebknecht Hundertausende, Millionen stehen, die ebenso wie er rufen:

Nieder mit dem Kriege! Wie ein Donner soll dieser Ruf im ganzen Reich einschlagen und in die Schützengräben rollen. Wir wollen dann sehen, ob die Schergen es wagen werden, an ihrem Schandurteil festzuhalten. Noch einmal: Ihr Arbeitsmänner und Frauen, heraus zum Proteststreik!

Hoch der Zuchthäusler Liebknecht!

Nieder mit dem Kriege!

. . . . . . .

Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht!

Die deutsche Arbeiterschaft ist erwacht! Der Stein ist ins Rollen gekommen. Mit diesem ersten Proteststreik ist der Kampf nicht zu Ende. Arbeiter, haltet euch bereit zum neuen Handeln! Der Polizeiknüppel kann euch von der Straße wegjagen, aber keine Macht der Erde kann euch zwingen, in die Betriebe zu gehen!

Hoch Liebknecht! Nieder mit dem Kriege!55

Nachdem das Urteil in zweiter Instanz im August 1916 noch drakonischer ausgefallen war, rief man die Arbeiter in den Betrieben wieder zum Proteststreik auf. Es wurden Handzettel folgenden Inhalts verbreitet:

Arbeiter! Klassengenossen!

Karl Liebknecht, der mutige und rücksichtslose Vorkämpfer für die Befreiung der Arbeiter, für Frieden und Menschlichkeit, ist am 23. August zu 4 Jahren 1 Monat Zuchthaus und zu 6 Jahren Ehrverlust verurteilt worden.

Dieses Schänd- und Bluturteil ist eine maßlose Herausforderung, ein Faustschlag ins Gesicht der deutschen Arbeiterklasse.

Auf zum Kampf! Auf zum Protest! Legt die Arbeit nieder, verlaßt die Werkstätten und Fabriken! Mann der Arbeit aufgewacht!

Und erkenne deine Macht!

Alle Räder stehen still,

Wenn dein starker Arm es will.

Hoch Liebknecht! Nieder mit dem Völkermord!

Friede, Freiheit, Brot!

(Von Donnerstag, den 31. August an, die Arbeit einstellen!)56

Der Streik wurde am festgesetzten Tage durchgeführt. Eine machtvolle Demonstration der Arbeiterschaft protestierte gegen das Klassenurteil. Am 4. November erschien Karl Liebknecht zum dritten Mal vor Gericht. Das Urteil blieb bestehen. Jetzt wurde er von der Lehrter Straße in das Zuchthaus nach Luckau gebracht. Einmal im Monat durfte ihn Frau Sonja mit den Kindern besuchen. Von ihren Qualen gibt der folgende Brief ein anschauliches Bild:

Steglitz, 11. Januar 1917.

Liebe Mathilde,

. . . in Luckau hört die Gemütlichkeit auf – Karl wurde wie ein wildes Tier oder wie ein Affe uns hinter einem hohen Drahtnetz gezeigt – er ist ganz geschoren, absolut nicht zu erkennen, ernst und unruhig. – Nachher hat dieser Hund von Aufseher das Drahtnetz aufgemaccht [sic], so daß wir uns verabschieden konnten wie sich’s gehört – bis Anfang April. – Das Ganze ist eine Erfindung des Teufels, ein Alpdruck, etwas absolut Unmögliches und Unfaßbares – man möchte schreien und toben bis man tot zusammensinkt oder ich weiß selbst nicht was. – Aber – die Leute halten es aus – es ist nicht zu glauben, aber sie halten es aus – und das ist, was mich „beruhigt“! – Und außerdem – man kann nichts machen – nur abwarten. Sagen Sie Rosa, daß Karl gefragt hat, wie es ihr geht und sie besonders grüßen läßt. – Es geht ihm überhaupt, wie er behauptet, nicht schlecht – sondern gut – und darauf kommt es schließlich an. –

Ich lege einen Brief an Rosa bei – wenn’s geht, geben Sie ihn ihr, aber nur wenn’s geht – . . .

Viele Grüße – auf Wiedersehen

Sonja Liebknecht.57

Die Berliner politische Polizei konnte kaum im Zweifel sein, daß Streik und Demonstration nach dem Liebknecht-Urteil das Werk Rosa Luxemburgs waren, doch fehlten die Beweise, und die Indizien reichten nicht aus. Auch der bei einer Haussuchung in ihrer Wohnung vorgefundene Korrekturabzug des hier folgenden Flugblatts, das zu jener Zeit in Betrieben und Schützengräben verbreitet worden war, bewies nichts. So mancher tapfere Genosse hat freilich für die Verbreitung im Gefängnis oder an der Front gebüßt.

Hunger!

3. In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats . . .

4. Die Pflicht zur Ausführung der Beschlüsse der Internationale geht allen anderen Organisations pflichten voran . . .

(Leitsätze.)

Was kommen mußte, ist eingetreten: Der Hunger. In Leipzig, in Berlin, in Charlottenburg, in Braunschweig, in Magdeburg, in Koblenz und Osnabrück, an vielen anderen Orten gibt es Krawalle der hungernden Menge vor den Läden mit Lebensmitteln. Und die Regierung des Belagerungszustandes hat auf den Hungerschrei der Massen nur die Antwort: verschärften Belagerungszustand. Polizeisäbel und Militärpatrouillen.

Herr von Bethmann Hollweg klagt England des Verbrechens an, den Hunger in Deutschland verschuldet zu haben und die Kriegsdurchhalter und Regierungszuhälter schwatzen es nach. Indessen die deutsche Regierung hätte wissen müssen, daß es so kommen mußte: Krieg gegen Rußland, Frankreich und England mußte zur Absperrung Deutschlands führen. Es war auch stets Brauch unter den edlen Brüdern im Kriege, einander wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, die Zufuhr von Lebensmitteln abzusperren. Der Krieg, der Völkermord ist das Verbrechen, der Aushungerungsplan nur eine Folge dieses Verbrechens.

Die bösen Feinde haben uns „eingekreist“, plärren die Kriegsmacher. Warum habt ihr eine Politik gemacht, die zur Einkreisung führte? ist die einfachste Gegenfrage. Jede imperialistische Raubpolitik ist ein Verbrechen und eine solche Politik trieben alle Staaten. Die deutsche Regierung aber betrieb eine imperialistische Politik, bei der sie alle Staaten anrempelte, mit allen in Konflikt kam und schließlich, nur noch mit dem österreichischen Staatskadaver und der rettungslos bankrotten Türkei verbündet, gewaltsam den Weltkrieg anzettelte.

Auf die verbrecherische Anzettelung des Weltkrieges wurde ein weiteres gehäuft: die Regierun tat nichts, um dieser Hungersnot zu begegnen. Warum geschah nichts? Weil den Regierungssippen, den Kapitalisten, Junkern, Lebensmittelwucherern der Hunger der Massen nicht wehe tut, sondern zur Bereicherung dient. Weil, wenn man von Anfang an den Kampf gegen Hunger und Not durch ernsthafte Maßnahmen aufgenommen hätte, den verblendeten Massen der furchtbare Ernst der Lage klar geworden wäre. Dann wäre aber die Kriegsbegeisterung alsbald verrauscht.

Deshalb hat man die Volksmassen mit Siegestriumphgeheul betäubt und sie gleichzeitig den agrarischen und kapitalistischen Lebensmittelwucherern ausgeliefert.

Mit dem Geschrei vom „Durchhalten“, bei dem die Scheidemänner und Konsorten der Regierung feile Dienste leisteten, hat man versucht, die Massen um jede Besinnung zu bringen. Die herrschenden Klassen wollten ihre wahnsinnigen Annexionsgelüste nicht preisgeben, und man belog das Volk, indem man ihm vorredete: Wenn wir durchhalten, wird Deutschland den Frieden diktieren und die Welt beherrschen.

Man hat uns vorgelogen: die deutschen U-Boote werden Englands Zufuhr abschneiden, England werde um Frieden winseln und damit werde der Krieg beendet – Märchen für Kinder sind das. Der U-Bootkrieg hetzt Deutschland neue Feinde auf den Hals; aber an eine Abschneidung der Zufuhren Englands ist nie und nimmer zu denken, auch wenn Deutschland zehnmal mehr U-Boote hätte.

Dann hat man uns vorgemacht: der Vorstoß nach dem Balkan werde Deutschland Luft schaffen, Lebensmittel in Hülle und Fülle werde man aus der Türkei erhalten. Man log bewußt, denn alle Einsichtigen wissen, daß die Türkei nichts liefern kann, daß in Konstantinopel und den Küstenstädten Kleinasiens Mangel herrscht, daß die türkische Regierung ihre Armee nicht mehr ernähren kann.

Jetzt vertröstet man uns auf die kommende Ernte: Alle Not werde ein Ende haben, wenn die neue Frucht da ist. Auch das ist bewußter Schwindel. Die einfache Rechnung sagt: In zweiundzwanzig Kriegsmonaten wurden zwei Ernten verzehrt, außerdem die großen Vorräte an Viehfutter, Zucker und anderen Produkten, die zu Kriegsbeginn im Lande lagerten; ferner alles was in den besetzten Gebieten in Belgien, in Nordfrankreich, Polen, Litauen, Kurland, Serbien an Lebensmitteln „requiriert“ wurde; schließlich noch das, was aus Holland und den skandinavischen Ländern eingeführt werden konnte. Jetzt gibt es nichts mehr. Die besetzten Gebiete sind kahlgefressen, die Menschen sterben bereits Hungers in Polen und in Serbien. Die neutralen Staaten sperren die Ausfuhr hermetisch ab, weil sie selbst Mangel leiden. Die einheimische Ernte kann nicht viel liefern, denn die Felder wurden aus Mangel an Arbeitskräften, an Dünger und Saatgut schlecht bestellt. Die Viehbestände sind gering.

Ein „Lebensmitteldiktator“ soll für gute Verteilung sorgen; zu spät! Die Lebensmittelwucherer haben ihr Werk vollbracht. Packt man sie jetzt an der Gurgel, so hilft nichts. Es gibt nicht mehr so viel zu „verteilen“, daß man das Volk satt machen kann.

Das ist die nackte Wahrheit.

Man hat das Volk in den Krieg gehetzt, bei dem die Zufuhr abgeschnitten wurde; kapitalistische Verbrecher haben unter Duldung der Regierung das übrige getan.

Was soll werden? Man kann noch ein halbes Jahr, vielleicht ein ganzes Jahr Krieg führen, indem man die Menschen langsam verhungern läßt. Dann wird aber die künftige Generation geopfert. Zu den furchtbaren Opfern an Toten und Krüppeln der Schlachtfelder kommen weitere Opfer an Kindern und Frauen, die infolge des Mangels dem Siechtum verfallen.

Und auch dann gibt es noch kein Ende, denn dieser Krieg kann nicht mehr mit Waffengewalt entschieden werden, wenn er auch noch ein Jahr oder zwei dauert. Der deutsche Militarismus steckt nach allen seinen „Siegen“ in der Sackgasse. Wenn jetzt der Krieg noch fortdauert, so ist es einzig und allein, weil die Volksmassen sich die Infamie geduldig gefallen lassen.

Männer und Frauen des arbeitenden Volkes, wir alle tragen die Verantwortung.

Entweder verharren die arbeitenden Massen in stumpfsinnigem Gleichmut – dann ist die Folge langes Siechtum und elendes Verderben; oder das Proletariat rafft sich auf, verweigert dieser Regierung und diesen herrschenden Klassen die Dienste und erzwingt den Frieden.

Es gibt keine Wahl. Es gilt die Tat. Rafft euch auf, ihr Männer und Frauen! Gebt euren Willen kund, laßt eure Stimme erschallen:

Nieder mit dem Kriege!

Hoch die internationale Solidarität des Proletariats!58

Für die ersten Tage des Juli 1916 war Rosa Luxemburg von Leipziger Genossen gebeten worden, an internen Besprechungen teilzunehmen und einige politische Referate im engsten Kreise zu halten.59 Am 9. Juli erwarteten wir sie zurück. Als ich am Vormittag dieses Tages, es war ein Sonntag, zu ihrer Wohnung hinaufstieg, begegneten mir zwei Männer auf der Treppe. Sie standen plötzlich neben mir, als ich die Korridortür aufschließen wollte, stellten sich als Neuköllner Parteigenossen vor und baten, da sie Wichtiges zu bestellen hätten, mit in die Wohnung kommen zu dürfen. Hier erklärte mir einer von ihnen, der uns auch später noch ärgernis bereiten sollte, er sei gekommen, um ein Flugblatt in Auftrag zu geben, er müsse Frau Luxemburg unbedingt sprechen. Ich war erstaunt, denn solche Dinge wurden mit weit größerer Vorsicht und niemals durch Dritte erledigt. Ich bat, mir die Mission zu übertragen, damit ich sie übermittele. Das ginge nicht, meinte der Mann, er müsse Frau Luxemburg unbedingt selbst sprechen. Ich erklärte ihm, ich wüßte nicht, wann sie zurückkäme, er solle sich später telephonisch erkundigen, damit er den Weg nicht vergeblich mache.

Am Nachmittag kehrte Rosa Luxemburg heim. Der Kunsthistoriker Eduard Fuchs60 und der Vorwärtsredakteur Dr. Ernst Meyer61 hatten sie von der Bahn abgeholt und nach Hause begleitet. Ich erzählte von dem merkwürdigen Besuch, der besonders Eduard Fuchs verdächtig erschien.62 In der Nacht ließ sich Rosa Luxemburg meinen Bericht durch den Kopf gehen; es stand bei ihr fest, daß ich es mit Spitzeln zu tun gehabt hatte. Am nächsten Morgen in aller Frühe kamen die zwei Individuen wieder und legitimierten sich als Kriminalbeamte, indem sie ihre Erkennungsmarken zeigten. Ich war erschrocken; aber seit der Zeit hat mich kein Spitzel mehr hereinlegen können. – Der eine von den Männern, der das Wort am Tage vorher geführt hatte, ging sofort an den Schreibtisch, um ihn zu durchsuchen. Die Bitte Rosa Luxemburgs, man möge warten, bis sie angekleidet sei – die Spitzel hatten sie aus dem Schlaf geschreckt– wurde geflissentlich überhört. Der Spitzel benahm sich flegelhaft, auch wollte er die Tür zum Schlafzimmer gewaltsam öffnen, obgleich er gesehen hatte, daß Rosa Luxemburg nur mit einem Nachthemd bekleidet war. Um mich noch schnell mit ihr zu verständigen, brachte ich ihr Wasser und leistete ihr andere kleine Dienste. Es wurde mir nicht gestattet ans Telephon zu gehen, als es läutete. Die Backware für den Tee mußte ich in Begleitung des anderen Spitzels holen.

Nach dem Frühstück legte ich die notwendigsten Sachen in ein Köfferchen. Da es für Rosa Luxemburg zu schwer war, durfte ich mitgehen. Wir fuhren mit der Vorortbahn bis zum Potsdamer Platz. Hier nahmen die Beamten, die mich los sein wollten, eine Autodroschke und brachten Rosa Luxemburg nach etwa 4 ½monatiger Freiheit wieder in das Frauengefängnis nach der Barnimstraße. – Da die Regierung beweiskräftiges Material für eine Anklage nicht besaß, war es unmöglich, Rosa Luxemburg einen Prozeß zu machen. Aber die famose Schutzhaft bestand ja, die jetzt ohne weiteres über eine so „staatsgefährliche“ Person verhängt wurde.63

Die Bedingungen für Schutzhaftgefangene waren besser als die für Strafgefangene. Man durfte Nahrungsmittel bringen, Blumen, Bücher und Gegenstände, die die Zelle wohnlicher gestalteten. Auch Briefe in mäßigem Umfange zu schreiben und zu empfangen war gestattet. Meine Mutter übernahm es, nach ärztlicher Vorschrift für Rosa Luxemburg zu kochen. Wir schickten ihr täglich das Mittagbrot und legten für die übrigen Mahlzeiten nach Möglichkeit etwas hinzu. Auch Freunde halfen.64 Kurze schriftliche Grüße, die mit dem Essen abgegeben wurden, gelangten meist unzensuriert in Rosa Luxemburgs Besitz. Auch sie sandte mit dem leeren Geschirr Zettelchen, auf denen ihre Wünsche oder kurze Mitteilungen standen. Beispielsweise:

Ich wartete heute umsonst, bin sehr traurig. Kleesträußchen für Lek. [Karl Liebknecht im Lehrter-Straßen-Gefängnis]

Kuß.

Heu und Gras sind für Mimi. Grüße R

Wein mit Dank zurück. Bitte ihn an Lek. zu geben, ich trinke keinen.

Kuß

Die Büchlein haben mich enttäuscht. [Es war keine Geheimnachricht hineingeschmuggelt]

Kuß zum Sonntag.

Am Weihnachtsheiligabend lagen kleinen Gaben die Worte bei:

Für meine Tochter Mimi und für Mathildes Mutter mit tausend Weihnachts- und Neujahrsgrüßen.

R

Ich hatte von der Kommandantur, der die Schutzhaftgefangenen unterstanden, generelle Erlaubnis bekommen, Rosa Luxemburg einmal in der Woche für eine Stunde zu besuchen. Diese Sprechstunde überwachte zu Anfang ein Beamter, der aus dem Polizeipräsidium entsandt wurde. Eines Tages wurde er durch den Spitzel abgelöst, der sich bei der Verhaftung Rosa Luxemburgs so übel benommen hatte. Vorerst ließ auch er die Unterhaltungen eine Stunde währen, doch legte er stets ein herausforderndes Benehmen an den Tag. Er flegelte sich auf den Stuhl hin und beobachtete uns mit unverschämten Blicken, so daß wir nur mit Mühe bei der Sache bleiben konnten. Ich wünschte sehnlichst, von diesem Spitzel befreit zu werden und rechnete damit, daß die Kommandantur sich auf die Dauer nicht die Umstände machen würde, stets einen Beamten aus dem Polizeipräsidium zu entsenden. Denn wir sprachen nur über private Angelegenheiten, über Freunde, Bücher, Theater oder sonstige harmlose Geschehnisse. In der vorletzten Sprechstunde, die dieser Spitzel mit uns abhielt, hatte ich Rosa Luxemburg eine Rose gebracht, die sie ins Wasser stellte. Sie reichte auch mir ein Glas mit Wasser, damit ich einige Gräser, die sie für mich auf dem Hof gepflückt hatte, hineintun möge. Darob hatte der Spitzel einen großen Mund und meinte, es sei keine Manier, Blumen in Trinkgläser zu tun, eine Gefangene hätte sich der Hausordnung strikte [sic] zu fügen. Rosa Luxemburg gab ihm, wie stets hierauf keine Antwort. Sie hatte auch mich gebeten, nie etwas zu entgegnen. Wir nahmen uns sehr zusammen und empfanden das Betragen dieses Spitzels als eine moralische Tortur. Am Vorabend jedes Besuches war ich niedergeschlagen und überlegte, ob wir auf sie nicht lieber verzichten sollten und Klage darüber führen. Als dieser Spitzel wieder Sprechstunde mit uns abhielt – es sollte die letzte bei ihm sein – sah Rosa Luxemburg zu Beginn der Unterhaltung auf die Uhr und sagte zu mir, sie wolle nach schauen, damit sie nicht zu kurz mit der Zeit wegkomme. Nach etwa 10 Minuten, als sie mitten in einem Satz ist, springt der Spitzel mit einer heftigen Bewegung auf und herrscht uns im Feldwebelton an: „Die Sprechstunde ist beendet.“ Wir sind erschrocken und nehmen an, wir hätten das Gesprächsthema, das wir begonnen hatten, nicht wählen dürfen. Wir sprachen über den in Düsseldorf angesetzten Prozeßtermin wegen Herausgabe der „Internationale“, der gegen alle ihre Mitarbeiter anberaumt worden war. Diese Zeitschrift, die nur einmalig (Nr.l) während des Krieges herauskommen konnte, war in der Schweiz und gleichzeitig in Deutschland gedruckt worden. Ihre Autoren, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin u.a., übten in ihren Beiträgen schärfste Kritik gegen die deutsche Kriegführung. Ohne der Zensur vorgelegen zu haben, war dieses Heft in vielen Exemplaren vertrieben worden. – „O nein,“ sagte Rosa Luxemburg ruhig, „ich habe eine für mich sehr wichtige Sache zu besprechen, und ich werde dies Gespräch zu Ende führen; solange bitte ich Sie zu bleiben.“ Jetzt schlug der Spitzel solchen Lärm, daß die Vorsteherin des Gefängnisses herbeieilte. Sie versuchte, den Mann zum Bleiben zu veranlassen: er war auch zu ihr unfreundlich und unhöflich. Auf eine Bemerkung Rosa Luxemburgs sagte er höhnisch: „Hier haben Sie ganz artig zu sein und zu parieren.“ Jetzt riß ihr die Geduld und sie rief aus: „Sie dreckiger Spitzel!“ Auf solch eine Äußerung hatte dieser wohl gewartet. Er sagte sofort zu der Vorsteherin: „Also, Sie haben gehört, ich bin beschimpft worden.“ „Jawohl,“ fügte Rosa Luxemburg hinzu, „und das mit Recht.“ Er erging sich weiter in unverschämten Redensarten und Rosa Luxemburg warf wütend eine mitgebrachte Tafel Schokolade in eine Zimmerecke.65

Ein preußischer Beamter bekam von Amts wegen niemals unrecht, und der Auftritt hatte für Rosa Luxemburg unangenehme Folgen. Noch am selben Tage wurde sie spät abends aus dem Gefängnis in der Barnimstraße nach dem Polizeigefängnis am Alexanderplatz „strafversetzt“. Hier blieb sie etwa vier Wochen in einer kleinen unsauberen Zelle, an der Bahn und Stadtbahn unablässig vorüberrollten und den Straßenlärm der City zeitweilig übertönten. Ein Hof für den üblichen „Spaziergang“ der weiblichen Inhaftierten war nicht vorhanden. Ich mußte das Essen, das ich brachte, wieder mitnehmen und Selbstbeköstigung in einem bestimmten Restaurant bestellen, dessen Kost teuer, schlecht und für Rosa Luxemburg schädlich war. Alle Bemühungen, hier zu helfen, scheiterten.

Sie schrieb Flugblätter und Artikel für die „Spartakus-Briefe“66 bei dem spärlichen Licht. das eine obere matte Scheibe der Tür in die Zelle ließ. Die Zelle selbst war unbeleuchtet. „Sehen Sie,“ sagte Leo Jogiches, „das ist Rosa! Es gibt keine Hindernisse für sie,“ und – „armes kleines Ding,“ fügte er hinzu, „wie sie jetzt wieder leiden muß!“

Mit dem Direktor des neuen Gefängnisses, einem älteren Herrn, bekamen wir bald Fühlung. Ihn interessierte seine neue Gefangene. Sie schreibe ihre Lebensgeschichte, sagte er gelegentlich zu mir, als ich in seinem Amtszimmer war. Ich konnte ihm nicht klarmachen, daß Rosa Luxemburg „Die Geschichte meines Zeitgenossen“ von Wladimir Korolenko67 aus dem Russischen ins Deutsche übersetzte. Mit dieser Arbeit hatte sie damals begonnen, um Geld zu haben, wenn sie in die Freiheit zurückkehrte. – Das ihr bewilligte Honorar von 2000 Mark wurde Mitte Januar 1919 vom Verlag überwiesen. Sie hat es nicht mehr bekommen. – Der größte Teil von Rosa Luxemburgs Sachen war bei dem plötzlichen Verlassen des Barnimstraßen-Gefängnisses unverpackt dort zurückgeblieben. Nach einigen Tagen schrieb mir Rosa Luxemburg:

den?? (ich habe die Rechnung verloren)

Meine liebe Mathilde!

Gestern ist von der Bamimstraße angeklingelt worden, daß meine Sachen aus dem Raum geholt werden müssen, da derselbe gebraucht wird. Bitte, haben Sie die Güte, sogleich hinzugehen und alle meine Sachen in Koffer zu verpacken. Vielleicht wird man dort erlauben, daß die Sachen verpackt bis auf weiteres dort irgendwo aufbewahrt bleiben.

Noch eine dringende Bitte: Gehen Sie weder zum Oberkommando noch an die Kommandantur, fragen Sie nach nichts und bitten Sie um nichts für mich, das ist mein unbedingter Wunsch.

Viele Grüße! Ihre

Rosa Luxemburg68

Als ich an einem der letzten Oktobertage Wäsche und Bücher ins Polizeigefängnis brachte, wurde ich zum Direktor geführt. Recht erschrocken teilte er mir mit, Rosa Luxemburg sei am frühen Morgen nach Wronke gebracht worden. Er könne allerdings nicht genau sagen, ob der Name des Ortes stimme. Ich vergewisserte mich, daß es eine kleine Stadt dieses Namens in der Provinz Posen gab. Jetzt eilte ich zur Kommandantur, zum Oberkommando, aber nirgends wollte man Bescheid wissen: Ich sollte mich gedulden, Frau Dr. Luxemburg würde schreiben und ihre Wünsche äußern.69 Am 31. Oktober 1916 bekamen wir denn auch Nachricht von ihr, daß sie in der Festung Wronke untergebracht worden sei, wohin wir alles Nötige schicken möchten. Am 5. November folgte ein Brief:

Meine liebe Mathilde. [. . .] Es hat keinen Zweck, Briefe an mich hierher zu senden, denn von hier werden sie doch erst wieder nach Berlin geschickt. Adressieren Sie also bitte an die „Kgl. Kommandantur Berlin“, im innern Kuvert (natürlich offen) an mich, Wronke, Zentralgefängnis. Teilen Sie das, bitte, auch andern mit. Heute ist mir eine ganz neue Verfügung des Oberkommandos mitgeteilt worden: Nicht nur Briefe, sondern sämtliche Bücher, die für mich kommen oder die ich zurücksende, sollen durch die Berliner Kommandantur gehen! Bei dem Tempo der Erledigung hieße das ja, mir jegliche ernste wissenschaftliche Arbeit hier unmöglich zu machen, das einzige, was mir hier noch übrigblieb. Auch soll ich per Post nur eine Zeitung abonnieren dürfen, was gleichfalls eine unbegreifliche Neuerung ist. Ich habe gegen beide Verfügungen Vorstellungen gemacht, vielleicht läßt sich noch eine Änderung erwirken, jedenfalls warten Sie noch mit der Absendung der Bücher, sofern Sie nicht schon abgeschickt haben. Wenn z.B. mein ganzes Lexikon zweimal die Reise von Berlin nach Wronke und retour machen sollte, dann denken Sie sich den Verlust an Zeit, Geld und den Ruin Tür die Bücher!! Hoffentlich kann ich Sie bald sehen [. . .].

Ihre RL.70

„Reisen Sie nach, Mathilde,“ meinte Leo Jogiches, „und bringen Sie Rosa das Nötigste. Sie wird sich freuen, sie wird es sogar erwarten.“ Leo Jogiches war überzeugt, daß der Direktor eines Provinzgefängnisses selbständig handeln dürfe und mich, ausnahmsweise ohne vorheriges Befragen der Kommandantur, mit Rosa Luxemburg sprechen lassen würde. In der Tat verhielt es sich so. Rosa Luxemburg sagte, als ich sie zum ersten Mal in ihrem neuen Domizil besuchte: „Ich hatte gehofft, jemand von Euch würde gleich nach Wronke kommen, um sich nach mir umzusehen.“ –

Ich war in die Barnimstraße gegangen, um alle dort zurückgebliebenen Sachen zu verpacken. Stück für Stück unterzog ich einer genauen Prüfung. Dabei entdeckte ich einen politischen Situationsbericht, den mir Leo Jogiches diktiert, und den ich Rosa Luxemburg zugeschmuggelt hatte. Leo Jogiches hatte am Schluß der Mitteilungen einige fürsorgliche Worte hinzugefügt – Äußerungen persönlicher Wärme waren so selten bei ihm. – Ich war glücklich, daß der Vorsteherin dieses schwer belastende Schriftstück entgangen war. – „Um eine einwandfreie Kontrolle zu gewährleisten, habe ich sämtliche Sachen persönlich durchgesehen,“ hatte sie mir bei der übergabe gesagt. Die nochmalige Kontrolle meinerseits hat Schlimmes für alle Beteiligten verhütet.

Charakteristisch für die Vorsteherin, die davon überzeugt war. daß in dem von ihr geleiteten Gefängnis alles nach dem Schnürchen ginge, daß die Gefangenen niemals ein Wort miteinander sprächen, und auch alle anderen drakonischen Gefängnisvorschriften befolgt würden, ist folgendes Vorkommnis: Zu gleicher Zeit mit Rosa Luxemburg war im Jahre 1915 während einiger Monate die Gattin des belgischen Finanzministers im Barnimstraßen-Gefängnis interniert.71 Natürlich durfte sie mit keiner der Gefangenen sprechen. Die Belgierin nun hatte sich bei den Aufseherinnen nach Rosa Luxemburgs Zellenfenster erkundigt, vor dem sie bei sich bietenden Gelegenheiten einige Takte aus der „Internationale“ pfiff, in die Rosa Luxemburg einstimmte. Als das Personal knapp zu werden begann, wurden die „Spaziergänge“ der bei den Frauen zusammengelegt und von einer Aufseherin überwacht. Beide Frauen unterhielten sich, was die Beamtin nicht hätte erlauben dürfen. – Die Ministergattin wurde nach Belgien entlassen, eine dortige Zeitung veröffentlichte ihre Begegnung mit Rosa Luxemburg, und ein deutsches Blatt, das in die Hände der Vorsteherin kam, brachte die übersetzung. Empört ging sie zu Rosa Luxemburg: „Es ist kaum glaublich, wie die ausländischen Zeitungen lügen. Sie, Frau Doktor, sollen sich hier im Gefängnis mit Madame [. . .] unterhalten haben. Dabei verstand sie doch kein Wort Deutsch, man konnte gar nicht mit ihr reden!“ Daß Rosa Luxemburg Französisch sprach, darauf kam die Vorsteherin nicht. –

Nachdem mir das Oberkommando in Posen Erlaubnis erteilt hatte, Rosa Luxemburg zu besuchen, fuhr ich Mitte November 1916 nach Wronke. Das kleine Städtchen Wronke, zu deutsch „Krähennest“, liegt eine Stunde Bahnfahrt von der Stadt Posen entfernt. Es gehörte zu dem Preußen zugeteilten Gebiet Polens und ist nach dem Weltkrieg wieder polnisch geworden. – Ich kam zum ersten Mal in ein Preußen angegliedertes Land. Die dünne Schicht deutscher Einwohner bestand hauptsächlich aus Beamten, Lehrern und Geschäftsleuten. Sie wurden von den Polen gehaßt. Durch den Besuch deutscher Schulen zum Deutschsprechen gezwungen, sprachen sie unter sich und mit ihren Kindern Polnisch. Kamen die Kinder in die Schule, so mußte die Lehrerin sie zuerst Deutsch sprechen lehren. – In dieser Umgebung kam ich mir wie ein Eindringling vor.

Bei meiner Ankunft in Wronke ging ich vom Bahnhof sogleich ins Gefängnis. Der Staatsanwalt des Städtchens, Dr. Dossmar,72 hatte während des Krieges das Amt des Gefängnisdirektors mit übernommen. Er war ein humaner und vielseitig unterrichteter Mann, der für das Wohlergehen der Gefangenen zu sorgen bemüht war. Die Vorsteherin des Frauengefängnisses war Frau Else Schrick. Sie sah sofort, daß Rosa Luxemburg ein außergewöhnlicher Mensch war und bewunderte, mit welchem Gleichmut sie ihr Schicksal ertrug.

Der ersten Sprechstunde wohnte außer Frau Oberin Schrick auch Herr Dr. Dossmar bei. Sie fand in dem „Sprechzimmer“ statt, einem schmalen weißgetünchten Raum, dessen Hintergrund, etwa 2 Meter im Quadrat, durch eine dicke Zementbarriere von dem übrigen Raum abgetrennt war. Hier hinein wurden die Gefangenen geführt, wenn sie Besuch bekamen. – Wir umarmten uns über die Barriere hinweg, so gut es ging. Ausgehungert nach Nachrichten, flüsterte mir Rosa Luxemburg zu: „Bringen Sie nichts von Leo?“ Ich drückte ihr einen Kassiber in die Hand, während die Oberin und der Staatsanwalt sich in Komplimenten ergingen, um einander den Vortritt in den Sprechstundenraum zu lassen. Dann besprachen wir alles Nötige nach vorher gemachten Notizen, und nachdem wir uns über alles, was ich erledigen sollte, verständigt hatten, war dieser erste Besuch beendet. „Aber,“ sagte Rosa Luxemburg beim Abschiednehmen, „Sie haben mir ja keine Blumen mitgebracht. Und ich hatte mich so darauf gefreut.“ „Ach, Rosa, ich komme direkt von der Bahn. Ich glaubte auf dem Wege hierher einen Gärtner zu finden. Aber es gibt hier nur zwei Gärtnereien, die in entgegengesetzter Richtung vor dem Städtchen liegen. Sobald ich meine Sachen im Hotel abgestellt habe, hole ich Blumen für Sie.“ – „Das ist aber ein schrecklicher Raum,“ sagte ich zum Staatsanwalt, nachdem Rosa Luxemburg wieder fortgeführt worden war. „Wenn Sie ihn so schrecklich finden, halten wir die Sprechstunde morgen im Bürozimmer der Frau Oberin ab.“ Ich nahm das freudig an und verabschiedete mich, recht zufrieden, daß es Rosa Luxemburg „so gut“ getroffen hatte.

Kleine polnische Jungen, die sich auf der Straße herumtrieben, boten mir ihre Dienste an und zeigten mir den Weg zum Hotel. Der Wirt und seine Frau waren freundlich und entgegenkommend. Von ihnen erhielt Rosa Luxemburg ihre Beköstigung, die für damalige Verhältnisse recht gut war. An eine Diätkost freilich war nicht zu denken. – Durch Sauberkeit zeichnete sich das Hotel nicht aus. Das kam in der Hauptsache daher, daß etwa 100 gefangene Grusier im großen Tanzsaal untergebracht waren. Morgens gegen 5 Uhr wurde ich durch das Klappern von 200 Holzschuhen geweckt. Die Gefangenen wurden dann zum Bäumefallen in den Wald geführt. Die aus 15 Mann bestehende Bewachung war ebenfalls im Hotel untergebracht. Ein Arzt, den die Gefangenen konsultieren konnten, hatte zwei Räume inne, und nur ein oder zwei Zimmer blieben für Gäste. Das genügte für die damalige Zeit, da Handelsreisende, die sonst das Hotel zu besuchen pflegten, wegen der fehlenden Waren nicht reisten. Der Wirt wurde für diesen Ausfall durch die Einquartierung reichlich entschädigt.

Im Weinzimmer trafen sich fast täglich die Honoratioren der Stadt: der Amtsrichter, der Staatsanwalt, der Direktor einer Sirupfabrik, und wer sonst noch dazu gehörte. Der Apothekenbesitzer, ein Pole, kam ungern zu diesen Zusammenkünften und nur nach ergangener Einladung. Auch ich nahm meine Mahlzeiten in diesem Zimmer ein und hörte dann einiges von den Tischgesprächen. Vor allem pflegte man die Nachrichten, die die Zeitungen brachten, zu besprechen. Die Unterhaltungen drehten sich hier wie überall in damaliger Zeit wieder und immer wieder um den Krieg. Gelegentlich lachte man über Berlin: „Es fällt jetzt wöchentlich ein Ei auf den Kopf der Bevölkerung.“ Bekamen die Berliner gegen Ende des Krieges überhaupt noch einige Gramm Butter wöchentlich, so waren die Armen nicht mehr in der Lage, sie zu kaufen. Darum aber kümmerten sich die Herren nicht.

Ich beschloß, etwa eine Woche in Wronke zu bleiben, da mir vier Besuche bewilligt waren.73 Außerdem schrieben wir einander unterirdisch und öfters gab ich Blumen oder andere Kleinigkeiten im Gefängnis ab. An den Ufern der Warthe standen viele Ligustersträuche, die zu jener Jahreszeit ihre schwarzen Beerenfrüchte trugen. Einige Zweige hiervon oder von Tannen und Kiefern des Waldes machten der einsamen Gefangenen Freude.

Aber wohin ich meine Schritte lenkte, stets sah ich das riesengroße, in grellroten Ziegelsteinen erbaute Gefängnis. Unmittelbar neben diesem Kolossalgebäude, aber innerhalb seiner Mauern, stand ein winziges Häuschen, das von der preußischen Regierung als Festung für eine politische weibliche Gefangene vorgesehen war. Er bestand nur aus einem Parterregeschoß: einem Schlafzimmerchen und einem etwas größeren Wohnraum; beide waren durch eine Tür verbunden. Ein Korridor führte zum Gärtchen. Die Räume waren wohnlich eingerichtet, das Gärtchen nur für die Festungsgefangene bestimmt. Zunächst freilich durfte sich Rosa Luxemburg in dem Gärtchen nicht aufhalten. Denn nur drei Seiten waren von einer nicht allzu hohen Mauer umgeben, hoch genug indes, um eine Flucht unmöglich zu machen; die vierte Seite des Gärtchens lag offen dem Hof zu. Sie sollte mit einem Zaun versehen werden, ehe der vorsichtige Staatsanwalt die Benutzung gestattete. Er versprach, nach den nötigen Materialien Umschau zu halten, hob aber die Schwierigkeit hervor, sie in der Kriegszeit zu beschaffen. In wenigen Wochen indes waren sie zur Stelle und jetzt konnte Rosa Luxemburg vom frühen Morgen bis gegen sechs Uhr nachmittags sich in dem Gärtchen ergehen. Dann war der Tag im Gefängnis zu Ende. Die Beamtinnen, die tagsüber den Dienst versehen hatten, wurden durch das Personal des Nachtdienstes abgelöst.

Rosa Luxemburg behauptete, sich in der neuen Umgebung wohl zu fühlen. Sie hatte mit Spatzen, Buchfinken, Meisen, Amseln, Staren usw. Freundschaft geschlossen. Die Vögel bekamen Futter, ganz ihrem Geschmack entsprechend: die kleinen Meisen Speck- und Fettstückchen; selbst Nüsse waren für diese Leckermäuler da, aber zu jener Zeit war so etwas knapp und teuer, so daß ich nicht allzu viel beschaffen konnte.74 Auch Starenkästen ließ die Gefangene kommen, und dem Staatsanwalt erzählte sie von den vielen „Besuchern“, die ohne seine Erlaubnis kämen.

Die Oberin des Gefängnisses besaß Takt und Herzensbildung und hatte vielseitige Interessen. Als ich die von Rosa Luxemburg am ersten Tage erbetenen Blumen am Spätnachmittag für sie abgeben wollte, sagte Frau Schrick zu mir: „Möchten Sie diese Blumen Frau Dr. Luxemburg nicht selbst auf den Tisch stellen? Sie würde sich gewiß mehr darüber freuen, als wenn ich sie ihr bringe.“ Auf so viel Entgegenkommen hätte ich nie zu hoffen gewagt. Als ich die Festungsräume betrat, klatschte die kleine Gefangene vergnügt in die Hände und eilte mir entgegen.

Die Besuche im Festungsgebäude hattten [sic] einen erhöhten Reiz für mich. Sogar der Staatsanwalt ließ sich von der Freude anstecken, wenn ich davon sprach, und auch er hielt später die Sprechstunden manchmal dort ab. An warmen Tagen promenierte er mit uns in dem Gärtchen, wobei Rosa Luxemburg stets einen Strauß selbstgezogener Blumen für mich pflückte. – Die Oberin bat den Staatsanwalt um die Erlaubnis, einige ihrer freien Abendstunden bei Rosa Luxemburg zu verbringen. Es wurde ihr gestattet; unterhielt der Staatsanwalt sich doch selbst gern, so oft es seine Zeit erlaubte, mit seiner Gefangenen.75 Man nahm sich vor, auch in späterer Zeit Fühlung zu behalten; der Staatsanwalt wie die Oberin wollten Rosa Luxemburg aufsuchen, sobald sie sich wieder in Freiheit befände. Es war Rosa Luxemburg stets gelungen, einen guten Kontakt mit ihren Gefängnisvorgesetzten zu finden. Dem Reiz ihrer Persönlichkeit entzogen sich selbst Menschen einer anderen Weltauffassung nicht; politische Gegner, Staatsanwälte, Gefängnisvorsteher respektierten ihre geistige Bedeutung, so ging es Rosa Luxemburg in den Gefängnissen relativ gut – trotz der damaligen „preußischen Zucht“. Ich erschrak, als ich bei meinem nächsten Besuch im Januar 1917 Frau Oberin Schrick in Wronke nicht mehr antraf. Sie hatte sich in dem kleinen Städtchen mit seinem Klatsch nicht glücklich gefühlt und sich nach Metz, ihrer Heimatstadt, zum Kriegsdienst beurlauben lassen. Die Oberin hat Rosa Luxemburg nicht vergessen. Sie schrieb öfter einige Zeilen an mich und bat, der Gefangenen ihre Grüße zu übermitteln, da sie bei der lästigen Gefängniszensur nicht so schreiben könne, wie ihr ums Herz wäre.76 – Nach dem Fortgang Frau Schricks war nicht sogleich Ersatz für sie da. Bei meinem nächsten Besuch hielt der Staatsanwalt die Sprechstunde ab. Gelegentlich versuchte er, die Gesetze unseren Wünschen anzupassen. Aber nur, wenn dies einwandfrei gelungen war, gestattete er Kleinigkeiten, die eigentlich nicht erlaubt waren. „Ach,“ sagte ich einmal zu Leo Jogiches, „dieser Kerkermeister ist so anständig, daß es mir schwer fällt, ihn zu hintergehen.“ Leo Jogiches setzte mir auseinander, daß ich diesen Staatsanwalt nicht als Person betrüge, daß vielmehr mit allen Mitteln versucht werden müsse, das herrschende korrumpierte und korrumpierende Regierungssystem samt den Funktionen des Staatsanwalts aus der Welt zu schaffen.

Die unzensurierten Nachrichten herüber und hinüber gingen also weiter. Allerdings machte uns der Staatsanwalt das nicht leicht. Wir mußten all unsern Witz anstrengen, um keinen Reinfall zu erleben. Als ich einmal Rosa Luxemburgs Hand streichelte und mich dicht neben sie setzte, sagte der Staatsanwalt: „Bitte, versprechen Sie mir, einander nichts zuzustecken.“ „Gewiß,“ sagten wir wie aus einem Munde, „das versprechen wir.“ „Aber wie verständigen Sie sich eigentlich? Daß Sie es tun, ist mir längst klar.“ „Das, Herr Staatsanwalt, bleibt unser Geheimnis,“ sagte Rosa Luxemburg lachend. – Wenn wir auch lachten, unsere Nerven wurden in Wronke auf eine harte Probe gestellt. Erschien dem Staatsanwalt eine Sendung verdächtig, und fast jede schien es ihm, so ließ er sie über die Posener Kommandantur gehen. Dannn [sic] blieben die Mitteilungen an mich oft lange aus, und Rosa Luxemburg wartete vergeblich auf eine Empfangsbestätigung, so daß wir angstvolle Tage und Nächte durchlebten. – Nach einiger Zeit war eine neue Gefängnisoberin in Wronke eingetroffen, eine verarmte adlige Dame, die einen unangenehmen Eindruck machte. Sie war vulgär und anmaßend in ihren Äußerungen, so daß Rosa Luxemburg sie ignorierte. Die armen Gefangenen hatten durch ihre unerfreuliche Art sehr zu leiden; auch das Gefängnispersonal klagte über die neue Vorgesetzte.

Die gänzliche Isolierung war Rosa Luxemburg durch Frau Schrick erträglich gemacht worden. Die neue Oberin indes verstand es, der Gefangenen das Leben zu vergällen. Ich war erschrocken, in welch schlechtem Gesundheitszustand ich Rosa Luxemburg antraf. Sie war arbeitsunfähig. Sie, die ihre körperlichen Schmerzen nicht zu beachten pflegte, schrieb mir unterirdisch: „Ich leide an seelischen Depressionen. Es ist manchmal so schlimm, daß ich arge Befürchtungen habe.“ Die Magenbeschwerden traten wieder so heftig auf, daß Rosa Luxemburg oft keine oder zu wenig Nahrung zu sich nahm. Sie litt Sehnsuchtsqualen und bat um meinen Besuch. Wenn ich dann kam, und der Staatsanwalt die Sprechstunde abhielt – er tat dies jetzt meist, weil er wußte, daß uns die neue Oberin unangenehm war – setzte Rosa Luxemburg sich auf meinen Schoß, lehnte ihren Kopf an meine Schulter und ließ sich Zärtlichkeiten gefallen, die sie sonst nicht duldete. Sie war krank und hilflos. Ich sprach mit Leo Jogiches. „O Mathilde,“ sagte er, „wenn es Rosa nicht gut geht, wenn sie krank ist, – das ist etwas, was ich nicht ertragen kann. Und krank ist sie jetzt, wir müssen ihr helfen.“ Leo Jogiches wußte, daß die Beschwerden nervöser Art waren, die durch äußere Eindrücke behoben werden können.

Ich hatte mit Rosa Luxemburg überlegt, was zu tun wäre, damit sich ihr Zustand bessere. Der Staatsanwalt schlug vor, daß ich in Posen einen tüchtigen Arzt ausfindig machen sollte. Ein Bruder von Rosa Luxemburgs Studiengenossen und Freund Dr. Julius Marchlewski (Karski) wohnte in Posen. Er empfahl einen Arzt, der gern bereit war, Rosa Luxemburg zu behandeln. Seinen ersten Besuch stattete er der neuen Patientin in Wronke ab. Da er die Zeit für weitere Fahrten dorthin nicht aufbringen konnte, und auch die zu zahlenden ärztlichen Honorare zu teuer geworden wären, wurde Rosa Luxemburg vom Oberkommando die Erlaubnis erteilt, den Arzt in Posen aufzusuchen. Das gab eine kleine Abwechslung; auch die Befolgung der ärztlichen Vorschriften nahm Zeit und Interesse in Anspruch. Der Arzt war Rosa Luxemburg sympathisch, bei ihren Besuchen unterhielt sie sich gern mit ihm. Blieb bis zur Abfahrt des Zuges Zeit übrig – die Züge fuhren recht selten – so unternahm die Gefangene einen Spaziergang oder sie machte kleine Einkäufe. Dann wartete der begleitende Beamte vor den Geschäften. Er war nach Rosa Luxemburgs Aussage bescheiden und zurückhaltend; wenn auch ermüdet, kehrte sie doch meist angeregt nach Wronke zurück.

In dieser Zeit war Rosa Luxemburg unberechenbar launisch. In ihrer Gereiztheit fürchtete sie, ich könnte die ihr so unangenehme Oberin um etwas bitten. So wies sie mich bei einem unerwarteten Besuch ab in der Annahme, ich hätte die Oberin um diesen Besuch gebeten. In Wirklichkeit hatte mir der Staatsanwalt angeboten, des öfteren zu ihr zu gehen, damit sie Ablenkung und Freude hätte. Als sie sich weigerte, mich zu empfangen, machte ich mir auf einem Spaziergang klar, wieviel Rücksicht wir Rosa Luxemburg schuldig waren. Da sah ich an den Ufern eines Waldsees durch das Grün herzförmiger Blätter viele weiße Blüten leuchten. Es war Sumpfkalla. Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und wagte vorsichtig einige Schritte in den Morast, um die Blumen zu pflücken. Auf dem Rückweg gab ich sie im Gefängnis ab. Als die Pforte geöffnet wurde, winkte Rosa Luxemburg mit dem Taschentuch aus ihrem Gärtchen. Ich eilte an das Gitter. „Sind Sie bös?“ „Ach, wie könnte ich das!“ „Ich habe schon zu Frau Doktor gesagt,“ ließ sich die Stimme der Oberin vernehmen, „wenn ich Fräulein Jacob wäre, würde ich mich für solche Freundschaft bedanken.“ „Wenn Sie Fräulein Jacob wären, kämen Sie als Freundin für mich nicht in Betracht,“ lautete die Antwort.

Eines Tages erhielten wir die Nachricht, daß Dr. Hans Diefenbach, ein junger Mediziner aus Stuttgart und guter Freund Rosa Luxemburgs, in das Garnisonslazarett der Stadt Posen käme. Als Feldarzt hatte er sich in Frankreich bei einem Sturz vom Pferde das Bein gebrochen. Vorläufig dienstuntauglich, wurde er nach kurzer Heilbehandlung als Rekonvaleszent dem Posener Lazarett zugeteilt, um dort leichten Dienst zu tun. Hans Diefenbach und Rosa Luxemburg schmiedeten Pläne für einen häufigen persönlichen Gedankenaustausch. Aber sie hatten nicht bedacht, daß die preußische Militärbehörde es unstatthaft finden könnte, wenn ein Militärarzt, der im Rang eines Offiziers stand, freundschaftliche Beziehungen zu einer „Petroleuse“ unterhielt. Hans Diefenbach war sogar ahnungslos genug zu glauben, daß gerade sein Offiziersrang ihm jederzeit die Wronker Gefängnispforten öffnen würde.77

Ich sprach unsern Freund kurz vor seiner Abreise nach Posen. Als er mir von seiner Absicht erzählte, Rosa Luxemburg zu besuchen, riet ich aufs enschiedenste [sic] ab, ohne Sprecherlaubnis nach Wronke zu fahren. Hans Diefenbach aber war seiner Sache allzu sicher und fuhr, ohne die erforderliche Erlaubnis bei der Kommandantur nachzusuchen, nach Wronke. Er wurde abgewiesen. Ein schriftliches Gesuch um Sprecherlaubnis wurde abschlägig beschieden. Von seinen militärischen Vorgesetzten bekam er einen Verweis, weil er die Festung Posen ohne die erforderliche Genehmigung verlassen hatte. Man sagte ihm ferner in wenig freundlicher Art, daß es für einen Offizier unschicklich sei, Beziehungen „zu einer Person“ wie Rosa Luxemburg zu unterhalten. Hans Diefenbach war nicht charakterlos genug, diese Beziehungen abzubrechen. Er korrespondierte auch fernerhin mit seiner Freundin und sandte Bücher oder Zeitschriften, die der Gefangenen Freude und Zerstreuung bringen sollten.

Gelegentlich suchte ich auf Rosa Luxemburgs Wunsch, die von den peinlichen Ärgernissen nichts wußte, unsern Freund im Posener Lazarett auf. Er sprach von dem Verdruß; daß seine Beförderug [sic] unmöglich gemacht werde, störe ihn nicht. „Aber sehen Sie,“ sagte er, „ich möchte unnötige Gefahren vermeiden. Vorläufig bin ich zu krank, man kann mich nicht gleich wieder an die Front schicken. Ich möchte das auch so lange wie möglich hinausschieben. Nicht meinetwegen, ich bin ein einzelner Mensch und würde zu sterben wissen wie viele andere. Aber ich hänge mit zärtlicher Liebe an meinem Vater. Es würde ihn das Leben kosten, wenn er mich verlöre. Sagen Sie Rosa auf unterirdische Art, die Sie beide anzuwenden pflegen, sie möchte keinen Absender mehr auf die Briefumschläge setzen. Es ist überflüssig, den Leuten hier laufend Beweise zu liefern, daß wir in Verbindung stehen.“ – Trotz dieser Mißlichkeiten verbrachte ich unterhaltsame Stunden mit Hans Diefenbach. Unser erster Spaziergang in Posen galt dem Denkmal des polnischen Dichters Mickiewicz,78 den Rosa Luxemburg seit ihrer frühen Jugend liebte.79

Plötzlich versetzte man Hans Diefenbach für den Lazarettdienst nach Preußisch Lissa, das etwa zwei Stunden Bahnfahrt von Wronke entfernt ist. Hier besuchte ich unsern Freund zur Frühlingszeit, als Flieder und Schneeball in reicher Pracht blühten.80 – Nach einiger Zeit erkrankte der Vater Hans Diefenbachs und es gelang dem Sohn, sich nach Stuttgart beurlauben zu lassen. Der Tod des Vaters war der erste große Schmerz im Leben Hans Diefenbachs. Von diesem Augenblick an war ihm an seinem Schicksal nichts mehr gelegen. Der Befehl, wieder an die Westfront zu gehen, ließ nicht lange auf sich warten. „. . . Wie lang ist’s her,“ schrieb er am 16. Oktober 1917 aus dem Felde, „daß ich im fliederblühenden Lissa geschätzte Damenbesuche empfing . . .“.81 Schon im Dezember bekam ich einen meiner Briefe an ihn zurück mit der üblichen Aufschrift: „Auf dem Felde der Ehre gefallen“. Ich nahm die Nachricht mit umso größerem Schrecken auf, als ich wußte, wie schmerzlich sie für Rosa Luxemburg sein würde. Ich schrieb ihr sogleich. Sie bat mich, diesen Verlust nicht wieder zu erwähnen. Sie wollte mit ihrem Schmerz allein sein. –

Doch zurück zum Sommer 1917. Ich war in Wronke, um meine Ferien in Rosa Luxemburgs Nähe zu verbringen und machte keinen Spaziergang, ohne Blumen für sie zu pflücken. Besondere Freude machte es ihr, wenn ich eine Blume nicht kannte, sie mir ihren Namen nennen und sie erklären konnte. Wieder und wieder mußte ich ihr von Kühen, Ziegen, Gänsen und Enten berichten. Besonders Gänse erregten ihr Entzücken. Von den Singvögeln mußte ich erzählen. Aber selten erkannte ich, welcher Vogel sein Lied schmetterte. Rosa Luxemburg unterschied die Vogelstimmen und konnte sie täuschend nachahmen. „In meiner Kindheit,“ sagte sie, „hat mir meine Mutter von König Salomo erzählt, der die Stimmen der Vögel verstand, was mir unglaubwürdig erschien, und heute verstehe ich sie selber.“ –

Mein Ferienidyll nahm ein vorzeitiges Ende; der Staatsanwalt eröffnete uns während der Sprechstunde, er hätte von der zuständigen Behörde Nachricht erhalten, daß Rosa Luxemburg in ein anderes Gefängnis käme. Im Felde sei eine Dame zu mehrjähriger Festungsstrafe verurteilt worden; da es in Deutschland nur zwei Festungen für weibliche Personen gebe und die eine bereits besetzt sei, müsse Wronke für die Verurteilte zur Verfügung gestellt werden. Wir könnten mit den Reisevorbereitungen schon beginnen und wenn es ihm nicht ausdrücklich verboten würde, wollte er uns den Ort des neuen Gefängnisses sagen, sobald er ihn selbst wisse. Ich könne mich dann über die Verhältnisse dort zu unterrichten suchen. Tag und Stunde der Abfahrt dürfe er allerdings nicht angeben. Das brauchte er auch nicht, das ließ mich Rosa Luxemburg wissen, sobald sie es erfahren hatte. Jetzt hieß es eiligst packen. Mit Hilfe eines Wachhabenden und einiger Russen holte ich diejenigen Sachen aus dem Gefängnis, die Rosa Luxemburg nicht selbst mitnehmen wollte. Ich beschaffte Kisten für Bücher, Bilder und Geschirr. Hinzu kamen meine in der Umgebung Wronkes gehamsterten Lebensmittel.82 Meine Verpackungssorgen wurde ich durch den wachhabenden Feldwebel los. Ich sollte es nur ihm überlassen, „bei den Preußen“ hätte er alles, auch das Packen, gelernt. Tatsächlich erreichten sämtliche Sachen unbeschädigt den neuen Bestimmungsort.

Inzwischen hatte uns der Staatsanwalt mitgeteilt, daß Rosa Luxemburg nach Breslau gebracht würde. „Wenn Sie mir versprechen, nicht auf den Bahnsteig zu gehen, will ich Ihnen auch sagen, wann und mit welchem Zug Frau Dr. Luxemburg fährt.“ „Nein, das möchte ich mir nicht nehmen lassen,“ entgegnete ich; „ich werde täglich zu den zwei Zügen, die nach Breslau gehen, an der Bahn sein, mittags und auch 5 Uhr morgens.“ – Den Tag der Abreise kannte ich bereits, die Abfahrtstunde wollte mich Rosa Luxemburg wissen lassen, sobald sie ihr mitgeteilt war. Sie bat mich, zu gleicher Zeit mit ihr zu reisen. Ich riet ab, weil ich Unannehmlichkeiten befürchtete und weil es außerdem zweifelhaft war, ob wir uns während der Fahrt sprechen konnten. Am 22 [sic] Juli mittags war ich auf den [sic] Bahnsteig. Rosa Luxemburg traf kurze Zeit nach mir ein, begleitet vom Staatsanwalt und einem Breslauer Gefängnisaufseher, der die Reise überwachen sollte. Der Staatsanwalt überzeugte sich als gewissenhafter Beamter, daß alles ordnungsgemäß vor sich ging. Wahrscheinlich war es ihm auch eine liebe Pflicht, seiner Gefangenen das Geleit zu geben. Er hatte bestimmt, daß an diesem Tage keine Bahnsteigkarten ausgegeben würden. Ich löste daher eine Fahrkarte zur nächsten Station, um auf den Bahnsteig zu gelangen. Der Staatsanwalt machte gute Miene zum bösen Spiel, und wir unterhielten uns, bis der Zug einlief, der Rosa Luxemburg wieder in ein anderes Gefängnis brachte – das vierte während der Kriegszeit.

Am nächsten Morgen brachte mich der wachhabende Feldwebel und einige der gefangenen Russen mit meinem umfangreichen Gepäck zur Bahn. – In Breslau ging ich sogleich zur Kommandantur und erbat vier Sprechstunden, die mir bewilligt wurden. Bereits gegen Mittag war ich zu Rosa Luxemburgs überraschung im Gefängnis. Sie hatte erst für den nächsten Tag auf ein Wiedersehen gerechnet. Mit Tränen in den Augen wurde sie zu mir geführt.83 „O Mathilde,“ sagte sie, „der Umschwung ist zu schrecklich. Ich habe eine kahle Zelle. Ich darf nicht auf den Hof hinunter. Es gibt kein Restaurant am Platz, das meine Verpflegung übernimmt. Ich werde hier zugrunde gehen.“ Ich hoffte helfen zu können. Mir schien der neue Aufenthalt nicht so trostlos. Rosa Luxemburg war nicht mehr völlig isoliert, sondern im gleichen Gebäude mit anderen Gefangenen untergebracht. Der Pulsschlag des Lebens drang wie der zu ihr. – Wir kamen überein, daß ich einen Kleiderschrank, Waschgeschirr und noch einige andere Dinge besorgen sollte. Wenn dann die Bilder aus Wronke kamen, ein kleiner Teppich, den eine Freundin gegeben hatte, der Korbsessel und vor allem die Bücher, mußte es Rosa Luxemburg gelingen, die Zelle, die statt des vergitterten Gucklochs oben an der Wand sogar normale Fenster hatte, wohnlich herzurichten.84

Die zuständige Berliner Behörde ließ prüfen, wie Rosa Luxemburg in Breslau untergebracht war. Die Berliner Beamten erachteten den Raum für unzureichend und empfahlen dem Breslauer Gefängnisdirektor, die daneben liegende Zelle mit der andern verbinden zu lassen. Jetzt war Rosa Luxemburg leidlich bequem untergebracht; sie richtete einen Wohn- und einen Schlafraum her und alle, die Zutritt hatten, rühmten den guten Geschmack der Gefangenen. Von da an wurde ihr auch gestattet, so viel auf dem Hof zu spazieren, wie sie wollte. Die Zellentüren blieben allerdings verschlossen, so daß Rosa Luxemburg, wollte sie hinaus, stets eine Aufseherin herbeirufen mußte.

Die Beschaffung von Nahrungsmitteln war in Breslau schwer. Immerhin gab es Dörfer in der Umgebung, wo sich die Bewohner Breslaus Gemüse, Obst, Fleisch und vor allem Butter zu verschaffen wußten. Aber ein Restaurant ausfindig zu machen, das für Rosa Luxemburg die Verpflegung übernahm, war unmöglich. Die Gastwirte hüteten sich, dem Gefängnis mehr Lebensmittel für eine Person zu liefern, als nach den Lebensmittelkarten erlaubt war. Mit diesen geringen Mengen aber konnte niemand ohne schwere gesundheitliche Schädigung aus kommen. Was tun? Ich hatte mir die Adresse Breslauer Parteifreunde beschafft, von denen man annehmen konnte, sie würden mutig genug sein und das nötige Interesse haben, Rosa Luxemburg zu betreuen. Es war die Familie Schlisch, die in unmittelbarer Nähe des Gefängnisses wohnte. Das Familienoberhaupt, Robert Schlisch, traf ich nicht zuhause, als ich vorsprach. Er arbeitete in seinem Schrebergärtchen. Flugs mußte der älteste Junge sich aufs Fahrrad setzen, um dem Vater die Nachricht zu überbringen, daß Rosa Luxemburg in das Breslauer Frauengefängnis gekommen sei und daß man seine Hilfe für sie erbäte. Nach kurzer Zeit war Robert Schlisch zur Stelle. „Seien Sie außer Sorge, für unsere Rosa habe ich immer was übrig. Ich habe als Schiffer häufig in Oberschlesien zu tun, dort sind die Lebensmittel noch nicht knapp. Selma,“ wandte er sich an seine Frau, „nicht wahr, du wirst für Rosa kochen? Das Herüberschaffen ins Gefängnis ist ja eine Kleinigkeit, kaum fünf Minuten Weg.“ „Selbstverständlich,“ sagte sichtlich erfreut Selma Schlisch. Und sie tat für Rosa Luxemburg, was in ihren Kräften stand. Die ganze Familie half dabei.85 Am 6. August bereits schrieb Rosa Luxemburg, ausgesöhnter mit dem Breslauer Aufenthalt:

Breslau, 6.8.17.

Meine liebste Mathilde !

[. . .] Die Kisten aus Wronke sind hier am 2. angelangt, ich packte natürlich sofort aus und bin schon ganz „eingerichtet“. Die beiden Räume sehen nunmehr halbwegs menschlich aus, allein ich fürchte, die Sache wird sich nicht durchführen lassen, und ich werde mich wieder auf eine Zelle einschränken müssen. Zwei Räume sind nämlich schön, wenn man zu ihnen Zutritt hat, ich bin aber immer fest eingesperrt, und bis ich in meine andere Zelle gelange, muß ich klopfen und die Aufseherin in Bewegung setzen. Abgesehen davon, daß es mir in der Seele widersteht, jemand öfters für mich zu beanspruchen, ist das auch praktisch nicht gut möglich, denn die Aufseherin hat natürlich verschiedentlich zu tun und ist häufig gar nicht auf der Station; außerdem aber ist sie von 1 bis 4 Uhr überhaupt nicht da (Mittagspause) und abends nach 6 ist sie fort, während ich bis 10 Licht haben darf. Mit alledem geht es also schwierig, und ich bin entweder getrennt von meinem Bett, wo ich mich zwischen der Arbeit oder wenn ich mich schlecht fühle, mal hinlegen kann, sowie von meinem Teekocher und meiner Apotheke, oder aber ich bin getrennt von meinem Schreibtisch und vom Licht abends. Das ist nämlich anders hier als in Wronke und auch in der Bamimstraße, wo die Schutzhaftgefangenen nur zur Nacht eingesperrt werden und bei Tag sich im Lazarett frei bewegen dürfen, und wie gesagt, ich zweifle, ob das mit den zwei Zellen unter diesen Umständen gehen wird, so sehr mir natürlich schwer wäre, mit allen Sachen in einer schmalen Zelle unterzukommen. Aber das wird sich bald herausstellen, beunruhigen Sie sich bitte deswegen nicht. Es wird eben so gehen müssen, wie es möglich ist. – Mir ging es mit meinem Magen seit Freitag miserabel, aber ich hoffe, jetzt wird’s besser. Ich denke, das kommt vom hiesigen Brot, an das ich mich erst gewöhnen muß. Sonst ist das Essen, das mir die Frau besorgt, sehr gut. – Der Spezialarzt, Dr. Oppeler, der mir bewilligt worden ist, schrieb mir, daß er bis Ende August verreist ist. Inzwischen sind ja die Herren Anstaltsärzte da; freilich kann mir einstweilen wenig geholfen werden, da mein Magen ja alle Medikamente ablehnt. Auch deswegen werden Sie bitte nicht unruhig; es geht mir ja schon besser [. . .]. Ihre R.86

Bald interessierte sich der Breslauer Gefängnisarzt für seine neue Patientin. Die Unterhaltungen mit dem geistvollen alten Herrn regten Rosa Luxemburg an. Bücher wurden ausgetauscht. Der Mediziner liebte Goethe und war erfreut, in Rosa Luxemburg eine gründliche Kennerin Goethes zu finden. Für die Breslauer Universitätsbibliothek hatte der Arzt eine Lesekarte beschafft, so daß für Rosa Luxemburgs Lektüre zum größten Teil gesorgt war. – Der alte Herr war ein eifriger Konzert-, Opern- und Theaterbesucher und unterrichtete Rosa Luxemburg über die Leistungen der Breslauer Kunststätten. Wenn ich kam, waren Konzerte und Theatervorstellungen für mich ausgesucht, manchmal sogar Karten besorgt. – Die Hauptsache blieb, daß Leo Jogiches die Kampfgefährtin über die politischen Vorgänge unterrichtete. Aus Furcht vor der Polizei, die zu jener Zeit nachts noch nicht kam, wohl aber häufig während des Tages, schrieb ich die Berichte87 ausschließlich in den Nachtstunden. Vorher mußte Leo Jogiches sie mir diktieren, was bei seiner gründlichen Art viel Zeit erforderte. Öfter unterbrach er die Arbeit und erzählte Anekdoten oder er berichtete aus früheren Zeiten von seinem und Rosa Luxemburgs Leben. „Hören wir jetzt mal auf mit der Arbeit,“ sagte er beispielsweise, „ich will Ihnen von Rosa erzählen, etwas, worüber Sie lachen werden: Als wir in Paris lebten, hatten wir entfernt wohnende Freunde besucht. Auf dem Heimweg wurde Rosa müde und rief einem Fiaker zu, was die Fahrt nach Hause koste. Die genannte Summe war hoch, man konnte sie nicht ausgeben. ‚0, Monsieur‘, rief Rosa, ,nous sommes pauvres!‘ Darauf der Kutscher: ,Ce n’est pas ma faute, Madame!‘ Diese Antwort belustigte Rosa so, daß sie sich auf die Erde setzte, sehr lachte und dann keine Müdigkeit mehr während des Marsches verspürte.“88

Eine große Annehmlichkeit in Breslau war, daß die Kommandantur den Schutzhaftgefangenen mehrstündige Ausfahrten monatlich in Begleitung eines Aufsichtsbeamten gestattete. Rosa Luxemburg machte die Spazierfahrten mit den sie besuchenden Freunden.89 Anfangs mußte sie sich an das Leben [in] der Außenwelt erst wieder gewöhnen. Nach den ersten Ausflügen kam sie erschöpft ins Gefängnis zurück. Ihre Nerven waren so aufgeregt, daß sie nachts keinen Schlaf finden konnte. Nach und nach aber, besonders als nach dem unfreundlichen Winter 1917/18 der Frühling kam, machten Rosa Luxemburg die Ausflüge Freude. Gewöhnlich ließen wir den Wagen bis an ein Wäldchen fahren, meist zum Ostwitzer Gehölz oder nach Scheitnig mit seinem kleinen Botanischen Garten.

Die Sprechstunden im Breslauer Gefängnis fanden anfangs in einem Amtszimmer statt. Ein Posener Referendar und ein Berliner Rechtsanwalt übernahmen abwechselnd die überwachung. Als ich zufällig mit einem der Herren vor der Sprechstunde im Gefängnis zusammen traf, begegneten wir dem Direktor. Er fragte, ob wir zu Frau Luxemburg wollten. „Frau Luxemburg wird zu uns ins Amtszimmer geführt,“ erwiderte ich, „wenn wir sie in der Zelle aufsuchen dürften, würde mich das freuen.“ „Dagegen bestehen keine Bedenken,“ lautete die Anwort [sic], und Rosa Luxemburg machte ein erstaunt-freudiges Gesicht, als wir zu ihr kamen. Von jetzt ab, wenn sie „empfing“, fühlte sich die Gefangene in der Rolle der Wirtin. Da war sie in ihrem Element. Leo Jogiches, der zurückgezogen lebte, pflegte zu sagen, Rosa Luxemburg sei nur wirklich froh, wenn sie häufig Menschen um sich habe. So viele sie aber auch gastlich aufnahm, persönlich nahe standen ihr nur wenige. Diese wenigen konnten auf sie zählen. Was äußerlich sie auch zeitweise von ihren Freunden trennen mochte, das Interesse und die Anteilnahme an deren Schicksal erloschen nicht.

Von großer Innigkeit waren auch Rosa Luxemburgs Tierfreundschaften. Sie hatte einmal ein Kaninchen in der Wohnung gehalten. Wegen dieses Tierchens führte sie einen erbitterten Kampf mit den Hausbewohnern. Es röche schlecht, wurde von diesen behauptet, und es mache viel Lärm. Von beiden Eigenschaften wollte seine Besitzerin nichts bemerkt haben. Erst als der Hauswirt sie vor die Wahl stellte, die Wohnung zu räumen oder das Kaninchen abzuschaffen, entschloß sie sich, das Tier wegzugeben. Ersatz war dann in „Mimi“ gefunden worden. Als Leo Jogiches während des Krieges für das „Biestchen“, wie er sich ausdrückte, geschabtes Fleisch geholt hatte, erzählte er, wie eine Arbeiterfrau, die nur ein paar Knochen kaufen konnte, auf das Fleisch geschaut hätte. „Warum sagen Sie mir das,“ war die Antwort Rosa Luxemburgs. „Tue ich nicht, was in meinen Kräften steht, um mich für alle Armen einzusetzen? Sie sollten mir die Freude an Mimi nicht vergällen.“ – In Breslau gab Rosa Luxemburg damals so rares Weißbrot einer Ziege, die sie auf dem Wege zum Zahnarzt entdeckt hatte. So oft sie diesen Weg ging, versäumte sie nie, das Tier zu füttern.

Eine erschöpfte Taube, durch einen verletzten Flügel am Weiterfliegen behindert, hatte sich im Winter 1917/18 auf Rosa Luxemburgs Zellenfenster gesetzt. Sie wusch die Wunde und pflegte das Tierchen, bis es wieder fliegen konnte. „[. . .] Die braune Taube,“ schrieb sie mir im Juni 1918, „die ich hier im Winter in meiner Zelle pflegte, als sie krank war, erinnert sich doch wohl meiner ‚Wohltaten‘: Sie hat mich einmal in dem Hof, wo ich nachmittags spazieren gehe, entdeckt, und wartet nun jeden Tag pünktlich auf mich, sitzt neben mir aufgeplustert auf dem Kies und läuft mir nach, wenn ich eine Runde mache. Das ist drollig zu sehen, diese schweigsame Freundschaft [. . .].“90 Bald fand die Taube auch das Fenster wieder. Da es fast stets geöffnet war, schlüpfte sie in die Zelle. Diese Besuche wiederholten sich und schließlich kam das Tierchen täglich. Auch Gefährtinnen wurden „eingeführt“, und die Versorgung der Tauben bereitete Rosa Luxemburg Freude. „[. . .] Ich war jetzt ein paar Tage bettlägerig,“ schrieb sie im September 1918, „da kamen die Tauben zu mir aufs Bett! Ist das nicht unerhört?[. . .].“91

Nach der Verhaftung Karl Liebknechts am 1. Mai 1916 hatte der von ihm zur illegalen Arbeit herangezogene Vorwärtsredakteur Dr. Ernst Meyer die Leitung des Spartakusbundes übernommen. Als auch er im August 1916 verhaftet wurde, trat Leo Jogiches an seine Stelle. Die illegale Arbeit wurde immer umfangreicher und gefährlicher. Die Polizei strengte sich aufs äußerste an, um den kühnen Flugblattverteilern, „die Heer und Marine verseuchten,“ auf die Spur zu kommen. Immer größer wurde die Zahl derer, die gegen die Kriegspolitik kämpften und sich dem Spartakusbund anschlossen. Gar mancher kam durch Unvorsichtigkeit ins Zuchthaus oder, falls nur ein Verdacht gegen ihn bestand, ihm aber nichts nachgewiesen werden konnte, in den Schützengraben.

Leo Jogiches hatte niemals in den Kampf der deutschen Arbeiterbewegung eingegriffcn. Er stand ihrem Organisationsleben fern, kannte die deutschen Genossen bis auf einige wenige Freunde Rosa Luxemburgs nicht, und außer diesen wußte kein deutscher Sozialdemokrat von seiner Existenz. Nach kurzer Zeit hatte er die Fäden der Berliner illegalen Organisation fest in der Hand. Die gesamte Korrespondenz und die persönliche Fühlungnahme mit den Genossen im Reich geschahen jetzt durch ihn. Nie hatte ich solche Hingabe, so viel persönliche Aufopferung kennengelernt, wie ich sie jetzt bei Leo Jogiches beobachten konnte. Er war Verschwörer in Reinkultur: Ohne persönlichen Ehrgeiz, ruhig und zielklar erledigte dieser Revolutionär seine Obliegenheiten. Er kannte keine Ruhepausen bei der Arbeit, die er bis tief in die Nacht, nicht selten bis zum frühen Morgen ausdehnte. Er hatte weder Sonn- noch Feiertage. Es schien, als ob er Schlaf und Nahrung entbehren konnte.

Von den meisten vor Kriegsbeginn und kurz nachher tätig gewesenen Genossen im Stich gelassen, leistete Leo Jogiches in dieser kritischen Zeit Außerordentliches. Sein Urteil über die deutschen Parteigenossen, die ihm helfen sollten, war, einige wenige ausgenommen, vernichtend. Behaupteten sie, dies oder jenes könnten sie nicht leisten, mit der Begründung, ihre Kraft würde versagen, oder brauchten sie Ausflüchte anderer Art, so sagte Leo Jogiches: „Sollen sie doch erst versuchen, ob sie bei der Arbeit zusammenbrechen; es ist unappetitlich, mit solchen Genossen zu arbeiten.“ Keinen aber gab es, der Leo Jogiches‘ Charaktereigenschaften nicht hoch einschätzte oder seine persönlichen Leistungen nicht bewunderte. Das taten selbst jene, die seinen Zorn zu fühlen bekamen. – So unbeugsam er bei der Arbeit war, sein Charakter war grundgütig. Die Jugend hing mit Liebe an ihm. Ein Lob aus seinem Munde machte sie stolz und glücklich. „Na, daas“ – [sic] „a“ kam bei seiner Aussprache des Deutschen hier langgezogen heraus – „haben Sie aber gut gemacht.“ Dabei hellten sich seine Züge auf, und er blickte den Gelobten freundlich an. Das Beispiel, das Leo Jogiches gab, verlieh vielen die Kraft, gab ihnen den Schwung, die „zwecklose“ Arbeit gegen den Krieg zu leisten. – Rosa Luxemburg klagte manchmal über die allzu große Strenge ihres Freundes gegen andere. „Er hat aber immer recht,“ meinte ich. „Das ist es ja eben, kennen Sie noch einen Menschen, der stets recht hat?“

Als ich Leo Jogiches kennenlernte, lebte er als russischer Emigrant, der unterirdisch gegen den Zarismus kämpfte, in Steglitz unter dem Namen Crystallowicz, eines Lemberger Bürgers, dessen Papiere er besaß. Das war ungefährlich, solange Lemberg von den Russen besetzt war und die in Berlin lebenden Lemberger keine Verbindung mit ihrer Heimatstadt hatten. Als diese aber von den Österreichern zurückerobert war, bestand die Gefahr, daß Leo Jogiches als Doppelgänger jenes Crystallowicz festgestellt werden konnte. Es hieß also, andere Papiere zu beschaffen. Da er während seiner Züricher Studienzeit das Schweizer Bürgerrecht erworben hatte, mußte es mit einiger Geschicklichkeit gelingen, seine damaligen Schweizer Papiere durch Nachzahlung der aufgelaufenen Beträge in Ordnung bringen zu lassen. In der Steglitzer Wohnung war seines Bleibens sowieso nicht länger. Er hatte im Februar und März 1915 unter seiner Adresse Briefe an Rosa Luxemburg ins Gefängnis gesandt. Sogleich interessierte sich die Kriminalpolizei für den Briefschreiber und ließ während seiner Abwesenheit Haussuchung bei ihm vornehmen und die Wirtin von den Spitzeln ausfragen.

Der Versuch, Leo Jogiches vorübergehend bei Parteifreunden unangemeldet unterzubringen. scheiterte an der Angst vor Polizeistrafen oder gar dem Schützengraben. Er begab sich daher fatalistisch in die Höhle des Löwen, in Rosa Luxemburgs Südender Wohnung. Alles ging gut, niemand suchte ihn dort. Ein Freund, der die Mission übernommen hatte, kam aus der Schweiz zurück und brachte Leo Jogiches seine vorschriftsmäßig in Ordnung gebrachten Papiere. Wie oft und mit welchen Schwierigkeiten hatte er Papiere und Namen gewechselt, wie oft war er, wenn das nicht gelang, in der Zwischenzeit „namenlos“ gewesen. – Jetzt fand sich auch ein politisch sympathisierender Polizeibeamter in Neukölln, der die Anmeldung vornahm und die bei einer Einreise nötigen Formalitäten umging. –

Als 1917 die Februar-Revolution im Reich des Zaren ausgebrochen war, wünschte Rosa Luxemburg sehnlichst ihren Kerker zu verlassen und nach Rußland zu gehen. Interessante Aufschlüsse über ihre und Leo Jogiches‘ damalige Stimmung gibt der hier folgende Bericht, der durch einen Zufall der Vernichtung entgangen ist. Bei einem Reinfall, auf den man immer gefaßt sein mußte, wären die Ausführungen von Uneingeweihten nicht völlig verstanden worden. Ich habe zum besseren Verständnis Anmerkungen beigegeben sowie Namen für Pseudonyme und Umschreibungen in eckige Klammern gesetzt. Leo Jogiches schrieb damals an Rosa Luxemburg:

I. Ihr Schweigen infolge der Nichtbeförderung der Briefe Anfang Juni hat mich sehr beunruhigt und sogar deprimiert. Bitte dringend, sofort genaueste Durchsuchung aller Ihrer Sachen, Bücher, Notizen, Briefe, Papierfetzen vorzunehmen und alles sofort unbarmherzig zu vernichten, was irgendwie auf Verbindung mit der Außenwelt hindeutet. Warne dringend! Ich weiß aus Erfahrung, daß in dieser Lage ganz unerwartet Durchsuchung aus irgendeinem zufälligen Anlaß in jedem Moment auf Verfügung von draußen vorgenommen werden kann. Bedenken Sie, was auf dem Spiele steht! Ich kenne Sie als außerordentlich nonchalant und habe bereits voriges Jahr mit einem anderen Genossen, – es war der Krusche, – [Rosa Luxemburg] eine Erfahrung gemacht. In seinen Sachen, die man aus dem Krankenhaus [Gefängnis] abgeholt hat, waren verschiedene meiner Briefe und andere Sachen aufbewahrt, und das ist mir eine Warnung auch inbezug auf Sie.92

II. Was Ihre Eingabe93 betrifft: Wie ich schrieb, ich halte sie – und sie ist es auch – objektiv absolut unbedenklich, aber klug ist sie nicht, denn aussichtslos und auch in der Beziehung nicht angebracht, daß man entweder Deutsche oder Russin ist, nicht je nachdem; und gibt man das Deutschtum nicht auf, so soll man das Russentum nicht ins Feld führen, wenn es auch verständlich für jedermann sein dürfte, daß man, ungeachtet seiner deutschen Staatsangehörigkeit in solchem Moment wie dem jetzigen seine Heimat sehen will. Das ist aber kein rechtlicher Grund für ein Oberkommando. Ich rate, die Sache nicht weiter zu verfolgen und den Geburtsschein überhaupt nicht einzusenden. Das Kommando will letzteren nur dazu haben, um formell festzustellen, daß Sie in Polen geboren sind, dem „unabhängigen Staate“ angehören, also kein Anrecht haben, als Russin betrachtet zu werden (was auch sonst wegen Ihrer deutschen Staatsangehörigkeit bereits der Fall ist). Aus diesem Grunde wird Ihr Gesuch zweifelsohne abgewiesen werden. Genau so wurde die Sache entschieden bei einem Ihrer polnischen Freunde (bei dem Bonaventura) [Dr. Julius Marchlewski], der dasselbe Gesuch stellte, – obwohl er kein deutscher Staatsangehöriger ist. Lassen Sie also die Sache sein. – Ich bin andererseits für Anwendung aller gesetzlichen Mittel den Behörden gegenüber und zwar in schroffer Form, ohne sich etwas zu vergeben, – damit Sie loskommen.

a) Bin ich dafür, daß Sie den Rechtsanwalt unter der Kontrolle von Gross [Leo Jogiches] agieren lassen. Daß Gross nichts Unbedachtes zulassen wird und Sie nicht bloßstellt, wissen Sie wohl selbst. In solchen Sachen haben für ihn persönliche Momente und Freundschaft keine Geltung (der „reine Cato!“).

b) Will ich einen saugroben Brief an das Internationale Büro (Stockholmer Ausschuß) schreiben im Namen der lieben KPiL und es an die Pflicht erinnern, Sie sofort für das Büro oder sonst zu reklamieren.94 Der Ausschuß hat es bereits getan für Otto Bauer95 (in russischer Gefangenschaft) und für Pawlowitsch96 (Zivilgefangener in Österreich), und zwar mit Erfolg (Zusage erhalten). Natürlich werde ich dabei hinzufügen, daß Sie zweifellos die ganze jetzige Tätigkeit des Ausschusses selbst (Konferenz etc.) mißbilligen.

c) Ein Schreiben desselben Inhalts an dasselbe Büro vom Alten im Namen der Gruppe „Internationale“.97

b) Publizierung der eventuellen Schritte des Ausschusses in der Presse, damit die Sache publik wird und die deutschen Behörden mit dem Eindruck rechnen müssen.

c) Eventuell will ich versuchen (nur weiß ich nicht, ob dies aus technischen Gründen möglich sein wird), eine betreffende entsprechende Kundgebung auf dem allgemeinen Kongreß aller Arbeiter- und Soldatenräte Rußlands im Juni zu veranlassen. – Bitte über alle diese Sachen sich nicht zu äußern. Wegen Verzögerung und des Risikos der Korrespondenz. Ich werde nicht auf eigene Faust handeln, ich will die Kollegen zu Rate ziehen.

III. Was unsere Stellung zu Stockholm und zu der laufenden Politik betrifft, müssen wir m. E. in alle unsere Kundgebungen (auch Artikel) unbedingt folgende zwei Gedanken hineinbringen:

a) die Losung: „Friede ohne Annexionen und ohne Kriegsentschädigung“ habe nichts Sozialistisches an sich, es sei nicht die Formel eines proletarisch-sozialistischen Friedens, trotzdem sie der russische Arbeiterrat aufgestellt hat. Es ist die Friedensformel eines ausweglosen fehlgegangenen imperialistischen Krieges, der infolge des Kräftegleichgewichts keine militärische Lösung finden kann. Die Regierungen, die das eingesehen und die Hoffnung verloren (Deutschland-österreich), wünschen auch das Zustandekommen der Stockholmer Konferenz, die sich zweifellos auf den Boden dieser Formel stellen würde. England und Frankreich dagegen, die die Hoffnung auf militärische Lösung im Hinblick auf die Hilfe Amerikas noch nicht aufgeben, sind gegen Stockholm und verweigern die Pässe. Bei den Russen ist diese Losung bloß ein Kompromiß, ihre erste Losung (im Aufruf „An alle Völker der Welt“ vom 27. März) war eine andere Losung, die lautete: „Auf zur internationalen Resolution, um den Frieden herbeizuführen“.98 Damals lehnten die Russen jede Verhandlung mit den Regierungen ab.

b) Die kolossale Bedeutung, die der Stockholmer Konferenz von den Regierungen und der gesamten bürgerlichen Welt beigemessen wird, sei nicht der Ausdruck der Macht des Sozialismus, sondern seiner Ohnmacht. Denn die Sozialisten haben dabei, z.T. bewußt, z.T. unbewußt, die Rolle von Unterhändlern ihrer Regierungen übernommen (da die Regierungen selbst miteinander nicht in Verbindung treten können und wollen). Die Sozialisten setzen dabei nur die Politik des 4. August fort, indem sie auch jetzt den Sozialismus zum willigen Werkzeug der Regierungen machen, d.h. die alte Politik in neuer Form entsprechend der veränderten Sachlage (Aussichtslosigkeit eines Sieges und Notwendigkeit aus der Sackgasse herauszukommen) treiben. Hervorhebung dieser beiden Gesichtspunkte m. E. außerordentlich wichtig, da der Schein für die Scheidemänner spricht, Illusionen und Verwirrung hervorruft. Gelegentlich bitte um Rückäußerung und Berücksichtigung.

IV. Teltower,99 vielleicht noch andere Kreise werden 3 Delegierte, darunter auch Sie, nach Stockholm wählen. Natürlich nicht zu der Troelstra-Konferenz.100 Auf Eingabe F’s betreffend Paß wurde der Vorstand (Haase, Ledebour) von dem Oberkommando befragt, ob F. Delegierter der Partei ist. Nachdem F. von Wahlkreisen gewählt sein wird, muß der Vorstand entsprechend die Anfrage beantworten, dann ist die Ausstellung des Passes fast zweifellos. [. . .] Was Sie betrifft, so ist Ihre Wahl noch [kein] Grund für Ihre Freilassung. Aber es kommt darauf an, Krach zu machen und die Behörde bloßzustellen.101 Dies in aller Eile, damit Sie eher loskommen. Ich bin überzeugt, wäre man bis jetzt nicht so passiv, Sie wären schon längst draußen. Jetzt soll es nachgeholt werden.

V. Trotz der flauen, gedrückten Stimmung der Arbeiter hier und ungünstiger Lage in Rußland, habe ich immer die feste überzeugung, daß wir in naher Zukunft Wichtiges erleben werden, falls der Krieg weiter geht, was zweifellos ist. Und da ist außerordentlich wichtig, daß Sie auf freiem Fuß sind und eingreifen können. Schon jetzt könnten Sie großen Einfluß üben.

VI. Habe mir eine Nummer der Nowoje Wremja102 übersetzen lassen. Wirkt atembeklemmend, direkt märchenhaft, aber manches sehr besorgniserregend, besonders die Leninschen Idiotismen,103 die populär sind und m. E. geeignet, die Bewegung zu kompromittieren, im Chaos aufzulösen und Deutschland aus der Patsche zu helfen.104 Es war drin eine große Rede Plechanows in Vollversammlung des Arbeiterrats. Der alte Schwätzer (übrigens sehr applaudiert) prahlte mit Gesprächen, die er mit K.K. [Karl Kautsky] und mit Ihnen auf dem Mannheimer Parteitag 1906 geführt hätte und was Sie dabei gesagt. Er muß sich immer „grohss“ [sic] machen.

Herzlichste Grüße und Händedruck

Marie [Leo Jogiches]105

Leo Jogiches hatte richtig vorausgesehen: Heer und Marine in Deutschland wurden des Kämpfens müde; aus den Briefen ihrer Angehörigen sprach Mutlosigkeit und Verzweiflung, sie berichteten von Hunger und Elend in der Heimat. – Weniger Brot, keine Rechte, neue Steuern und dazu das Morden ohne jede Aussicht auf ein baldiges Ende, hieß es jetzt in einem Flugblatt. Und als Lenin in Rußland im Oktober 1917 die Macht erkämpfte, die Duma sprengte und die halbe Revolution der Kerenski-Periode zu einer ganzen, proletarischen Revolution trieb, sprühten die revolutionären Funken nach Deutschland hinüber. Sie entzündeten den großen Januar-Streik des Jahres 1918, in dem „Unabhängige Sozialdemokratie“106 und „Spartakus-Bund“ Schulter an Schulter standen. In diesem Streik überstürzten sich die politischen Geschehnisse, so daß dem Spartakus-Bund keine Zeit blieb, seine Flugblätter von Rosa Luxemburg schreiben zu lassen. Franz Mehring darum zu bitten, wäre zu umständlich gewesen. Denn zu ihm fuhr Leo Jogiches aus solchen Anlässen stets selber und nur auf Umwegen. Er wechselte dann mehrmals Straßenbahn oder Omnibus, umkreiste, an Ort und Stelle angelangt, die Häuserblocks, und erst, wenn er ganz sicher war, keine Spitzel an den Fersen zu haben, stieg er zur Mehringschen Wohnung hinauf.

Franz Mehring, der Alte kurzweg von seinen Kampfgenossen genannt, bewunderte den politischen Weitblick des ihm freundschaftlich verbundenen Verschwörers. Während die geringste Veränderung beim Druck seiner Manuskripte den sonst so verbindlichen Franz Mehring in hellen Zorn versetzte, gestattete er Leo Jogiches, die diesem nötig scheinenden Änderungen vorzunehmen. Leo Jogiches pflegte von sich zu sagen, die in der Praxis zu leistende schriftstellerische und rednerische Arbeit läge ihm nicht. Er sei ein guter Motor, der die Arbeitsmaschine in Gang brächte und laufen ließe. Und doch konnte er diese praktische Arbeit leisten, wenn die Verhältnisse, wie in diesem Streik, ihn dazu zwangen. Die von ihm verfaßten Flugblätter zeichneten sich durch prägnante Fassung und lapidaren Stil aus. Flugblätter, sagte er, können nur wenige schreiben. Sobald sie nicht kurz gehalten sind, langweilen sie und werden nicht gelesen. Rosa Luxemburg sei Flugblattschreiberin par excellence, auch Paul Levi, Karl Liebknecht und Franz Mehring sprach er diese Fähigkeit zu.

Die Januar-Flugblätter von Leo Jogiches enthielten Losungen, die zum ersten Mal in die Massen getragen wurden:

ABSETZUNG DER PREUSSISCHEN HOHENZOLLERN VON GOTTES GNADEN ! NIEDER MIT DEN FÜRSTLICHEN SCHMAROTZERN DER DEUTSCHEN KLEINSTAATEN ! AUFHEBUNG DER DREI DUTZEND DEUTSCHEN VATERLÄNDER ! GRÜNDUNG EINER EINIGEN DEUTSCHEN REPUBLIK !

Der deutsche Spießer, der diese Flugblätter las, empörte sich ob solchen „Landesverrats“, oder er schüttelte sein Haupt, die Zurechnungsfähigkeit des Flugblattschreibers anzweifelnd. War ihm doch der zu erwartende endgültige Sieg jahrelang vorgetäuscht worden. Sein Glaube in den deutschen Sieg war stark.107 Die Kriminalpolizei setzte ihre Häscher in Bewegung, als diese Flugblätter auftauchten. Sie wußte, daß die Verbreitung vom Spiritus rector des „Spartakus-Bundes“ ausging, war aber ahnungslos genug, diesen auch für den Verfasser aller derjenigen Flugblätter und Artikel zu halten, die aus Rosa Luxemburgs Feder stammten. Die ganze Polizeidummheit gehörte dazu, einen so charakteristischen Stil wie den Rosa Luxemburgs jahrelang nicht herauszufinden.

Da Leo Jogiches bisher mit äußerster Vorsicht und nur mit wenigen erprobten Genossen gearbeitet hatte, suchte ihn die Polizei vergeblich. Wurden Verdächtige verhaftet und durch Polizeischikanen zu Aussagen gebracht, so konnten sie wohl eine Personalbeschreibung des Verschwörers geben, aber seinen richtigen Namen oder gar die Wohnung kannte niemand. Auch Briefe, die im Reich bei Haussuchungen gefunden wurden, leiteten nicht auf die Spur. Sie waren stets mit den verschiedensten Hand- oder Maschinenschriften hergestellt, und ständig wechselten die Namensunterschriften von Leo Jogiches, der einmal „Gross“, dann wieder „Kraft“ oder „Krummbügel“ und immer wieder anders zeichnete.

Je länger der Krieg dauerte, desto größere Lücken riß er in unsere Reihen. Genossen, die den Behörden politisch verdächtig schienen, wanderten in den Schützengraben, andere, denen man kriegsgegnerische Tätigkeit nachweisen konnte, ins Gefängnis oder Zuchthaus. Abgeschreckt durch diese rigorosen Maßnahmen, nicht tapfer genug, sie auf sich zu nehmen, versagte mancher. Dann wieder zogen sich viele, kampfesmüde, zurück, weil alles so aussichtslos schien, auch waren sie den Strapazen dieser aufreibenden Arbeit nicht gewachsen. Irgendeine Vergütung dafür gab es nicht, jeder opferte freiwillig Zeit und Geld.108

Bei dem Mangel an helfenden Kräften hatte Leo Jogiches seine „Motortätigkeit“ aufgegeben. Jetzt nahm er, weil meist sich niemand dazu fand, Papier oder Matrizen auf den Buckel und schaffte sie in illegale Druckereien, aus denen die fertigen Drucksachen oft genug auch von ihm abgeholt wurden. – Das Prinzip, politische Aussprachen nur mit wenigen Genossen zu haben, die dann die Vertrauensleute in den Betrieben unterrichteten, mußte von Leo Jogiches aufgegeben werden. Er hielt jetzt häufig vor 20 und mehr Arbeitern Informations- und Schulungsreferate.

Ich teilte Rosa Luxemburg mit, in welcher Lage sich unser Freund befand. Sie bat ihn, sich der Gefahr einer Verhaftung nicht auszusetzen. Eine Bewegung, „die auf zwei Augen gestellt ist,“ sagte sie, sei keine Bewegung. Lebensfähig aber würde sie sich Bahn brechen, auch wenn er in die Schweiz ginge, wozu sie ihm riet. Denn es konnte nur eine Frage der Zeit sein, daß die Fangarme der Polizei Leo Jogiches erreichten. Und dann erwartete diesen politischen Verbrecher als „feindlichen“ Ausländer Zuchthaus-, vielleicht sogar Todesstrafe. – Schließlich besprach ich mit Leo Jogiches, der von einer Ausreise in die Schweiz nichts wissen wollte, was ich für ihn bei seiner Verhaftung tun könnte. Außer für Nahrungsmittel war für Bücher, Zeitungen u.a.m. zu sorgen. Für alles, was man einem Gefangenen brachte, war die schriftliche Genehmigung des zuständigen Richters vorzuzeigen.109 Es gab also bei einer Verhaftung viele Wege, ehe man die Gefangenen mit dem Nötigsten versorgt hatte. Ich selbst durfte Leo Jogiches weder im Gefängnis besuchen, noch zu seinem Richter gehen. Meine Beziehungen zu Rosa Luxemburg hätten das Gericht sogleich auf die richtige Fährte gewiesen.

Leo Jogiches hatte keine Angehörigen, es mußte deshalb eine „Braut“ für ihn gefunden werden. „Bräute“ hatten sich als zweckmäßig für Gefangene ohne Familie erwiesen. Hatten die Inhaftierten keine Freundin, so wurde sie erfunden. Die Auswahl unter den in Betracht kommenden Genossinnen, die Leo Jogiches diesen Dienst hätten leisten können, gestaltete sich recht schwierig. Immer wieder lehnte Leo Jogiches die ihm vorgeschlagenen Frauen als politisch kompromittierend mit Witz und Humor ab. – Als er sich am Tage vor seiner Verhaftung von mir verabschiedete, ging er zu einer Sitzung nach Neukölln, an der etwa 20 Genossen teilnahmen. „Also, wenn mir etwas passiert,“ sagte er, „setzen Sie sich mit meiner Wirtin in Verbindung, sie wird alles Nötige für mich tun.“ – Die Adresse der Wirtin war außer Franz Mehring nur mir bekannt, ich habe sie niemandem sagen dürfen, auch den Vertrautesten nicht.

Leo Jogiches pflegte an Tagen, wo er nicht zu mir kam, sich telephonisch zu melden. Er sagte mir, wo er zu erreichen war, da alle, die ihn sprechen wollten, sich an mich wandten. Wir hatten eine recht verklausulierte Art, uns zu verständigen. Namen wurden nicht genannt, jeder wurde entweder mit einem Spitznamen bezeichnet oder umschrieben, so daß Lauscher – die von Amts wegen nicht selten die Leitung behorchten – nichts heraushören konnten. – Wie manche Stunde habe ich voller Angst verbracht, wenn ich Leo Jogiches zu einer bestimmten Zeit erwartete und er nicht kam. Zwar pflegte er unpünktlich zu sein; nicht selten, wenn er in den Vormittagsstunden bei mir sein wollte, erschien er erst gegen Abend. Ich war dann froh, daß er überhaupt kam und ersparte ihm meist die Vorwürfe.

Als aber am 10. März 1918 bis zum späten Abend weder ein telephonischer Anruf erfolgte, noch Leo Jogiches selbst kam, wußte ich, daß sein Schicksal besiegelt war. Am nächsten Morgen fuhr ich in seine Wohnung. Er war am vorhergehenden Morgen dort verhaftet worden; eine dabei vorgenommene Haussuchung war ergebnislos verlaufen. Wie üblich kam der Ver haftete zuerst ins Polizeigefängnis nach dem Alexanderplatz. Ich bat die Wirtin, sich um Leo Jogiches zu kümmern. Sie willigte gern ein und besorgte gewissenhaft alles Nötige, war aber eifersüchtig, wenn hie und da eine Verehrerin des Gefangenen auftauchte. – Beiläufig hatte Leo Jogiches Bemerkungen über sie gemacht, so auch, daß sie krankhaft neugierig wäre. Als ich die Wirtin aufsuchte, führte ich mich unter falschem Namen bei ihr ein. Sie fragte sogleich, ob ich die Frau des alten Herrn mit dem weißen Bart wäre, was ich der Einfachheit halber bejahte. Gemeint war Franz Mehring, der einzige Besucher, der bei Leo Jogiches erschienen war.110 – Die Frau hat sich sehr gut benommen. Als sie Leo Jogiches ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz Sachen und Essen brachte, sagte der diensttuende Beamte, sie möge sich schämen, einen Mann zu versorgen, der versucht habe, das tapfere deutsche Heer mit seinen Flugblättern zu verseuchen; sie solle das Essen Armen geben. „Das Essen gehört Herrn Jogiches,“ erwiderte die Frau, „und die Deutschen sollen von einem Mann, der so zu verachten ist, nichts annehmen.“ Sie setzte ihren Willen durch, und Leo Jogiches hatte jetzt ein erstes Zeichen, daß wir von ihm wußten.

Nach einigen Tagen wurde er ins Moabiter Untersuchungsgefängnis überführt. Hier war ich zu jener Zeit unbekannt, so daß ich mit den Beamten verhandeln und, die Unterschrift der Wirtin unter das Verzeichnis setzend, alles für Leo Jogiches bringen konnte. Da die Wirtin tagsüber beruflich in Anspruch genommen war, Sachen für die Gefangenen aber nur in den Vormittagsstunden abgegeben werden durften, nahm sie meine Hilfe an. Trotz strenger Kontrolle im Moabiter Untersuchungsgefängnis konnte ich Leo Jogiches, der immer neue Arten des Schmuggels ersann, mit politischen Nachrichten versehen. „Auch alle privaten Dinge intressieren mich,“ dechiffrierte ich gleich in den ersten Tagen eine Mitteilug [sic] des großen Leo, der mir streng eingeschärft hatte. Berichten an Rosa Luxemburg niemals Privatgeschichten oder Gefühlsäußerungen hinzuzufügen. „Wegen solchen Quatsches riskiere man nichts!“

Der zuständige Untersuchungsrichter Holthöfer111 war begeistert, den Hoch- und Landesverräter Jogiches hinter Schloß und Riegel zu wissen. Seit Monaten hatte man nach ihm gefahndet, und schwer genug war den Häschern das Fangen gemacht worden. Leo Jogiches hatte die Hauptrolle in einem Landesverratsprozeß gegen Bertha Thalheimer112 gespielt, die nach sechsmonatlicher Untersuchungshaft zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, sie in Delitzsch aber nicht ganz verbüßte, da ihr der November-Umsturz die Freiheit brachte. Die Genossin war von Stuttgart nach Berlin gekommen, um Leo Jogiches in seiner politischen Tätigkeit zu unterstützen. Sie hatte in Südende ein Zimmer gemietet, in dem er häufig mit ihr arbeitete. Im Nebenzimmer wohnte, was Bertha Thalheimer nicht wußte, ein Redakteur der Scherlpresse, der ihre Gespräche mit Leo Jogiches zu belauschen versuchte. – Auch die Schwägerin Bertha Thalheimers war in den Prozeß verwickelt, weil sie handschriftlich eine zu hektographierende Platte für einen Aufruf geschrieben hatte, dessen Inhalt das Kopieren zu einer strafbaren Handlung machte.

Während des Prozesses wurden die Wirtin, der Zimmernachbar, die Schwägerin und viele andere als Zeugen vernommen. Die einen konnten, die anderen wollten die richtige Personalbeschreibung von Leo Jogiches nicht geben. Dazu kam, daß weder die Wirtin noch der Zimmernachbar etwas Positives aussagen konnten. Die in den Prozeß verwickelten Parteigenossen schoben allerdings vieles auf die sagenhafte Persönlichkeit ab, die in den Spitzelberichten eine Rolle spielte, in dem Glauben, dieser „schlaue Fuchs“ sei von der „saudämlichen Polizei“ – wie Leo Jogiches sich auszudrücken pflegte – nicht einzufangen. Man wiegte sich außerdem in Sicherheit, weil die gegebene Personalbeschreibung nicht stimmte und man rechnete damit, daß die Spitzel Leo Jogiches doch nicht finden würden. Und jetzt hatte man den Fuchs in der Falle, zur Freude des Untersuchungsrichters, der sich davon Material für den Thalheimer-Prozeß versprach, und zum Schrecken seiner Freunde.

Leo Jogiches machte diesem Herrn, der auch seinen Prozeß führte, die Sache nicht leicht. Bei Verhören verweigerte er die Aussage, so daß der Richter Monologe hielt. Leo Jogiches verstellte seine Handschrift, und kein Graphologe konnte herausfinden, daß es die gleiche Handschrift war, die man durch ihm zugeschriebene konspirative Briefe kannte. – Zur Schande einiger mit ihm verhafteter Genossen sei gesagt, daß sie sich im Gefängnis nicht wie Revolutionäre verhielten. Mürbe gemacht, ließen sie sich zu Aussagen breitschlagen. Trotzdem konnte Leo Jogiches durch sein geschicktes Verhalten keine strafbare Handlung nachgewiesen werden. –

Bevor der Prozeß an den Amtsrichter Holthöfer überwiesen war, mußte ich Nahrungsmittel, die ich dem Gefangenen brachte, dem Ermittlungsrichter vorzeigen. Dieser Beamte gab mir meist einen Teil des mitgebrachten Essens zurück. Ob ich mir einbilde, daß Landesverräter ins Gefängnis kämen, um sich an Speis und Trank gütlich zu tun. Solchen Leuten sei eine Hungerkur dienlich. Auch alle Bücher mußte ich dem Beamten vorlegen. Autoren wie John Galsworthy, Knut Hamsun, selbst Leo Tolstoi waren ihm unbekannt. „Was denken Sie sich eigentlich,“ herrschte er mich an. „Solche Schriftsteller kennt doch kein Mensch, ich weiß ja nicht, was in den Büchern steht. Die Titel sind unverfänglich, das will aber nichts sagen. Bringen Sie Klassiker oder Bücher aus Engelhorns Romanbibliothek, da weiß ich, daß es gute Bücher sind, die ich zu lesen gestatten kann.“ – Sobald Holthöfer für den Prozeß gerichtlich zuständig war, durfte ich alle 10 Tage, später wöchentlich, Essen abgeben, nur kein gekochtes. Bald hatten wir herausgefunden, daß die zur Abnahme der Speisen bestimmten Beamten bestechlich waren. Gestattet war nur wenig Eßware hineinzugeben, aber gegen ein Trinkgeld wurde das Herz der Beamten weich, und so brauchten unsere Gefangenen nicht zu hungern.

Nachdem ich alles Nötige für Leo Jogiches in die Wege geleitet hatte, reiste ich zu Rosa Luxemburg, die mich ungeduldig erwartete. So sehr sie um Leo Jogiches während seiner illegalen Tätigkeit gezittert hatte, so ruhig nahm sie das Unabänderliche auf. Nur verbat sie sich jede weitere Zuwendung von Lebensmitteln. Sie werde in Breslau gut verpflegt, und ich müßte jetzt für Leo Jogiches sorgen. „Du weißt doch,“ sagte sie. „daß das Essen in den Gefängnissen ungenießbar ist und Leo fast ausschließlich von dem lebt, was du hineingibst. Bitte, sage, was du ihm bringst.“ – Ich zählte auf. – „Ich merke schon, du machst deine Sache gut. Habe ich nicht anders von dir erwartet.“113 Rosa Luxemburg gab mir bei jedem Besuch irgend eine Kleinigkeit für Leo Jogiches, die sie sich entweder abgespart oder in Breslau durch Frau Schlisch hatte auftreiben lassen. Auch für Zigaretten sorgte sie, denn Leo Jogiches war Raucher. Ganz Rosa Luxemburgs Art entsprach es, daß sie mir nahelegte, ihre Laken verarbeiten zu lassen, falls Leo Jogiches Wäsche benötigte, was allerdings nicht der Fall war. –

Jetzt hieß es, das Erscheinen der „Spartakus-Briefe“ nicht zu unterbrechen. Sie waren außer Flugblättern das einzige Organ, durch welches die „Spartakus-Gruppe“ zu den Massen sprach; auch sollte die Nichteinstellung dieses wichtigen Blattes den Verdacht von dem Gefangenen ablenken. Leo Jogiches empfahl, die Redaktion dieser Briefe Wolfgang Fernbach114 zu überlassen, einem jungen sehr begabten Freund von uns, der während des Krieges mit großer Selbstlosigkeit gearbeitet hatte. Die engere Wahl der Artikel und ihre Zusammenstellung wollte Leo Jogiches selbst vorzunehmen versuchen.115 Ich teilte Ernst Meyer, der inzwischen wieder auf freien Fuß gesetzt war, diesen Entschluß mit. Meyer war lungenleidend, seine körperlichen Kräfte waren den Strapazen des illegalen Arbeitens auf die Dauer nicht gewachsen, und verzweifelt über die Haltung des deutschen Proletariats, hatte er sich von der illegalen Arbeit zurückgezogen. Nach Leo Jogiches‘ Verhaftung stellte er sich zur Verfügung und übernahm wieder die Herausgabe der „Spartakus-Briefe“. –

Im März 1918, etwa 6 Monate nach der Machtergreifung der Bolschewiki in Rußland, kamen die Volksbeauftragten der Russischen Föderativen Sowjetrepubliken als diplomatische Vertreter nach Berlin und suchten hier mit den deutschen oppositionellen Sozialdemokraten sogleich Fühlung. Jetzt hielten es auch die Feigsten für angebracht wieder zu arbeiten, denn man schämte sich vor den Russen. – Die in die Berliner Russische Botschaft entsandten Volksbeauftragten waren keine geistigen Größen, doch beseelte sie Opferfreudigkeit und Hingabe an die Revolution. Ich ging gelegentlich zu ihnen, um über Rosa Luxemburg und Leo Jogiches zu berichten. Sie sprachen mit leuchtenden Augen von diesen beiden Revolutionären und erboten sich, pekuniäre Opfer für sie zu bringen. Ich lehnte sie ab, weil weder Rosa Luxemburg noch Leo Jogiches sie angenommen hätten.116

Eine fieberhafte Zusammenarbeit der russischen und deutschen Genossen setzte ein. Zu dem alten Stamm revolutionärer Sozialdemokraten gesellten sich solche, die teils von den hohen Gehältern, die die Russen zahlten, teils durch ihre Machtpositionen angelockt wurden. Ich erinnere mich an Parteigenossen, innige Freunde von Menschewiki, die plötzlich Stellungen auf der russischen Botschaft einnahmen. Sie hatten sich davon „überzeugt“, daß sie die Bolschewiki falsch beurteilt hatten und waren jetzt Bahnbrecher des Bolschewismus in Deutschland. –

Aus innerster überzeugung der russischen Revolution zu dienen, kam im Sommer 1918 Paul Levi nach Berlin. Er hatte im Kriege zur Wiederherstellung seiner Gesundheit längere Zeit in der Schweiz verbracht und war dort in enge Beziehungen zu Lenin und Radek getreten. Beglückt, daß es Lenin gelungen war, seine Pläne in die Tat umzusetzen, dachte Paul Levi jetzt nicht daran, seinen bürgerlichen Beruf als Rechtsanwalt wieder aufzunehmen. Er setzte sich vielmehr mit seiner ganzen Persönlichkeit für die in Deutschland von den Spartakisten erhoffte Revolution ein, deren Hereinbrechen Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei noch am Vorabend des Umsturzes als ein Unglück befürchteten. –

Ende August und Anfang September 1918 machte ich meine letzten Gefängnisbesuche bei Rosa Luxemburg. Wir waren übereingekommen, daß ich im Herbst für meinen Urlaub einen Ort wählen sollte, bei dem ich auf der Hin- und Rückreise Breslau berühren konnte. Rosa Luxemburg bemühte sich, eine passende Erholungsstätte für mich zu erkunden und erfuhr von den Gefängnisaufseherinnen, daß sie ihren Urlaub gern im Glatzer Gebirge verbrachten, das landschaftlich schön und von Breslau schnell zu erreichen ist. So fuhr ich über Breslau ins Glatzer Land. – Für den ersten Besuch hatte ich mir einen kleinen Betrug ausgedacht. Ohne vorher auf der Kommandantur gewesen zu sein, ging ich ins Gefängnis und sagte zu der diensttuenden Aufseherin, daß ich mit Frau Luxemburg Rücksprache nehmen wolle, für wann sie die Ausfahrten bzw. Besuche haben möchte. Die Aufseherin holte die Gefangene auf den Hof hinunter, und Rosa Luxemburg umarmte mich stürmisch. Sie wäre gerade in so gedrückter Stimmung gewesen, von der sie diese überraschung befreit habe. Wie groß war ihre Freude, als sie in der Zelle in einer ihr von mir überlassenen Zeitung die damals nach Deutschland gelangte Schrift Leo Trotzkis fand: „Von der Oktoberrevolution bis Brest Litowsk.“117 – Nach einigen Ausfahrten mit der Gefangenen reiste ich ins Gebirge und zwar allein. Da ich häufig entweder Geheimbriefe Rosa Luxemburgs an Paul Levi weiterleitete oder dessen Berichte in Geheimschrift Rosa Luxemburg übermittelte, war das Alleinsein eine notwendige Vorsicht.118 Auf der Rückreise besuchte ich wieder, wie vereinbart, Rosa Luxemburg im Gefängnis. Von einem Fenster aus sah ich sie im „Küchengarten“ auf- und abgehen. Nachdem ich mich ihr bemerkbar gemacht hatte, rief ich hinunter: „Hast du die heutige Zeitung gelesen?“ „Ja,“ rief sie, den Sinn meiner Frage verstehend, zurück. Die Zeitungen kündeten den nahen militärischen Zusammenbruch Österreichs an, nach dem die Niederlage Deutschlands nicht ausbleiben konnte.119

Die Kerker der politischen Märtyrer öffneten sich. Wenige Wochen vor dem staatlichen Umsturz wurden von der deutschen Regierung „Begnadigungen“ ausgesprochen. Eine Geste. Denn die Revolution kündete sich an und der Sturm auf die Gefängnisse konnte nicht ausbleiben. Karl Liebknecht gehörte zu den Amnestierten. Er wurde am 23. Oktober aus dem Zuchthaus entlassen. Eine ungeduldige Menschenmenge erwartete ihn auf dem Bahnsteig und in der näheren Umgebung des Anhalter Bahnhofs. Da der Zug ungewöhnlich lange ausblieb, tauchte die Befürchtung auf, er sei auf Anordnung der Regierung umrangiert worden, um einem unerwünschten Empfang und Kundgebungen vorzubeugen. Als der Zug endlich einlief, gerieten die Wartenden in einen Freudentaumel. Feldgraue hoben den geliebten Führer auf ihre Schultern und trugen ihn in einen bereitstehenden offenen Lastwagen. Karl Liebknecht, die Fäuste geballt, rief wiederholt: „Nieder mit der Regierung! Nieder mit dem Krieg!“, dieselben Worte, die ihm die Zuchthausstrafe eingetragen und die er dem Gerichtshof nach seiner Verurteilung zugerufen hatte. Der Jubel der Masse war so spontan und überwältigend, daß die Polizei nicht sogleich Herr der Lage werden konnte. Schließlich aber gewann sie die Oberhand und sperrte die Straßen um den Anhalter Bahnhof durch eine festgeschlossene Schutzmannskette ab, so daß die Menge dem Wagen Liebknechts, der zur Russischen Botschaft gefahren wurde, nicht folgen konnte.120 Wenige Tage später wurde die diplomatische Vertretung Rußlands von der preußischen Regierung heimgeschickt.

Aus jenen Tagen ist ein Stenogramm Paul Levis der Vernichtung entgangen, das er mir zur geheimen Weiterbeförderung an Rosa Luxemburg diktiert hat. Diese Zuschrift gibt auch Einblick in die Tätigkeit der revolutionären Arbeiter kurz vor Ausbruch der Revolution, weshalb ich sie im Wortlaut hier einfüge:

Zunächst Ihre Sache. Besonderen Erfolg von den Militärinstanzen verspreche ich mir auch nicht. Ich will diese Schritte unternehmen, damit nicht hinterher der „negative Kompetenzkonflikt“ entsteht, und einer die Sache auf den andern schiebt. Hinterher wird der Reichskanzler sagen, wäre man vorschriftsmäßig vorgegangen, so wäre der Haftbefehl aufgehoben worden und die Militärinstanz wird sagen, hätte man uns Anweisung gegeben, so hätte man den Haftbefehl aufgehoben. Diesen dummen Ausreden will ich vorbeugen. Sie sollen sich jetzt öffentlich in aller Form und in begründeter Weise zum Haftbefehl bekennen. Daneben aber werde ich, sobald ich wieder in Berlin bin, versuchen, bei Gröber121 vorzusprechen, der ja der Stellvertreter des Reichskanzlers in Sachen des Belagerungszustandes ist. Dabei setze ich voraus, das [sic] Haase noch nichts unternommen hat. Hätte er Schritte in dieser Richtung schon getan, so würden sich die meinigen erübrigen. Weiter Persönliches zu mir: Karl [Liebknecht] und Erna [Ernst Meyer] wünschen dringend, daß ich hier bleibe, und ich werde so voraussichtlich für Ende dieser Woche für dauernd hierher übersiedeln.

Weiter gebe ich Ihnen einige Nachrichten ohne weiteren Zusammenhang, nur in der Reihenfolge, in der ich sie mir notiert habe:

1) Zum Zeichen der Stimmung in den Heeresteilen ist von Bedeutung die Nachricht: Am Freitag sollte von der Flotte ein großer Schlag gegen England geführt werden. Die Flotte fuhr aus, aber nach einiger Zeit unverrichteter Sache wieder zurück, da die gesamte Flotte meuterte. Man sagt, daß die Scheidemänner die Angelegenheit schon in die Hand genommen hätten und zu dämpfen versuchten. Näheres weiß ich selbst noch nicht. – In der Armee soll die Stimmung glänzend sein. Lekk. [Karl Liebknecht] erzählte mir heute früh so beispielsweise, daß in den einzelnen Garderegimentem Elite-Bataillone gebildet würden, aus denen alle Berliner und überhaupt alle Großstädter entfernt würden. Nach den Gewährsmännern von Lekk. sei auch die Stimmung so, daß es ausgeschlossen sei, daß auch diese Elite-Bataillone auf das Volk schießen. Wahrscheinlich sei eine Fraternisierung.

Weniger erfreulich ist die Situation in der Arbeiterschaft oder in dem, was sich als Vertretung der Arbeiterschaft bezeichnet. Samstag Abend tagte der Arbeiterrat und lehnte mit 23 gegen 19 Stimmen die für Montag angesetzte Aktion mit Demonstration ab.122 Der Beschluß wirkte auf unsere Leute furchtbar deprimierend. Wir beschlossen Sonntag, da uns ja augenblicklich jeder Mechanismus fehlt, der selbständig Massen in Bewegung setzen könnte, auf eine Ausgestaltung dieses Arbeiterrates zu drängen, insofern als dieser Arbeiterrat zur Zeit im wesentlichen besteht aus der verärgerten Opposition des Metallarbeiterverbandes und sonst niemandem. Die Freunde, die die hiesige Bewegung besser kennen, behaupten, daß das einige Aussichten böte. Lekk. war gestern mit Vertrauensmännern den ganzen Tag beisammen bei fortdauernden Konferenzen im Gewerkschaftshaus, und er kam, so deprimiert er gestern war, so hoffnungsvoll heute an: Die Stimmung sei eine total andere und die Leute seien bereit. Der Arbeiterausschuß, das ist, glaube ich, wenn ich recht verstanden habe, die nächste Erweiterung des Arbeiterrates, tagt in Permanenz, so daß jeden Augenblick Entschlüsse gefaßt werden können und Mittwoch soll nochmals der gesamte Vertrauensmännerkörper zusammentreten und wird evt. neue Beschlüsse fassen. Nach meinen Erfahrungen ist die Stimmung glänzend. Ich war diese Tage in Süddeutschland in Versammlungen, wo die Stimmung hervorragend war, obgleich der Redner Vogtherr123 verdient, an den Beinen aufgehängt zu werden. Er geht jetzt mit Wilson hausieren, wie er früher mit Marx und KK [Karl Kautsky] tat. Von der neuesten Demonstration in Stuttgart werden Sie in der Vossischen gelesen haben.124 Was mir das Wertvollste an der Demonstration zu sein scheint, ist, daß sie ganz spontan entstanden zu sein scheint. Denn Donnerstag war ich noch in Stuttgart, und es war da nichts davon bekannt und auch nichts beabsichtigt. Der Daimlerbetrieb soll vollständig in unsern Händen sein, und nach diesen neuesten Nachrichten scheint es bei Bosch nicht anders zu sein.

Weiter. Wir sollen hier in Berlin in der allernächsten Zeit eine Tageszeitung mit 34.000 Abonnenten bekommen und zwar wir, nicht die USP. Wie die Redakteurfrage gelöst wird, steht noch dahin, man wird versuchen, Thalheimer dafür zu bekommen. Das Stuttgarter Blatt wird gleichfalls ausgebaut. Es erscheint wöchentlich zwei Mal. Mit Bremen schweben noch immer Verhandlungen wegen der übernahme der A.P. [Arbeiter-Politik].125 Unsere Bedingungen sind, wie Sie wissen, Ausschluß von Borchardt.126 Ein Redakteur wird von uns gestellt. Die Preßkommission soll zusammengestellt werden: 3 Bremer, 3 Berliner, 1 Hamburger. Wenn wir das Blatt in die Hand bekommen, wird es gut.

Es sind für die nächste Zeit, weil die Fragen nunmehr aktuell werden, m. E. folgende Punkte zu erörtern: Militärfrage und Frage der Volksbewaffnung; Frage ob Sowjets oder Konstituante;, Frage der Diktatur des Proletariats. Die Bewaffnung der Berliner Arbeiterschaft sei in der letzten [Zeit] erheblich günstiger. Es sind Waffen besorgt worden, etwa 2500. – Gebot der Stunde Nr.l127 ist erschienen. Ich habe es noch nicht zu Gesicht bekommen. Schadewachten ist [Wilhelm Pieck, weil er dort in Steglitz wohnte] und bleibt jetzt hier. Duisburg sind Verhaftungen vorgekommen. Ich fahre Donnerstag hin und will mich dort umsehen.

Leo Jogiches gehörte nicht zu den Amnestierten. Er wurde am 8. November von Paul Levi aus dem Gefängnis geholt, der das später wie folgt geschildert hat:

„[. . .] Ich ging mit einem Freunde zusammen [. . .] so gegen zwei Uhr ins Untersuchungsgefängnis in Moabit, wo wir unseren Freund, den später ermordeten Leo Jogiches noch in Gewahrsam wußten. Man brauchte keine große Legitimation. Etwas Gepolter, die Tür ging auf, der Aufseher frug nach unserem Begehr. ,Die politischen Gefangenen heraus? ,Es sind keine da?‘ ,Doch, Leo Jogiches zum mindesten?‘ ,Einen Augenblick, der Direktor wird gleich kommen?‘ Und er kam; er war ganz klein; er habe nur noch den einen, Leo Jogiches, die andern seien alle heraus; wir möchten doch keinen Lärm machen und die Kriminellen nicht beunruhigen. Wir meinten, wir müßten den Leo Jogiches gleich selber holen; so gingen wir, gefolgt vom Direktor und zwei Aufsehern, wir zwei allein, durch das weite Gefängnis, in die Krankenabteilung, wo jener lag. Sie hätten uns natürlich alle zwei, wie wir da drin waren, mit einsperren können. Damals aber waren die noch königlichen preußischen Beamten brav; sie gaben uns unseren Freund heraus, und vergnügt zogen wir nun zu dritt von dannen [. . .].“128

Im Laufe dieses Tages sah auch ich Leo Jogiches. Er war infolge einer noch nicht überstandenen Grippe so schwach, daß ihm das Gehen schwer fiel. – Nun mußte auch Rosa Luxemburg, die auch nicht amnestiert worden war, kommen. Am Morgen des 9. November, am Tage der deutschen Staatsumwälzung, meldete sich Rosa Luxemburg telephonisch von Breslau aus. Ihr war am 8. November 10 Uhr abends von der Breslauer Gefängnisdirektion mitgeteilt worden, daß sie frei sei. Da sie aber ihre Sachen nicht vollends gepackt hatte und auch so spät am Abend die Familie Schlisch nicht aufsuchen wollte, war sie während der Nacht vom 8ten zum 9ten November noch im Gefängnis geblieben. – Der Zugverkehr zwischen Breslau und Berlin war wegen der Truppentransporte in den ersten Revolutionstagen für Zivilreisende eingestellt, so daß die ungeduldig erwartete und selbst recht ungeduldige Rosa Luxemburg die Heimreise nicht antreten konnte. Sie beteiligte sich an den Breslauer Kundgebungen, die die junge Republik begrüßten.[129]

Leo Jogiches bestimmte, daß ich am 10. November, falls die Bahn dann immer noch nicht zu benutzen sei, Rosa Luxemburg im Auto holen sollte. Da ließ sie mich telephonisch wissen, daß die Züge nunmehr bis Frankfurt an der Oder führen, und daß wir sie von dort holen möchten. Leo Jogiches wollte der Freundin mit mir gemeinsam entgegenfahren. Sie sollte sofort mit ihm in die Versammlung der Arbeiter- und Soldatenräte zum Zirkus Busch kommen. Am 10. November holte mich ein Auto ab, doch statt Leo Jogiches kam der Kunsthistoriker Eduard Fuchs, der mir erklärte, unser Freund sei unabkömmlich. Fuchs wünschte sehr, Rosa Luxemburg sogleich zu sprechen; sie sei über Rußland falsch informiert, meinte er. – Rosa Luxemburg hat ihre kritische Einstellung zur Taktik der Bolschewiki, trotz vieler Bemühungen, auch anderer Genossen, nicht aufgegeben.130 Eduard Fuchs aber kam an jenem Tage nicht zu der ersehnten Unterredung. Denn das Auto, ein offener Wagen, in dem neben der Begleitmannschaft nur zwei Personen Platz hatten, erlitt gleich zu Beginn der Fahrt eine Panne. Fuchs requirierte zwei Mal andere Autos in Militärdepots, die sich aber als noch unbrauchbarer erwiesen, so daß wir gar nicht bis Frankfurt kamen.

Während der Fahrt beobachtete ich das Publikum in Berlin und in den Vorstädten. Es war stumpf und ohne Begeisterung, kaum daß hin und wieder Passanten unserem mit roten Fahnen geschmückten Wagen zuwinkten. – Keiner von den Soldaten der etwa 15köpfigen Begleitmannschaft kannte Rosa Luxemburg. Als wir durch die gemeinsame Fahrt Fühlung miteinander bekommen hatten, fragte man mich, ein wenig verlegen, wer eigentlich Rosa Luxemburg sei, die man holen wolle. – Fünf Stunden waren wir bereits mit unzulänglichen Autos unterwegs und hatten jetzt endlich einen Berliner Vorortbahnhof erreicht. Hier überließen wir Auto und Begleitmannschaft ihrem Schicksal und fuhren mit der Bahn in die Stadt zurück.

Inzwischen war Rosa Luxemburg in Berlin eingetroffen. In einem überfüllten Zuge, eingeengt zwischen Gepäckstücken und Reisenden, hatte sie, auf einem Koffer im Gang sitzend, die Heimreise angetreten. Als unterwegs bekannt gemacht wurde, daß die Fahrt bis Berlin ginge und Rosa Luxemburg in Frankfurt keinen der Freunde sah, blieb sie auf ihrem Koffer sitzen. – Der Zug lief in den Schlesischen Bahnhof ein, und Rosa Luxemburg stand ein Weilchen verwirrt neben ihrem Gepäck, bis sie auf den Gedanken kam, mit meiner Mutter131 zu telephonieren. Die gab ihr den Rat, zu ihr zu kommen, da ich mich sicher melden würde. Das tat ich auch bald darauf. Ich fuhr dann sogleich mit Rosa Luxemburg in die Redaktion des „Berliner Lokal-Anzeiger“, die am 9. November von einigen Revolutionsromantikern mit Beschlag belegt worden war. Man hatte mit dem Scherlschen technischen Personal sofort eine Abendausgabe unter dem Titel „Die Rote Fahne“ herausgebracht. Hinterher wurde noch die Morgenausgabe für den nächsten Tag fertiggestellt, und dann war der Lokal-Anzeiger wieder unter der alten Regie. Vom Scherl-Verlag führten Leo Jogiches, Paul Levi, Karl Liebknecht und Emst Meyer Rosa Luxemburg ins Hotel Excelsior gegenüber dem Anhalter Bahnhof. Es war vereinbart worden, daß man vorläufig nicht nach Hause gehen, sondern im Hotel bleiben solle, um stets schnell miteinander beraten zu können. Die Herausgabe der „Roten Fahne“ im Scherl-Verlag und das schnelle Ende dieser Episode hat Paul Levi treffend und voraussehend in der erwähnten Plauderei des Zwickauer Volksblatt-Almanachs beschrieben:

„Ein [. . .] Freund von uns hatte sich irgendwo auf der Straße zehn Mann aufgelesen und war an deren Spitze – ,ein Leutnant und zehn Mann‘ – auf Heldentaten ausgezogen, hatte den ,Berliner Lokalanzeiger‘ besetzt [. . .]. Das war am Sonntag [. . .]. Diese unsere Eroberung schien uns gesichert durch jene zehn Mann, die erzbewaffnet vor dem Tore standen und keinen durchließen, der nicht wenigstens behauptete, er gehöre zu uns. Am Montag früh kamen wir wieder [. . .]. Wir waren alle versammelt. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, zehn oder zwölf andere Genossen, als plötzlich sich die Tür auftat, der Verlagsdirektor erschien und erklärte, daß künftig keine Zeitung mehr erscheine. Das sei noch schöner, meinten wir. Der Verlagsdirektor ward frech; auch das Personal weigerte sich, zu drucken [. . .]. Es gab ein langes Parlamentieren, das kurz schloß: Als nämlich einer von uns sich entfernen wollte, um sich an den Arbeiter- und Soldatenrat zu wenden, fand er im Haustor Gewehrläufe gegen sich gewendet. Der Verlag Scherl hatte unsere Wache aufgekauft und die erklärte, daß keiner von uns lebend das Haus verlasse, ehe die Firma Scherl zustimme [. . .]. So saßen wir, ein Dutzend Gefangene unserer eigenen Militärmacht, am dritten Tage der Revolution und machten uns Gedanken darüber, wie eine Revolution wohl laufen werde, wo die ,revolutionären Soldaten‘ zwischen dem ersten und dem zweiten Frühstück von einem beliebigen Kapitalisten schnell geramscht wurden [. . .].

Das war nur eine Episode. Aber es ist keine Episode, in der nicht ein Teil des ganzen Geschehnisses beschlossen wäre. Es war fast ein Symbol der Revolution.“132

Rosa Luxemburgs Gepäck stand auf dem Schlesischen Bahnhof. Es sei zwecklos, meinte man, daß ich dorthin wolle, da ich keinen Passierschein hätte. Den aber mußte man in jenen Tagen besitzen, wenn man abends auf die Straße wollte. Ich war fest entschlossen, auch ohne Passierschein mein Glück zu versuchen, und wirklich ließ man mich überall durch, sobald ich sagte, ich müsse Rosa Luxemburgs Koffer holen. – Als ich das Gepäck spät abends ins Hotel brachte, saßen die Freunde in politischen Beratungen noch beieinander. Wenn alle einig waren, pflegte Karl Liebknecht in irgendeinem Punkt eine abweichende Meinung zu haben. Er konnte stundenlang wegen einer Geringfügigkeit diskutieren, um diese durchzusetzen. An diesem Abend war er ruhig und ein wenig gedrückt! Hatte ihn doch Leo Jogiches nur mit Mühe zurückhalten können, mit Haase und Ledebour in die Koalitionsregierung einzutreten.133

Die Spartakus-Führung lehnte, da es sich jetzt um Sein oder Nichtsein handelte, ein Paktieren mit der Bourgeoisie ab. Rosa Luxemburg begründete diesen Standpunkt im Spartakus- Programm:134

„Mit dem Ausgang des Weltkrieges hat die bürgerliche Klassenherrschaft ihr Daseinsrecht verwirkt. Sie ist nicht mehr imstande, die Gesellschaft aus dem furchtbaren wirtschaftlichen Zusammenbruch herauszuführen, den die imperialistische Orgie hinterlassen hat. [. . .] Die sozialistische Revolution ist die erste, die im Interesse der großen Mehrheit und durch die große Mehrheit der Arbeitenden allein zum Siege gelangen kann. [. . .] die wirtschaftliche Umwälzung kann sich nur als ein von der proletarischen Massenaktion getragener Prozeß vollziehen. Die nackten Dekrete oberster Revolutionsbehörden über die Sozialisierung sind allein ein leeres Wort. [. . .] Nicht wo der Lohnsklave neben dem Kapitalisten, der Landproletarier neben dem Junker in verlogener Gleichheit sitzen, um über ihre Lebensfragen parlamentarisch zu debattieren: dort, wo die millionenköpfige Proletariermasse die ganze Staatsgewalt mit ihrer schwieligen Faust ergreift, um sie wie der Gott Thor seinen Hammer den herrschenden Klassen aufs Haupt zu schmettern: dort allein ist die Demokratie, die kein Volksbetrug ist. [. . .] In diesem letzten Klassenkampf der Weltgeschichte um die höchsten Ziele der Menschheit gilt dem Feinde das Wort: Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust.“ –

In den ersten Revolutionstagen lebte Rosa Luxemburg in einer ständigen Hetzjagd. Es kamen Besucher von nah und fern und aus allen Gesellschaftskreisen, viele, die bei den Spartakisten die Macht wähnten und Vorteile für sich witterten. Es fanden Beratungen über die politischen Tagesfragen statt. Versammlungen wurden abgehalten, und nicht zuletzt tobte der Kampf um den Besitz des Scherlverlages, den man käuflich erwerben wollte. Aber alle Versuche, die „Rote Fahne“ dort weiterzudrucken, scheiterten. – „Ach,“ sagte Rosa Luxemburg nach den letzten ergebnislosen Bemühungen: „Die ‚Rote Fahne‘ wird auf meinem Grabe wehen!“ Man verhandelte schließlich erfolgreich mit dem „Kleinen Journal“ in der Königgrätzer Straße. Dort wurde am 18. November die „Rote Fahne“ unter der Schriftleitung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg begründet. Damit begann Rosa Luxemburgs Tätigkeit als Chefredakteur, während Karl Liebknecht sich hauptsächlich der Agitation unter den Massen widmete. Er gönnte sich kaum einige Stunden Schlaf, sprach täglich in drei bis vier Versammlungen, in Betrieben, auf öffentlichen Plätzen, und war überall, wo immer er nötig war. – Die meisten Leitartikel der „Roten Fahne“ aus dieser Zeit stammen aus Rosa Luxemburgs Feder. Zwar schrieb Paul Levi wertvolle Beiträge zu den Tagesfragen, und nach Möglichkeit entlastete er Rosa Luxemburg, denn er gehörte zu ihren engsten Mitarbeitern. Aber weder er noch die anderen Redaktionskräfte waren genügend mit dem Zeitungswesen vertraut, so daß Rosa Luxemburg fast niemals vor 11 Uhr abends, häufig erst nach Mitternacht, die nötigen Arbeiten beendet hatte. Sie bestimmte die Reihenfolge der Artikel, Notizen und Nachrichten, sie nahm eine letzte Prüfung des Satzes vor, ehe die Zeitung in die Druckerei ging. Kümmerte sie sich um diese Dinge nicht, dann kam irgendetwas verkehrt heraus, und sie ärgerte sich am nächsten Tage, daß eine Zeitung, die unter ihrem Namen erschien, Fehler aufwies.135

Eine allgemeine Hetze gegen die „Rote Fahne“ und die Spartakisten setzte ein. Das Excelsior Hotel entledigte sich seiner spartakistischen Gäste, um zu zeigen, daß es nichts mit ihnen zu schaffen habe. Jetzt zog man von einem Hotel ins andere und wohnte getrennt voneinander. Sehr bald mußten diese führenden Revolutionäre unter falschen Namen leben, um sich und die Sache nicht zu gefährden. Die Hotels um den Anhalter Bahnhof kannten bereits die aufnahmesuchenden Spartakisten und verweigerten ihnen die Unterkunft. – Des Herumziehens müde, begab sich Rosa Luxemburg etwa Mitte Dezember in ihre Wohnung. Ich ging mit ihr. Nachts zwischen 12 und 1 Uhr holte ich sie nach vorheriger telephonischer Verständigung von der Bahn ab. Wie ein Kind streckte sie sich nach dem Zurruhelegen zufrieden im Bett aus und sagte: „Ich werde sehr gut schlafen, ich habe alles geschafft, was ich mir vorgenommen hatte. Ich bin so zufrieden.“ –

In den letzten Dezembertagen wurde aus dem „Spartakusbund“ die „Kommunistische Partei Deutschlands“. Auf ihrem Gründungsparteitag trat die putschistische Strömung in der neuen Partei erschreckend in die Erscheinung. Vergeblich versuchten Karl Liebknecht, Paul Levi und nicht zuletzt Rosa Luxemburg dagegen anzukämpfen:

„[. . .] die Machteroberung“ führte sie in ihrer Rede aus, „soll nicht eine einmalige, sondern eine fortschreitende sein, indem wir uns hineinpressen in den bürgerlichen Staat, bis wir alle Positionen besitzen und sie mit Zähnen und Nägeln verteidigen. Und der ökonomische Kampf, auch er soll nach meiner Auffassung und der Auffassung meiner nächsten Parteifreunde durch die Arbeiterräte geführt werden. Auch die Leitung der ökonomischen Auseinandersetzung [. . .] in immer größere Bahnen soll in den Händen der Arbeiterräte liegen. Die Arbeiterräte sollen alle Macht im Staate haben. Nach dieser Richtung hin haben wir in der nächsten Zeit zu arbeiten, und daraus ergibt sich auch, wenn wir uns diese Aufgabe stellen, daß wir mit einer kolossalen Verschärfung des Kampfes in der nächsten Zeit zu rechnen haben. Denn hier gilt es, Schritt um Schritt, Brust an Brust zu kämpfen in jedem Staat, in jeder Stadt, in jedem Dorf, in jeder Gemeinde, um alle Machtmittel des Staates, die der Bourgeoisie Stück um Stück entrissen werden müssen, den Arbeiter- und Soldatenräten zu übertragen. Dazu müssen aber auch unsere Parteigenossen, dazu müssen die Proletarier erst geschult werden. Auch dort, wo Arbeiter- und Soldatenräte bestehen, fehlt noch das Bewußtsein dafür, wozu die Arbeiter- und Soldatenräte berufen sind. Wir müssen die Massen erst darin schulen, daß der Arbeiter- und Soldatenrat der Hebel der Staatsmaschinerie nach allen Richtungen hin sein soll, daß er jede Gewalt übernehmen muß und sie alle in dasselbe Fahrwasser der sozialistischen Umwälzung leiten muß. Davon sind auch noch diejenigen Arbeitermassen, die schon in den Arbeiter- und Soldatenräten organisiert sind, meilenweit entfernt, ausgenommen natürlich einzelne kleinere Minderheiten von Proletariern, die sich ihrer Aufgabe klar bewußt sind. Aber das ist nicht ein Mangel, sondern das ist gerade das normale. Die Masse muß, indem sie Macht ausübt, lernen, Macht auszuüben. Es gibt kein anderes Mittel, ihr das beizubringen. [. . .] Nur auf diese Weise können wir den Boden so unterminieren, daß er reif wird zu dem Umsturz, den dann unser Werk zu krönen hat. Und deshalb, Parteigenossen, war es auch nicht ohne klare Berechnung und ohne klares Bewußtsein, wenn wir Ihnen gestern ausführten, wenn ich speziell Ihnen sagte: Machen Sie sich den Kampf nicht weiter so bequem! [. . .] die Geschichte macht es uns nicht so bequem, wie es in den bürgerlichen Revolutionen war, daß es genügte, im Zentrum die offizielle Gewalt zu stürzen und durch ein paar oder ein paar Dutzend neue Männer zu ersetzen. Wir müssen von unten auf arbeiten, und das entspricht gerade dem Massencharakter unserer Revolution bei den Zielen, die auf den Grund und Boden der gesellschaftlichen Verfassung gehen, das entspricht dem Charakter der heutigen proletarischen Revolution, daß wir die Eroberung der politischen Macht nicht von oben, sondern von unten machen müssen. Der 9. November war der Versuch, an der öffentlichen Gewalt, an der Klassenherrschaft zu rütteln. – ein schwächlicher, halber, unbewußter, chaotischer Versuch. Was jetzt zu machen ist, ist, mit vollem Bewußtsein die gesamte Kraft des Proletariats auf die Grundfesten der kapitalistischen Gesellschaft zu richten. Unten, wo der einzelne Unternehmer seinen Lohnsklaven gegenüber steht, unten, wo sämtliche ausführenden Organe der politischen Klassenherrschaft gegenüber den Objekten dieser Herrschaft, den Massen, stehen, dort müssen wir Schritt um Schritt den Herrschenden ihre Gewaltmittel entreißen und in unsere Hände bringen. Wenn ich es so schildere, nimmt sich der Prozeß vielleicht etwas langwieriger aus, als man geneigt wäre, ihn sich im ersten Moment vorzustellen. Ich glaube, es ist gesund für uns, wenn wir uns mit voller Klarheit alle Schwierigkeiten und Komplikationen dieser Revolution vor Augen führen. Denn ich hoffe, wie auf mich, so wirkt auch auf keinen von Euch die Schilderung der großen Schwierigkeiten, der sich auftürmenden Aufgaben dahin, daß ihr etwa in Eurem Eifer oder Eurer Energie erlahmt; [. . .] je größer die Aufgabe, um so mehr werden wir alle Kräfte zusammenfassen; und wir vergessen nicht: Die Revolution versteht ihre Werke mit ungeheurer Geschwindigkeit zu vollziehen. Ich übernehme es nicht, zu prophezeien, wie viel Zeit dieser Prozeß braucht. Wer rechnet von uns, wen kümmert das, wenn nur unser Leben dazu ausreicht, es dahin zu bringen! Es kommt nur darauf an, daß wir klar und genau wissen, was zu tun ist; und was zu tun ist, hoffe ich mit meinen schwachen Kräften Ihnen einigermaßen in den Hauptzügen dargelegt zu haben.“136

Die warnende Stimme Rosa Luxemburgs erhob sich vergeblich. – Bei der ersten Besprechung über die zu verteilenden Posten in der neuen Partei hatte Rosa Luxemburg mich zu ihrer Sekretärin erbeten. Leider brachte ich ihr jetzt nicht immer das nötige Verständnis entgegen. Tausend Kleinigkeiten zerrten an mir herum. Rosa Luxemburg war weit über ihre Kräfte in Anspruch genommen. Sie war gewohnt, alles mit der Hand zu schreiben, so daß ich kaum zum Arbeiten mit ihr kam. Für eine gegenseitige Verständigung blieb keine Zeit übrig. Anstatt geduldig abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden, arbeitete ich mit Leo Jogiches. „Ich freue mich über deinen guten Geschmack,“ sagte Rosa Luxemburg, „aber daß Leo verträglicher als ich sein soll, ist mir unverständlich. Er ist der schwierigste Charakter, den ich kenne, mit mir kann man doch auskommen.“137 –

Eines Abends wartete ich in Südende lange auf Rosa Luxemburgs Anruf, bis Paul Levi mir mitteilte, ich möchte in die Redaktion kommen, es sei nicht gut, wenn Rosa Luxemburg nach Hause führe. Man wisse bei der herrschenden Pogromstimmung nicht, ob sie in ihrer Wohnung sicher sei. Mit großer Verspätung kam ich zum Potsdamer Platz und lief zur Redaktion, vor der Rosa Luxemburg bereits mit Paul Levi wartete. „Aber,“ sagte Rosa Luxemburg, „wie kannst du nur so laufen!“ Paul Levi begleitete uns zu einer Droschke, und wir fuhren in meine Wohnung. Rosa Luxemburg lehnte sich an mich, noch einmal sagte sie, daß ich langsamer hätte gehen sollen. – „Ich habe solchen Hunger,“ fügte sie hinzu, „gib mir etwas von dem Mitgebrachten. Leo würde zwar sagen, man müsse sich beherrschen, aber ich muß etwas essen.“138

Am 29. Dezember telephonierte Rosa Luxemburg mit mir, sie habe ein paar freie Stunden, ich möchte sie besuchen. Ich erwiderte, daß ich nicht kommen könnte. Dann käme sie zu mir. – Es gab aber keine freien Stunden für sie und später erzählte sie mir, was alles auf sie eingestürmt sei. – An einem der nächsten Tage ging ich auf die Redaktion der „Roten Fahne“. „Kommst du endlich mal wieder auf ein Plauderstündchen! Wie konntest du so lange fortbleiben; siehst du nicht, wie ich lebe?“ – Aber da rief schon Karl Liebknecht aus dem Nebenraum: „Bitte, Rosa, kommen Sie sofort in die Sitzung. Wir warten doch auf Sie.“139

Die von der Konterrevolution in der Berliner Bevölkerung erzeugte Pogromstimmung wurde von Tag zu Tag bedrohlicher. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren von dem Arzt Dr. Bernstein,140 dem bekannten Anarchisten und Gebärstreikpropagandisten, aufgenommen worden. Als ich sie dort aufsuchen wollte, waren beide bereits wieder zu einer Arbeiterfamilie nach Neukölln übergesiedelt. Die Angehörigen des Arztes hatten befürchtet, daß durch das Geschwätz ihres Dienstmädchens die Sicherheit ihrer verfolgten und gehetzten Gäste gefährdet wäre. – Im Begriff, mich auf den Weg nach Neukölln zu machen, läutete das Telephon. Aufgeregt meldete eine befreundete Genossin, daß Wolfgang Fernbach erschossen worden sei. Ich ließ mir die Nachricht wiederholen, sie war mir unfaßbar. Am vorhergehenden Tage hatte ich unsern Freund auf der Redaktion der „Roten Fahne“ gesprochen. Er war voller Zuversicht und hatte Leo Jogiches gebeten, irgendetwas im Dienste der Revolution tun zu dürfen. „Wollen Sie Eugen Levine141 in der Redaktion des ‚Vorwärts‘ vertreten?“ fragte Leo Jogiches, etwas zögernd, wegen der damit verbundenen Gefahr. „Es ist kein Redakteur dort.“ – Der „Vorwärts“ war zum Entsetzen Rosa Luxemburgs von Spartakisten besetzt worden. – „Natürlich“, lautete die Antwort. – Wolfgang Fembach ging dem Tod nicht ahnungslos entgegen. Mit fester Hand hatte er auf einen Briefumschlag, nach Angabe seiner Wohnadresse, geschrieben: „[. . .] Die einliegende Postkarte bitte ich den Finder, falls mir irgendetwas zustößt und ich hilflos schwer verwundet oder tot aufgefunden werde, sofort abzusenden und möglichst einen kurzen Vermerk über die näheren Umstände beizufügen. Jedenfalls muß der Absender noch den Ort, wo ich aufgefunden werde, vermerken . . .“. Er ward das Opfer der Vorwärtsbesetzung. Seine Frau selber fand diese Zeilen bei der Leiche ihres Mannes. – Auf dem Wege nach Neukölln hörte ich aufgeregte Unterhaltungen: „Man müßte sie in Stücke schneiden und den Raubtieren zum Fraß geben.“ In solchen bestialischen Drohungen äußerte sich die maßlose Hetze gegen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. – Als ich mein Ziel auf Umwegen erreicht hatte und sicher war, keine Spitzel hinter mir zu haben, stieg ich von einem kleinen Hof aus 4 Treppen zu dem Versteck der beiden hinauf. Ich hatte das Gefühl, nachdem ich mit Rosa Luxemburg und ihrer neuen Wirtin gesprochen, daß ich dort bleiben müßte, um rechtzeitig warnen und helfen zu können. „Aber wo willst du schlafen?“ fragte mich Rosa Luxemburg, als ich diesen Wunsch äußerte. „In dem Bett hier schläft die Genossin mit ihrem Kind, ich selbst liege auf dem Sofa.“ – Es war eine schmale, harte Lagerstätte. „Ach,“ warf die Genossin ein, „Sie könnten schon bleiben, wenn nur nicht gar so viele Menschen herkämen. Ich habe Angst, daß Karl und Rosa bei uns entdeckt werden.“ Ich überlegte. In dem zweiten Zimmer debattierte Karl Liebknecht mit einer wirklich recht beträchtlichen Zahl von Genossen. Es war ein wirres Durcheinander in dem kleinen Raum. „Karl,“ bat ich, „lassen Sie Rosa allein wohnen. Sie dürfen nicht beide zusammen bleiben, es genügt, wenn einer entdeckt wird.“ „Das ist ganz ausgeschlossen,“ war die bestimmte Antwort. „Wir müssen zusammenbleiben, um stets sofort beraten zu können.“ Alle Einwendungen hiergegen nützten nichts. „Bitte,“ sagte ich. „kommen Sie einen Augenblick zu Rosa hinüber.“ Hier wiederholte ich meine Bitte auf Trennung und fügte die Nachricht vom Tode Wolfgang Fernbachs hinzu. „Das ist nicht möglich,“ rief Karl Liebknecht aus, „Sie müssen sich irren.“ „Nein Karl, ich irre mich nicht. Ich habe die Angehörigen gesprochen, es ist so.“ Rosa Luxemburg weinte leise. „Ich gebe dir einen Brief, Mathilde, du wirst ihn morgen Frau Fernbach bringen.“ „Auch ich schreibe,“ sagte Karl Liebknecht und gab in einigen Zeilen seinem Mitgefühl Ausdruck. Rosa Luxemburgs Brief lautete etwa: Liebe Genossin Fernbach, ich drücke Ihnen in Ihrem Schmerz die Hand. Ich habe schon so viele meiner Freunde rechts und links an meiner Seite fallen sehen. Das ist das Schicksal des revolutionären Kämpfers. Ich selbst habe nur den einen Wunsch, auch meinen Tod im Kampf um unsere Sache zu finden. Ich bin überzeugt, daß Sie tapfer sein werden. –

Nachdem Karl Liebknecht zu den Genossen zurückgegangen war, sagte mir Rosa Luxemburg, daß ich sie am nächsten Abend wohl nicht mehr in dieser Wohnung antreffen würde; die Wirtin hätte Angst, sie bei sich zu behalten. – Fast jeder hatte Angst, und es war schwer, ein Unterkommen für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu finden. Ich sprach mit der Wirtin, sie sagte, sie könne die Verantwortung nicht länger übernehmen. Es kämen unausgesetzt Leute; ich solle selbst sagen, ob das nicht auffiele in einem Hinterhaus. Sonst besuche sie selten jemand. – Man konnte der Frau nur recht geben, und ich versicherte ihr, daß man sich um eine andere Unterkunft bemühe.142 Während dieses Gesprächs war wieder ein Genosse gekommen. Er überbrachte die Nachricht, daß Leo Jogiches verhaftet worden sei. Rosa Luxemburg erschrak und ich versprach, nach ihm Umschau zu halten. Beim Abschied umarmte sie mich und küßte mich herzlich.

Am andern Morgen ging ich, bevor ich mich um Leo Jogiches kümmerte und noch ehe ich die Briefe zu Frau Fernbach trug, vor die Redaktion der „Roten Fahne“. Dort wurde ich auf Geheiß des Hausverwalters von Regierungssoldatcn, die das Gebäude besetzt hielten, zur Garde-Kavallerie-(Schützen)-Division geführt. Es genügte, daß der Verwalter den Befehl gegeben hatte: „Verhaften Sie, die hat auch in der Redaktion gearbeitet.“ – Es dauerte geraume Zeit, bis man mich verhörte. Viele Genossen, auch Unbeteiligte, füllten den Raum. Ich konnte die Briefe Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts unbemerkt in ein Butterbrot schieben, das ich verzehren wollte; aber man gestattete mir, die Toilette aufzusuchen, und während die mich begleitenden Soldaten mit aufgepflanztem Gewehr vor der Tür warteten, zerriß ich die Briefe und ließ sie durch Wasser in die Tiefe spülen. – Wären die Briefe bei mir gefunden worden, dann hätte man gewußt, daß ich mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, auf deren Ergreifung hohe Prämien ausgesetzt waren, Verbindung hatte.

Bei dem vorgenommenen Verhör wurde ich körperlich untersucht. Man fand einige Ausgabezettel, hauptsächlich Beträge für Autofahrten, und man kombinierte, ich müßte diese Fahrten für die Kommunistische Partei gemacht haben. Obgleich dies eine Verhaftung nicht rechtfertigte, wurde ich ins Reichstagsgebäude befördert, wo das Regiment „Reichstag“ hauste. Hier sah es wüst aus. Fast alle Klubsessel und Teppiche waren mit dem Messer mutwillig zerschlitzt, Spiegel und Fensterscheiben demoliert.

Die Mannschaften umkreisten mich gleich wilden Tieren. Sie waren in einer erschreckenden Pogromstimmung. In das kleine Zimmer, in das ich schließlich gebracht worden war, kamen fortwährend Soldaten; sie starrten mich neugierig an. Denn bei meinem Eintreffen hatte sich die Nachricht verbreitet, ich sei Rosa Luxemburg, die man verhaftet hätte. Wenn ich hier herauskomme, dachte ich, werde ich Rosa Luxemburg vor der ihr drohenden Gefahr zu schützen wissen. Ich kam zwar heraus, aber in Begleitung einiger verwilderter Soldaten, die mit mir in meine Wohnung fuhren. Auf mich wartend, saß in meinem Arbeitszimmer Paul Levi. Er wollte Briefe von mir schreiben lassen und wurde nun gemeinsam mit mir ins Moabiter Gefängnis gebracht. Wahrscheinlich hat ihm diese Verhaftung damals das Leben gerettet; er hat es später öfters behauptet. Denn hätte man ihn bei Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht angetroffen, so wäre er gleich jenen bestialisch ermordet worden. –

Da ich keine „strafbare Handlung“ begangen hatte, war mein Rechtsbeistand sicher, daß man mich bald wieder entlassen würde. Mir war es gar nicht unlieb, das Gefängnis an mir selber zu erproben, weil ich jetzt beurteilen konnte, ob ich meine Gefangenen stets richtig versorgt hatte. Einige Kleinigkeiten fand ich an meiner Fürsorge auszusetzen, und da ich mit Rosa Luxemburgs Verhaftung rechnen zu müssen glaubte, wollte ich in Zukunft manches besser machen. Nach einigen Tagen besuchte mich ein junger Anwalt in Vertretung Huge [sic] Haases. Auf meine Frage, was draußen los sein [sic], antwortete er: „Nichts Neues. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind ermordet. Nun ist wieder Ruhe eingetreten.“ Ich starrte den überbringer dieser Nachricht an, konnte die Tränen nicht zurückhalten und schluchzte unaufhörlich.143

„Wenn man verhaftet wird, so sind daran fast stets Unvorsichtigkeiten schuld. Hüten Sie sich vor solchen, sonst werden Sie gleich einigen anderen Genossen ständig im Loch sitzen, was kein Ruhm ist.“ Diesen guten Rat hatte mir Rosa Luxemburg zu Anfang des Krieges gegeben. Und nun war ich doch nicht vorsichtig genug gewesen. Ich hielt es für sicher, daß ich Rosa Luxemburg von Karl Liebknecht schließlich getrennt haben würde, wenn ich nicht ins Gefängnis gekommen wäre, und ich litt sehr unter meiner Schuld. Nach Verlauf einer Woche wurde ich und auch Paul Levi aus der Haft entlassen.144 Leo Jogiches, der ebenfalls wieder auf freiem Fuß war, sagte kein Wort, als wir uns wiedersahen.

Einen Tag nach meiner Haftentlassung, am 25. Januar, fand auf dem Friedhof in Friedrichsfelde die Beisetzung Karl Liebknechts und anderer 29 Opfer aus den Januar-Kämpfen statt.145 „Karl und Rosa sollen nun auch im Tode beieinander sein,“ sagte Leo Jogiches. „Wir werden heute einen leeren Sarg versenken, um symbolisch den Platz anzuzeigen, wo Rosas sterbliche Reste der Erde übergeben werden. Ich hoffe, daß man ihren kleinen Leichnam finden wird.“146

Da ich für Leo Jogiches Leben fürchtete, bat ich ihn, nicht in seiner bisherigen Wohnung zu bleiben. Sie war der Polizei bekannt, nur allzu bequem konnte sie ihn dort verhaften.

„Sie haben ganz recht,“ erwiderte er, „aber ich kann meine Wirtin jetzt nicht verlassen. Später wird sich’s machen lassen, nur im Augenblick nicht. Die Frau verlangt eine Art Dankbarkeit, daß sie sich in meiner Gefängniszeit um mich gekümmert hat, sie würde kein Verständnis dafür haben, wenn ich jetzt von ihr ginge.“ – Abend für Abend verließen wir gemeinsam unsere Arbeitsstätte in der Wilhelmstraße und gingen zum Potsdamer Vorortbahnhof, von dem aus wir so oft zu Rosa Luxemburg gefahren waren. Leo Jogiches benutzte den Stadtbahnring nach Neukölln, während ich eine Straßenbahn nahm. Mitunter sah ich ihn beim Besteigen der Bahn plötzlich wieder auftauchen und mir zurufen: „Leben Sie wohl! Ich wollte nur sehen, ob Sie mitkommen.“ – Unsere Gespräche drehten sich immer und immer wieder um Rosa Luxemburg. „Mathilde,“ sagte er, “ ich [sic] habe meine Mutter zärtlich geliebt, und ich habe lange Zeit gelitten, nachdem sie mir frühzeitig durch den Tod entrissen war. Aber ich fand mich mit meinem Schicksal schließlich ab. über Rosas Verlust werde ich nicht hinweg kommen.“147 –

Im März erhielten wir aus zuverlässiger Quelle die Nachricht, daß unser Büro von Regierungstruppen besetzt werden sollte. Wir verließen daher mit dem Material, gedrucktem und geschriebenem, die Räume und wanderten in illegale Wohnungen. Beim Umzug war Leo Jogiches allgegenwärtig, er sorgte dafür, daß nichts liegen blieb, was die Gegenrevolution mit unserer Arbeit hätte vertraut machen können.

In den ersten Tagen des März wurde von der oppositionellen Arbeiterschaft der Generalstreik für Berlin proklamiert. „Die Kapitalisten wanken, die Regierung ist am Stürzen. Arbeiter, Proletarier, zaudert nicht!“, hieß es in einem Aufruf der Kommunistischen Partei. – Die Antwort der Reaktion: Der Streik wurde blutig niedergeschlagen. Wir hatten viele Tote zu beklagen, die teils gemeuchelt, teils in den Straßenkämpfen gefallen waren.

Während dieser Unruhen fand ein Parteitag der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei“ in Berlin statt. Auf dieser Tagung trennte sich Clara Zetkin von der USP und schloß sich der Kommunistischen Partei an. Leo Jogiches erwartete sie mit Ungeduld, um ihr Arbeitsgebiet mit ihr zu beraten.148 – „Bitte, Clara, versuchen Sie zu erreichen,“ sagte ich gesprächsweise, während ich sie im Tagungslokal zu Leo Jogiches führte, „daß Leo bei den jetzigen Unruhen nicht zu Hause schläft, er hat kein Recht dazu, sich dieser Gefahr auszusetzen.“ – Einen jungen polnischen Genossen, von dem ich wußte, daß er Leo Jogiches ergeben war, bat ich, ihm ein Unterkommen zu verschaffen. „Wird er den Rat befolgen?“ war der berechtigte Einwurf. „Er will allerdings durchaus zu Hause bleiben,“ bestätigte ich. „Versuchen wir es. Ich habe ein Zimmer bei meinem Bruder im Tiergartenviertel, dort wäre Leo sicher und gut aufgehoben. Bitte, sagen Sie ihm, daß ich ihn heute Abend um 9 Uhr vor dem Haus erwarte.“ Der junge Pole wartete lange, bei schlechtem Wetter, an jenem Abend. Leo Jogiches kam nicht. Am nächsten Tage, nachdem sich unser Genosse mit Leo Jogiches bereits verständigt hatte, sagte dieser lachend zu mir: „Sie dürfen wirklich niemanden in den strömenden Regen schicken, wenn ich nicht zugesagt habe, zu kommen.“

Einige Stunden später, als ich mit Clara Zetkin in der Südender Wohnung war, setzte sich Leo Jogiches telephonisch mit uns in Verbindung. Er möchte zu uns hinausfahren, und ob wir für ihn zu essen hätten. Wir waren überrascht, daß er sich gegen seine Gewohnheit zu einer Mahlzeit ansagte, hatten reichlich vorgesorgt und freuten uns darauf, den Abend mit ihm zu verbringen. Ich holte den Freund von der Bahn ab, damit er das erste Wiederbetreten der Wohnung weniger schmerzlich empfände. Als wir bei Tisch saßen, sagte Leo Jogiches: „Es ist schön hier. Mir ist, als ob Rosa jeden Augenblick kommen müßte. Wir wollen die Wohnung, falls sie noch nicht vermietet ist, behalten, Mathilde. Machen Sie gleich morgen einen neuen Kontrakt.“ Eine größere Freude konnte mir Leo Jogiches nicht bereiten, und auch Clara Zetkin war recht zufrieden. „Jetzt bitte ich Sie nur noch um eines, Leo, auch wenn Sie meine Beharrlichkeit nicht schätzen. Versprechen Sie mir, nicht mehr zu Hause zu wohnen. Am besten wäre es, wenn Sie für einige Zeit verreisten.“ „Das ist ausgeschlossen, es ist keine Zeit zum Verreisen.“ „Sie werden Zeit haben, sobald Sie im Loch sind, und noch viel mehr Zeit, wenn man Sie ermordet haben wird.“ Leo Jogiches antwortete nicht, und man sprach von anderen Dingen. Er verließ uns zu später Stunde. Als ich ihn zum Bahnhof brachte, bat er mich, wegen des Wohnens nicht mehr in ihn zu dringen. Er habe in seinem Leben nur immer nach seinem Kopf gehandelt und wolle davon nicht abgehen.

Am nächsten Tage – es war ein Sonntag – blieben Clara Zetkin und ich allein miteinander. Am folgenden Morgen reiste sie nach Stuttgart zurück und ich begleitete sie zur Bahn. Eigentlich wollte ich auf dem Heimweg in das Moabiter Kriminalgebäude gehen, um mich dort bei den Rechtsanwälten Theodor Liebknecht149 und Kurt Rosenfeld150 nach einer gefangenen Genossin zu erkundigen. Ich war aber sehr müde, so daß ich es auf den nächsten Tag verschob. Dienstag, gleich früh morgens, ging ich nach Moabit ins Kriminalgebäude, um eine Sprecherlaubnis für die in Untersuchungshaft befindliche Genossin zu erwirken. Auf einem der langen Wandelgänge des Gerichtsgebäudes traf ich Kurt Rosenfeld. „Bitte, kommen Sie mit mir,“ sprach er mich an. „ich habe Ihnen etwas zu sagen. Leider nichts Gutes,“ fügte er hinzu, nachdem wir ein für die Anwälte bestimmtes Zimmer betreten hatten. „Dann ist Leo verhaftet!“ „Es ist schlimmer!“ „Haben sie ihn auch gemordet?“ „Es ist noch nicht festgestellt. Lesen Sie die Notiz hier in der heutigen ‚Vossischen Zeitung‘.“ „Danach unterliegt es doch keinem Zweifel!“ „Zeitungsnotizen stimmen nicht immer, ich habe noch keine wirklichen Anhaltspunkte.“

Kurt Rosenfeld verließ mich, kurz darauf trat Theodor Liebknecht ins Zimmer. „Was ist los. Mathilde?“ „Leo ist ermordet.“ „Aber ich weiß doch nichts davon.“ „Wollen sie mich ins Leichenschauhaus begleiten, Genosse Liebknecht? Ich möchte Gewißheit haben.“ Wir fuhren nach der Hannoverschen Straße ins Leichenschauhaus. „Soll ich ohne Sie hineingehen?“ fragte Theodor Liebknecht. „Frau, bleiben Sie draußen,“ mischte sich der Türhüter in unser Gespräch, „den Anblick werden Sie nie wieder los.“ Theodor Liebknecht ging allein und kam bald zurück. Er hatte die Leiche von Leo Jogiches gefunden. „Abscheulich, so viele Tote!“ Ein Augenzeuge, der auch am 10. März in Neukölln verhaftet worden war, hat die Vorgänge bei der Ermordung von Leo Jogiches in einem Zeitungsartikel geschildert. Ich lasse den Bericht hier folgen:

Vor meinem Hause stand ein riesiges Lastauto mit bewaffneten Soldaten, das von einem Panzerauto begleitet war. Einige Parteigenossen, unter ihnen auch Leo Jogiches. standen schon auf dem Lastwagen [. . .]. Unser Weg führte direkt ins Hauptquartier der Regierungstruppen, ins Kriminalgebäude Berlin. Dort abgeliefert, mußten wir zunächst stundenlang auf dem Flurgang warten. Leo Jogiches meinte, der Spaß würde nur ein paar Tage dauern. Man konnte auch beinahe seiner Meinung sein, denn plötzlich wurden wir nach dem Untersuchungsgefängnis, das im selben Gebäude sich befindet, abgeführt. Leider wollte uns der Direktor dort nicht haben. Er erklärte energisch, bei ihm sei alles voll besetzt. So zog der uns begleitende Wachtmeister mit der Bemerkung: ,Was macht man mit der Bande, am besten ist’s, über den Haufen schießen,‘ wieder mit uns ab.

Jetzt begann das große Rätselraten, was mit uns zu machen sei. Man führte uns an den ersten Platz zurück, wo wir abermals zu warten hatten. Inzwischen waren auch die höheren Offiziere erschienen. Sie erkundigten sich angelegentlichst nach uns und beschäftigten sich insbesondere mit Leo Jogiches. Es kam auch der berüchtigte Tamschick151 hinzu, der Leo Jogiches‘ Paß verlangte. – Den werde er zu gegebener Zeit dem Untersuchungsrichter vorlegen. – Tamschick drohte mit dem Revolver und erpreßte die Herausgabe des Passes.

Ein furchtbares Martyrium begann jetzt für Leo Jogiches. Man trennte ihn von uns und er mußte sich zunächst an ein Fenster stellen. Später rief man ihn ins Zimmer der Offiziere, wo er unbarmherzig geschlagen wurde; es war draußen zu hören, wie man ihn marterte und dann sahen wir. wie er hinausgestoßen wurde.

Wir andern wurden in eine Wachstube geführt und erneut nach Waffen durchsucht. Man erklärte uns, jeder Fluchtversuch koste das Leben. Ein Fluchtversuch aber war bei der scharfen Kontrolle der Eingänge sowieso aussichtslos.

In der Wachtstube hörten wir einen Revolverschuß, der vom Flur des Kriminalgebäudes herkam. Für uns unterlag es keinem Zweifel, daß Leo Jogiches das Opfer des wildgemachten Soldaten Tamschick geworden war. Auf Leo Jogiches war es abgesehen, vermutete man doch in ihm den Rächer Rosa Luxemburgs. Er war es gewesen, der das Material zur Aufklärung der Morde der Öffentlichkeit bekanntgegeben hatte. Man fürchtete ihn, es lag bewußter Mord an ihm vor. – Trotzdem wurde nach der Ermordung von Leo Jogiches in der Öffentlichkeit die falsche Behauptung aufgestellt, er sei ‚auf der Flucht‘ erschossen worden.“152 –

Ich übernahm die Vorbereitungen für die Beisetzung Leo Jogiches‘, denn alle sonst hierfür in Betracht kommenden Genossen mußten in strengster Illegalität leben. – Die Straßenbahnen waren nicht in Betrieb, aber Autos und Droschken fuhren. Mit Theodor Liebknechts Beistand hatte ich in wenigen Tagen alles Nötige vorbereitet.

Karl Liebknecht war auf der Totenbahre von Käthe Kollwitz153 gezeichnet worden. Ich hatte den Wunsch, daß ihre Künstlerhand auch Leo Jogiches Totenantlitz der Nachwelt übermittele. Um ihre Bereitwilligkeit zu erbitten, wollte ich mich vergewissern, ob sie zu Hause sei. Aber nur in dringenden Fällen wurde eine Telephonverbindung hergestellt. Da der Mann von Käthe Kollwitz ein bekannter Arzt war, wurde mir für eine ärztliche Anfrage das Gespräch gestattet. Stattdessen brachte ich mein Anliegen vor, woraufhin das Amt die Verbindung abbrach. Jetzt wußte ich, daß ich Käthe Kollwitz antreffen würde, und ich fuhr sogleich zu ihr. Sie empfing mich freundlich und erklärte sich bereit, die Zeichnung auszuführen. Gesprächsweise bemerkte sie, daß sie der Kommunistischen Partei zwar nicht angehöre, aber das wärmste Mitgefühl für ihre auf so furchtbare Art ums Leben gekommenen Führer habe. Auch die Antwort möchte ich wiedergeben, die Käthe Kollwitz mir gab, als ich sie später bat, ihr Honorar zu bestimmen: „Ach, solche Dienste möchte ich mir nicht bezahlen lassen.“ „Darf ich dann bitten, daß wir die Auslagen für den Wagen zurückerstatten?“ „Ich bin von meiner Wohnung ins Leichenschauhaus zu Fuß gegangen, ich mochte zu dieser Arbeit kein Auto nehmen. Hoffentlich ist mir das Bild gelungen,“ und sie zeigte zwei im Ausdruck wundervoll festgchaltene Kreidezeichnungen. –

Die Trauerfeier für Leo Jogiches auf dem Friedrichsfelder Friedhof war schlicht und ergreifend. Die engsten Mitarbeiter des Toten blieben ihr fern, sie durften sich den Gefahren einer Verhaftung nicht aussetzen. Offiziell war die Beerdigung nicht bekanntgegeben worden, dennoch fand sich eine nicht kleine Zahl von Parteigenossen ein, die den toten Führer verehrt und geliebt hatten. Die Reden, die an seinem Sarge gehalten wurden, waren von aufrichtiger Trauer und dem Gelöbnis erfüllt, den unterbrochenen Kampf des Toten fortzuführen. – Der Märzstreik hatte nicht den ersehnten Erfolg gebracht, vielmehr das Zurückgehen der revolutionären Bewegung herbeigeführt. Die kommunistischen Parteiführer, von der Gegenrevolution als Freiwild betrachtet, waren jetzt gezwungen, ihr Dasein unterirdisch zu fristen und siedelten aus Sicherheitsgründen nach Frankfurt am Main über. Dorthin wurde eine illegale Reichskonferenz einberufen, um die in Berlin unterbrochene Verbindung zwischen der Parteileitung und dem Reich wiederherzustellen.

Die Herausgabe der „Roten Fahne“ in Berlin war durch den Belagerungszustand unmöglich gemacht worden. Weder fand sich eine Druckerei, noch war eine Verbreitungsmöglichkeit gegeben. Um ein Ersatzorgan für Berlin zu schaffen, arbeiteten Paul Levi und einige andere Berliner Redakteure an der Hanauer „Freiheit“ mit. Hanau, in unmittelbarer Nähe Frankfurts unter der vorbildlichen und klugen Führung des Arztes Dr. Wagner,154 war ein gut revolutionärer Bezirk. Die Auflage der „Freiheit“ wurde erheblich erhöht und die für Berlin nötigen Exemplare versandt. Aber die Entfernung war zu groß, sie gelangten zu spät, durch die Ereignisse überholt, an ihren Bestimmungsort. So änderte man das Domizil wieder und fuhr in die Berlin näher gelegene Stadt Leipzig. Von dort aus hoffte man, die „Rote Fahne“ wieder in alle Winde wehen zu lassen. – Nach der Ermordung Leo Jogiches‘ hatte Paul Levi die Führung der Partei übernommen. Er ließ häufig Rundschreiben mit Direktiven und politische Situationsberichte an Deckadressen der kommunistischen Ortsgruppen herausgehen. Die zentrale Lage Leipzigs ermöglichte außerdem eine persönliche Fühlungnahme mit den Vertrauensleuten im Reich. Erschwerend war, daß die Anwesenheit der in Leipzig arbeitenden politischen Kräfte oftmals in Berlin nötig war. Die Bahnverbindung war schlecht, die Züge fuhren langsam und selten, so daß die Reisen nach Berlin viel Zeit kosteten. Dazu kam, daß nicht alle mit dem nötigen Opfermut arbeiteten.155 Je mehr die Kommunistische Partei anwuchs, um so geringer wurde die Zahl der Opferwilligen.156 –

Das Erscheinen der „Roten Fahne“ war fortgesetzt mit großen Schwierigkeiten verbunden. Um das über sie verhängte Verbot kümmerte man sich nicht. Es wurde eine illegale Druckerei eingerichtet, die die „Rote Fahne“ herausbrachte. Da aber das Verbot des Blattes die übliche Zeitungsexpedition unmöglich machte, konnte man es nur in Postpaketen verschicken, die auch von Leipzig aus erst nach drei bis vier Tagen, häufig später, in Berlin eintrafen. Sandte man die Zeitungen durch Kuriere, so wurden diese allzu häufig verhaftet und die Zeitungen beschlagnahmt. Auch mußte die Verbreitung illegal vorgenommen werden. Denn jeder Zeitungshändlier [sic], der Exemplare der „Roten Fahne“ verkaufte, wurde festgenommen. Zu alledem gesellte sich die Schwierigkeit der Papierbeschaffung. Papier für Druckzwecke war, wie alles zu jener Zeit, eingeteilt und nur gegen Bezugsschein erhältlich. Die Reichsverteilungsstelle gab für die illegale „Rote Fahne“ selbstverständlich kein Papier her. Man war also auf den Schleichhandel angewiesen, was recht kostspielig war.

Als ausschlaggebendes Moment kam zu all diesen Hindernissen, daß über Sachsen der Belagerungszustand verhängt werden sollte. Man zögerte ihn noch kurze Zeit hinaus, um die Frühjahrsmesse ungehindert vorübergehen zu lassen. Kaum aber war diese beendet, zog General Maercker157 mit seiner Truppe in Leipzig ein. Am 11. Mai in aller Frühe hörte ich im Halbschlaf Pferdegetrappel. Als ich aus dem Fenster sah, patrouillierten Maercker-Soldaten vor dem meiner Wohnung gegenüberliegenden Haus der „Leipziger Volkszeitung“.

Da alle unsere Zusammenkünfte in Leipzig streng vertraulich stattgefunden hatten und meine Wohnung, die als Arbeitsstätte diente, nur wenigen zuverlässigen Parteigenossen bekannt war, wurde von den Maercker-Soldaten nur das offizielle kommunistische Parteibüro besetzt, aus dem alle wichtigen Materialien fortgeschafft worden waren. Die Druckerei der „Roten Fahne“ freilich wurde demoliert.

Die politisch führenden Genossen waren vor Eintreffen des Generals Maercker zufällig zu Besprechungen nach Berlin gefahren. Nach einigen Tagen des Abwartens fuhr ich mit den in Leipzig zurückgebliebenen Genossen, nachdem wir alles Material verpackt und geordnet hatten, ebenfalls nach Berlin. Der Sicherheit halber wohnte ich bei Freunden. Als ich in meine illegale Wohnung kam, hörte ich, daß Rosa Luxemburgs Leiche im Landwehrkanal gefunden worden sei. Auch die Zeitungen schrieben darüber. Zwar waren schon mehrmals derartige Gerüchte aufgetaucht, die sich bei Nachforschungen stets als falsch erwiesen hatten, diesmal aber schien die Nachricht zu stimmen. Auch hatte Noske158 die Tote nach Zossen bringen lassen; er mußte also ein Interesse an dem leblosen Körper haben. Wollte er Rosa Luxemburg unauffällig irgendwo begraben lassen?

Ich ging, um Näheres zu erfahren, in das Büro Theodor Liebknechts. Er selbst war nach Stuttgart gefahren, wo er in einem politischen Prozeß die Verteidigung kommunistischer Angeklagter übernommen hatte. Die Garde-Kavallerie-(Schützen)-Division hatte sich bereit erklärt, einen von uns gewählten Arzt in ihrem Auto nach Zossen mitzunehmen, damit dieser den Obduktionsbefund der Gerichtsärzte nachprüfen könnte. Der Vertreter Theodor Liebknechts lehnte dies Anerbieten ab. Sobald man es annähme, meinte er, spräche man der Garec-Kavallerie-(Schützen)-Division das Recht zu, als Gericht aufzutreten. Ich teilte diese Auffassung nicht: Der Obduktionsbefund war von Wichtigkeit, man konnte durch ihn in die Lage gesetzt werden, Rückschlüsse auf die Art der Ermordung zu ziehen. Ich bestand deshalb darauf, daß ein Arzt, der unser Vertrauen besaß, bei der Obduktion der Gerichtsärzte zugegen sei.

Es war inzwischen später Abend geworden. Zwei Ärzte bat ich vergeblich, mit den Offizieren nach Zossen zu fahren. Sie fürchteten für ihr Leben, sicher aber mußten sie mit politischer Verfolgung rechnen, wenn sie sich zur Verfügung stellten. Einer der beiden Ärzte hatte zugesagt. zog aber sein Versprechen mit der Begründung zurück, bei einer wichtigen Operation am nächsten Morgen nicht fehlen zu dürfen. Ich versuchte mein Glück bei einem dritten uns befreundeten Arzt, der sich ohne weiteres bereit erklärte. Er versicherte, bestimmt fahren zu wollen. Ich läutete außerdem im Schöneberger Krankenhaus bei einem Sohne Clara Zetkins, Dr. Maxim Zetkin159 an, der als Arzt dort tätig war. Ich wollte ihn bitten, sich dem Kollegen auf der Fahrt anzuschließen. Dr. Zetkin war aber ausgegangen, und es gab keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. – Am folgenden Tage erfuhr ich, daß der Arzt, der mir die feste Zusage gegeben hatte, nicht nach Zossen gefahren war. Rechtsanwalt Weinberg hatte ihm davon abgeraten, wieder mit der Begründung, daß die Garde-Kavallerie-(Schützen)-Division als Gericht nicht anerkannt werden dürfe.

Inzwischen war die Obduktion vorgenommen worden. Ich bat Maxim Zetkin, sich von der Garde-Kavallerie-(Schützen)-Division die Erlaubnis geben zu lassen, die obduzierte Leiche nachträglich zu besichtigen. Er ging in das berüchtigte Quartier der Division, das Eden-Hotel, wo ihm zunächst einige der Toten abgenommene Sachen vorgelegt wurden, über die er nichts zu sagen wußte. Meist von Hause abwesend, hatte er Rosa Luxemburg nur flüchtig bei seiner Mutter gesehen. So konnte er auch nach den ihm vorgelegten Bildern – man hatte die Leiche photographiert – die Identität mit Rosa Luxemburg nicht feststellen. Er schlug den verhandelnden Offizieren vor, mich kommen zu lassen.

Ich erkannte sogleich die mir gezeigten Gegenstände: ein Paar Handschuhe, die ich besorgt hatte, Fetzen eines Samtkleides, die die Farbe nicht verändert hatten, und ein goldener Anhänger, den man der Leiche unversehrt hatte abnehmen können. Man gab mir noch die Photographien. die ich, ohne einen Blick auf sie zu werfen, Paul Levi überbrachte. Es unterläge keinem Zweifel, sagte er beim Betrachten der Bilder, daß es Rosa Luxemburgs Leiche sei.

Einen Schein, der die Herausgabe der toten Rosa Luxemburg anordnete, hatte man mir mit den Worten überreicht, von der Militärbehörde sei die Leiche jetzt freigegeben, ob Herr Noske sie herausgäbe, bezweifle man. Jetzt hieß es schnell handeln. Ich setzte mich mit den Anwälten in Verbindung, um sie zu bitten, sich um Rosa Luxemburgs Leiche nicht mehr zu kümmern. Sie sei freigegeben [sic] alles weitere würde ich ohne ihre Hilfe unternehmen. „Ich habe bereits an Noske geschrieben,“ bemerkte einer der Anwälte, „er möge Ihnen die Leiche aushändigen lassen. Warten Sie doch seinen Bescheid ab.“ Gerade diesen Bescheid wollte ich nicht abwarten. Ich fragte Paul Levi, ob ich, auf die Gefahr hin, daß man die Leiche in Zossen nicht herausgäbe, ein Leichenauto nehmen solle. Paul Levi wünschte, daß ich den Versuch sofort unternähme.

Für den gleichen Tag war es zu spät geworden, ich konnte erst am nächsten Morgen die traurige Fahrt antreten, auf der mich Maxim Zetkin begleitete. An Ort und Stelle zeigten wir den von der Militärbehörde ausgestellten Schein für die Herausgabe der Leiche. Man ließ Maxim Zetkin die Tote besichtigen, an der er nichts mehr feststellen konnte. Auch der Leichenwäscher konnte seines Amtes nicht walten, so weit war die Verwesung vorgeschritten. Man bedeckte die Leiche mit einem Tuch und legte ihr ein Kissen unter das Haupt. Hatte die tote Rosa Luxemburg all die Zeit im Wasser gelegen? Welche Schandtaten waren an ihr begangen worden?

Erst zehn Jahre nach diesem grausigen Fund, im Prozeß des Reichsanwalts Jorns,160 konnte Paul Levi den Sachverhalt völlig klären. Dieser Prozeß war von Jorns angestrengt worden, weil er sich durch den Vorwurf eines Journalisten, er habe die Mörder Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts begünstigt, beleidigt fühlte. Der Prozeß wurde von Paul Levi, der bei Durchsicht der Akten feststeilen konnte, mit welcher Bestialität die entmenschten Offiziere bei der Ermordung vorgegangen waren, so geführt, daß die Öffentlichkeit nunmehr erfuhr, wie alle diese Verbrechen gedeckt worden waren, wie den Offizieren zum Freispruch oder zur Flucht verhülfen, die Schuld der Anstifter und der Mörder vertuscht worden war, und wie der Führer der nach der Mordtat eingeleiteten kriegsgerichtlichen Untersuchung, der damalige Kriegsgerichtsrat Jorns, in Amt und Würden blieb und darin höher und höher stieg. Paul Levi konnte diesen Prozeß161 nicht bis ans Ende durchfechten. Er fand durch ein tragisches Geschick den Tod unweit der Stelle, an der eine entmenschte Soldateska die grausam ermordete Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen hatte.

Maxim Zetkin begab sich von Zossen zurück an seine Arbeitsstätte, während ich, neben dem Chauffeur sitzend, mit der toten Rosa Luxemburg ins Leichenschauhaus nach Berlin fuhr. Der Weg ging durch das im Frühlingsschmuck prangende Lichtenrade, an Wäldern und Wiesen vorüber, wo Rosa Luxemburg frohe Stunden verbracht hatte. Auch durch Südende fuhr der Wagen und in Berlin an der Redaktion der „Roten Fahne“ vorbei, Rosa Luxemburgs letzter Wirkungsstätte.162 Dann übergaben wir den Sarg dem Leichenschauhaus, in das ich jetzt täglich ging, um nachzuforschen, ob die Leiche an ihrem Platz war.

Der Beerdigungstag kam. Arbeiter trugen den Sarg auf einen offenen mit Kränzen bedeckten Wagen. Ich folgte ihm noch eine kurze Strecke Wegs und ging dann zu Clara Zetkin. Sie war gekommen, um zu der Freundin letzte Abschiedsworte an der Gruft zu sprechen.163 Der gewaltige Trauerzug, der sich vom Friedrichshain aus in Bewegung setzte, wurde zu einer machtvollen Kundgebung der revolutionären Arbeiter. Voran gingen Matrosen und feldgraue Soldaten, dann folgten die engsten Freunde und Kampfgenossen, denen sich die Berliner Kreise und Betriebe anschlossen. Vor dem Friedhof in Friedrichsfelde löste der Tauerzug sich auf. Für die Beisetzung selbst war nur eine bestimmte Anzahl von Karten ausgegeben worden. Als erster sprach Paul Levi am offenen Grabe der toten Kämpferin und Freundin. Ihm folgte Clara Zetkin. Eine ehemalige Schülerin der Parteischule gedachte der geliebten und verehrten Lehrerin. Die Vertreterin der Jugend flocht in ihre Rede die Hymne Heinrich Heines:

„Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme,
Ich habe euch erleuchtet in der Dunkelheit, und als die
Schlacht begann, focht ich voran, in der ersten Reihe.
Rund um mich her liegen die Leichen meiner Freunde, [. . .]
Wir haben aber weder Zeit zur Freude noch zur Trauer.
Aufs neue erklingen die Drommeten, es gilt neuen Kampf [. . .].“164

Dann senkten sich unter den Klängen der „Internationale“ rote Fahnen auf die Gruft der toten Heldin.

Es ist kein Zufall, daß im Entstehen des Bewußtseins der Nationen nicht die Schlachtfelder, nicht die Könige und nicht die Feldherren dauernden Wert haben: um die grauen Gefängnismauern, um das schlichte menschliche Martyrium, das in ihnen beschlossen, windet sich, wie Epheu, das Gedenken der Nationen, der Tower in London, die Bastille, der Spielberg und nun die Schlüsselburg.

Paul Levi in der Kritik von Vera Figners „Nacht über Rußland“.165

Am 2. Februar 1919 sprach Paul Levi im Lehrervereinshaus zu Berlin die Gedenkworte für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.166 Er gab mit ihnen die für alle Zeiten gültige Darstellung vom Leben und Schaffen der beiden großen Toten. In den entscheidenden Jahren seines Lebens hat Paul Levi in enger Verbindung mit der politischen Arbeit Rosa Luxemburgs gestanden. Kurz vor seinem Hinscheiden war es ihm noch vergönnt, das blutige deutsche Revolutionsdrama aufzurollen, in dem so viele Tapfere mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht den Märtyrertod fanden. Es ist Paul Levi in der als klassisch anzusprechenden Prozeßführung gelungen, den an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verübten Meuchelmord in allen Einzelheiten aufzuzeigen.

Der biographische Teil der oben erwähnten Gedenkrede – Leo Jogiches hat dem Kampfgefährten und Freunde die Informationen über das persönliche Leben Rosa Luxemburgs gegeben – sei auf den folgenden Blättern diesem Buche beigegeben, das nichts anderes sein will als Zeugnis einer Liebe für den Menschen Rosa Luxemburg über das Grab hinaus und zugleich Zeugnis einer Liebe für eine Sache, von der wir, all der Opfer gedenkend, mit Vera Figner sagen müssen, daß uns die Revolution und der Bürgerkrieg viel Leiden brachten, und, Enttäuschung an den Klassengenossen möchten wir für uns sagen.

„Rosa Luxemburg ist geboren am 5. März 1871167 als die Tochter eines jüdischen Kaufmannes in Samost in Russisch-Polen. Ihre Eltern lebten in ärmlichen Verhältnissen. Sie hat in ihrer Jugendzeit kennen gelernt, was Armut heißt. Und doch eine seltene Armut! Denn trotz dieser Armut erhob sich ihre Familie merklich über das Niveau ihrer Umgebung. Es war nicht jenes dunkle, scheue Milieu, in dem ihre Glaubensgenossen dort in Polen zu leben pflegten, es war eine eigentümliche Umgebung von Geistigkeit in diesem niederen Hause. Es mag von Seiten der Mutter gewesen sein, daß in dieser Familie ein Geist von Intellektualismus herrschte. Man sah in diesem Hause trotz der Armut auf irdische Güter nichtachtend herab, man zählte nicht Geld, sondern bildete den Geist, man sprach nicht Jüdisch, sondern Polnisch, und man las nicht den Talmud, sondern die deutschen Klassiker, Schiller und Goethe, und daneben die polnische Literatur.

Es war ein armes Haus; doch man lebte darin ein selten enges, treues Familienleben, und namentlich zur Mutter scheinen die Beziehungen besonders herzliche gewesen zu sein. Wir wissen, mit welcher Zärtlichkeit Rosa von ihrer Mutter schrieb und sprach. Die Eltern wieder suchten ihren Kindern die beste Ausbildung zuteil werden zu lassen, die in Rußland möglich war. So kam Rosa auf das Mädchengymnasium in Warschau. Sie zeigte schon dort, in jüngsten Jahren, die Eigenschaft, die auch später jeden, der mit ihr in Berührung trat, in Erstaunen setzte: die Schärfe des Verstandes, die ohne Beispiel war. Sie war in allen Klassen der Schule die Jüngste und die Kleinste und nahm stets den ersten Platz ein und erhielt Belobigungen bis zur letzten Klasse. Man wollte ihr für ihre Leistungen die goldene Medaille verleihen – das war ihr erstes politisches Opfer: Die konnte sie nicht erhalten, weil sie politisch nicht als so wenig anrüchig erkannt wurde, wie man es in Rußland verlangte. Denn die Politik, die die Leidenschaft der damals aufwachsenden polnischen und russischen Generation war, hatte auch sie früh ergriffen. Zwar, als sie mit 15 Jahren das Gymnasium verließ, schien sie andern Zielen zuzuneigen. Sie hatte ein ausgesprochenes zeichnerisches Talent und beschäftigte sich mit Belletristik. Neben dieser damals mehr spielerischen Betätigung trat sie aber in eins jener politischen ,Kränzchen‘ ein, die damals in Rußland und in Polen aufblühten. Dort las man zwar nicht sozialistische Schriftsteller, sondern die Schriften liberaler Politiker. Aber das genügte damals der russischen Polizei. Ihr ,Kränzchen‘ wurde polizeilich aufgehoben: mit 18 Jahren mußte Rosa Luxemburg über die Grenze ins Ausland fliehen, und sie kam nach jener Stadt, die damals noch eine Asylstätte war für politische Flüchlinge [sic] aller Länder: nach Zürich. Sie begann dort mit einem unregelmäßigen Universitätsstudium und studierte, wofür sie schon als Schülerin eine besondere Neigung und Begabung gezeigt hatte, Mathematik und Naturwissenschaften.

Dort in Zürich fand sie zuerst die Wege zu den großen Gedanken des Sozialismus. Teils mag es der Verkehr mit polnischen und russischen Freunden gewesen sein, der ihr den Weg zeigte, teils aber vor allem auch der Verkehr mit einer Familie, von der ich glaube ein paar Worte sagen zu müssen: der Familie Lübeck. Die Lübecks waren arm, deutsche Sozialdemokraten, gleichfalls nach Zürich ins Asyl gegangen und von schwerem persönlichem Unheil dort verfolgt. Der Mann war in völliges Siechtum verfallen und lag gelähmt im Bette; er war des Schreibens nicht mehr fähig. Die Frau war in innere Konflikte gestürzt, war dem Familienleben entfremdet, die Familie bot ein Bild der Auflösung und der Zerrüttung. Dazu war noch eine Schar Kinder vorhanden. Da trat Rosa Luxemburg – erst nur als bescheidene Zimmermieterin – in jenen Kreis. Selbst war sie von Hause aus auch nur mit den geringsten Mitteln ausgestattet: Materiell konnte sie die Familie nicht stützen. Aber damals schon das Charakteristischste in ihrem Wesen: Von dem Augenblick ihres Eintritts in diesen Kreis an war sie die moralische Stütze der Familie, sie, die Kleine, war die Stärkste, die starke Seele, an der die andern sich aufrichten. Sie half dem schwerkranken Manne, der am Schreiben verhindert war, indem sie nach seinem Diktat schrieb oder für ihn schrieb, sie stützte die Frau in ihren Konflikten und hielt sie in der Familie, sammelte die Kinder um sich, baute wieder auf, was gefallen war, hielt die Familie wieder zusammen. Sie tat schon damals in kleinem Kreise, was sie später in großen Parteien tat: Ihre Seelenstärke erhob alle Schwankenden und Irrenden zu neuem, stetem, festem Leben.

In diesem Hause und im Verkehr mit Lübeck fand sie auch den weiteren Weg, der sie zum Sozialismus hinführte. Den Sozialismus vermittelt hat ihr niemand: Sie hat ihn aus den Quellen geschöpft, aus den Werken von Marx und Engels selbst, die sie in jenen Jahren las. Die folgenden Jahre, von 1889 bis 1892, verbrachte sie, ohne systematische Universitätsstudien zu treiben, teils in Zürich, teils in Bern und teils in Genf, im wesentlichen mit Studien der sozialistischen und historischen Literatur beschäftigt. In jenen Jahren trat sie auch in Verkehr mit russischen Sozialisten, mit Axelrod168 und Plechanow169 zumal. 1892 kehrte sie wieder nach Zürich zurück, und dieses Jahr brachte ihren Eintritt in das politische Leben. Sie schloß sich einem kleinen Kreise polnischer Sozialisten an, Karski, Leo Jogiches und andern Freunden, die ihr bis zum letzten Tage ihres Lebens treu geblieben sind, und unternahm es mit diesen zusammen, die polnische Bewegung zu beeinflussen, das Werk von Karl Marx in das politische Leben Polens einzuführen.

Eine eigentliche marxistische Richtung war bis zu jenen Tagen in Polen nicht vorhanden gewesen. Was sich da als Sozialist ausgab, waren kleine terroristisch-konspirative Gruppen; eine auf die Bewegung und das Eigenleben der Massen gestützte Partei war nirgendwo. Vor allem war es eine Richtung unter Führung von Dazynski,170 die glaubte, auf dem Umwege über die Errichtung eines unabhängigen Polens zur sozialen Revolution in Polen zu kommen.

Hier begann ihre Arbeit. In ihrem Kreise war sie sofort der geistig überragende Kopf; so erhielt sie den Auftrag, zum 1. Mai 1892 eine Broschüre zu schreiben.

Die Mai-Broschüren hatten eine besondere Bedeutung. In dem damaligen russischen Reiche war die Arbeitsruhe und Demonstration am 1. Mai die einzige Möglichkeit, bei der die sozialistischen Parteien ihre Kraft zeigen und entfalten konnten. Das war ein Gradmesser für die Stärke der Bewegung, ähnlich wie man in Deutschland die Reichstagswahlen für einen solchen Gradmesser gehalten hat. Ob dieser seiner Bedeutung wurde der 1. Mai stets mit einer besonderen literarischen Arbeit begrüßt, und diese Arbeit für 1892 sollte Rosa Luxemburg herstellen. Es war ihre erste politisch-literarische Arbeit und zugleich die einzige, die nicht gedruckt werden konnte – als sie das Manuskript ablieferte, stellte sich heraus, daß es, statt in Prosa, in Hexametern geschrieben war.

Es war ein Kampf gegen eine Welt von Feinden, den Rosa Luxemburg damals begann. Im Jahre 1893 erschien die erste polnisch-sozialistische Zeitung, Czrawa Robotnitscha,171 ,Arbeitersache‘. Ihr Erscheinen bedeutete den Beginn der Kämpfe innerhalb der Sozialdemokratie Polens. In Polen herrschend war damals die eben erwähnte Partei Dazynskis, die sich als nächstes Ziel die Aufrichtung eines national-polnischen Staates gesetzt hatte und diesen polnischen Staat als die Voraussetzung für die Befreiung des Proletariats betrachtete. Sie befehdete die neu aufkommende marxistische Richtung aufs bitterste. Und zunächst mit Erfolg. Im Jahre 1893 ward Rosa Luxemburg zum Internationalen Kongreß in Zürich delegiert und erlebte das Schauspiel, daß sie auf Antrag von Dazynski, unter Zustimmung übrigens der damaligen deutschen Delegation, von der Vertretung auf dem Kongreß ausgeschlossen wurde mit der Begründung, ihre Organisation sei eine Spitzelorganisation. Sie ließ sich nicht schrecken. Es mußte der Kampf um den Marxismus in Polen von Grund auf geführt werden. Rosa Luxemburg schrieb die theoretischen und historischen Arbeiten. In tiefgehenden Studien der Geschichte Polens legt sie theoretisch den Grund für eine marxistische Bewegung in Polen. Unter Aufzeigung des gesamten historischen Hintergrundes der polnischen Geschichte, unter Aufzeigung des sozialen Hintergrundes der polnischen Aufstände, unter Aufzeigung aller ökonomischen Entwicklungstendenzen der Gegenwart stellt sie die Frage, ob die Wiederaufrichtung eines polnischen Staates möglich sei, ob das Proletariat die Aufgabe habe, nationale Staaten zu begründen, oder ob nicht das Proletariat im engsten Zusammenhänge mit dem russischen Proletariat gegen den Absolutismus und mit diesem zugleich gegen die Bourgeoisie kämpfen müsse. Sie arbeitete damals, 1895, in Paris, studierte dort in der Nationalbibliothek die Quellen über polnische Geschichte, und ihre Arbeiten fanden ihren Abschluß in zwei Schriften, von denen die eine theoretisch von grundlegender Bedeutung ist, die andere, praktisch-agitatorisch, den Abschluß bildet einer jahrelang polnisch-journalistischen Tätigkeit; die eine: ,Die industrielle Entwicklung Polens‘,172 die andere – damals wurde das Wort geprägt –: ,Der soziale Patriotismus in Polen‘, eine Artikelserie in der ,Neuen Zeit‘.173 Hier entwickelte sie das marxistische Programm für Polen.

Der Kampf, der nach außen von Rosa Luxemburg allein geführt wurde, war nicht gering. Denn Dazynski stand nicht allein. Kautsky stand auf seiner Seite. Der deutsche Parteivorstand – damals die Weltmacht in der Internationale – deckte ihn und wandte sich gegen Rosa Luxemburg. Und doch blieb der Erfolg nicht aus. Im Jahre 1896, in drei Jahren, war das Werk der Begründung des marxistischen Sozialismus in Polen beendigt. 1896 erlebte sie bereits in London den Triumph, daß ihr Mandat auf dem Internationalen Kongreß anerkannt wurde, 1896/97 wurde der deutsche Parteivorstand erobert. 1900 erlebte sie in Paris den weiteren Triumph, daß die neue Richtung paritätisch mit der alten anerkannt, als gleichberechtigte Gruppe neben der Dazynskischen zugelassen wurde. Vor allem aber 1905 unter den Schlägen der Revolution fand die neue Richtung ihre Rechtfertigung vor der Geschichte; jene patriotische, nationalistische Richtung in der polnischen Sozialdemokratie wurde in der Revolution zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Unter den Schlägen der Revolution und unter den Schlägen der Agitatorin Rosa Luxemburg spaltete sich der soziale Patriotismus Polens und ist seitdem in Polen in Bedeutungslosigkeit verblieben, bis ihm die ,Befreiertätigkeit‘ von Bethmann Hollweg174 und Beseler175 wieder eine um so schneller welkende Blüte brachte. Rosa Luxemburg hat der polnischen Bewegung immer die Treue bewahrt. Bis 1912 in regelmäßigen literarischen Arbeiten, und später noch, auch jetzt noch aus dem Gefängnis heraus, hat sie den polnischen Freunden geholfen. Gewiß, wie überall, so haben sich auch in Polen im Kriege die nationalistischen Schakale des Sozialismus wieder ans Licht gewagt. Aber die kommende Revolution in Polen wird auch dort siegreich sein gegen die Patrioten, sie wird aufmarschieren und siegen unter dem Banner, das Rosa Luxemburg der polnischen Sozialdemokratie gegeben hat.

Sie selbst hatte, als im Jahre 1896 der schwerste Teil des Kampfes um den Marxismus in Polen gestritten und die theoretische Grundlegung vollendet war, sich mit dem Hauptteil ihrer Kraft neuen Aufgaben zugewandt. Sie hatte die Absicht, um der polnischen Bewegung eine größere Stütze zu sein, in die deutsche Partei einzutreten, und so beschloß sie, nach Deutschland zu gehen. Man war in ihrem Kreise in Zürich damals der Meinung; wenn man in Deutschland in der sozialdemokratischen Partei etwas gelten wolle, müsse man ein Doktor sein. So begann also Rosa Luxemburg im Herbst 1896 regelmäßig das Kolleg zu besuchen, und am 1. Mai 1897 promovierte sie magna cum laude zum Doctor juris. Ihr Professor hatte summa cum laude176 beantragt, aber die hohe Fakultät war der Meinung, das sei für eine Frau zuviel. Damit war der eine Teil einer Existenz in Deutschland geschaffen. Ein anderer Teil war noch nötig. Um in Deutschland sozialdemokratisch zu wirken, durfte man kein Ausländer sein. Man mußte die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Nichts war leichter als das. In jener Familie Lübeck, von der ich sprach, wuchs eine ganze Schar von Söhnen auf, und Rosa Luxemburg ging mit einem dieser jungen Lübecks177 eine Scheinehe ein. Damit hatte sie die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Die Ehe wurde sofort wieder geschieden, und am Tage darauf reiste Rosa Luxemburg nach Deutschland ab.

In Deutschland standen 1898 die Reichstagswahlen vor der Tür. So kam Rosa Luxemburg frisch in die Wahlbewegung hinein; ihre Tätigkeit war zunächst eine agitatorische. Sie fand zunächst in Oberschlesien Verwendung im Dienste des polnischen Proletariats. Dann aber begann ihre bestimmende Tätigkeit in der Partei. Die Wahlbewegung ging vorüber, und mit einem Schlage stand sie so eigentlich auf dem Felde, auf dem sie am stärksten war: in der theoretischen Polemik. In diesem Jahre 1898 veröffentlichte Eduard Bernstein178 zuerst seine Aufsätze: ,Probleme des Sozialismus‘,179 die theoretische Begründung des Revisionismus. Das starke Gebäude der deutschen Partei, das bis heute so mächtig und ohne Sprung zu sein schien, geriet in heftiges Wanken. Kautsky, der damals berufene Theoretiker, wurde unsicher, der Parteivorstand war schwankend geworden. Hier war Rosa Luxemburg im Großen das, was sie schon in dem kleinen Drama in der Familie Lübeck gewesen war: die Stütze aller Wankenden und Schwachen. Sie veröffentlichte in der ,Leipziger Volkszeitung‘ eine Artikelserie ,Sozialreform oder Revolution?‘180 Diese Artikel waren eine Tat. Sie hatten einen doppelten Erfolg. Sie hielten die deutschen Parteiinstanzen und Theoretiker äußerlich auf der revolutionären Linie fest und machten die Verfasserin zur anerkannten Führerin einer Richtung. Sie hat damals dem Revisionismus in der Partei das Wasser abgegraben.

Um jene Zeit wurden die beiden Redakteure der ,Dresdener Volkszeitung‘ ausgewiesen, und Rosa Luxemburg wurde ihre Nachfolgerin.181 Sie blieb jedoch nur kurze Zeit in dieser Stellung und siedelte dann als freie Schriftstellerin nach Berlin über. Hier konnte sie noch einmal, in gründlicherer Form, die Polemik gegen Bernstein wiederholen, als er sein Buch erscheinen ließ.

Inzwischen aber war dem Sozialismus eine zweite Gefahr herangewachsen. 1900 war Millerand182 in das Ministerium Waldeck-Rousseau183 eingetreten, und damit war in der Internationalen Frage nach dem Ministerialismus aufgerollt. Jaures,184 der stärkste Kopf der französischen Sozialdemokratie, verteidigte den Ministerialismus, war für den Eintritt von Sozialisten in bürgerliche Ministerien, und der eben zerschmetterte Opportunismus in allen Ländern sog aus ihm neue Kraft. Vollmar185 verteidigte ihn ebenfalls in den ,Sozialistischen Monatsheften‘.186 Kein Gegner hatte sich in Deutschland gefunden; da trat Rosa Luxemburg auf den Plan. In fünf Artikeln in der ,Neuen Zeit‘187 hat sie den Kampf ausgetragen. Mit leichter Gebärde schob sie Vollmar beiseite und suchte den eigentlichen und stärksten Gegner in diesem Kampfe zu treffen: Jean Jaures. Ihr Erfolg war, daß im Jahre 1904 auf dem Internationalen Kongreß in Amsterdam die Frage des Ministerialismus im revolutionären Sinne entschieden wurde und daß alles Leben, das der Opportunismus aller Länder dem Ministerialismus entnommen hatte, wieder erlosch. Jaures war unterlegen und hat sich gefügt.

Das Jahr 1905 bringt die russische Revolution. Sie beginnt mit jenem denkwürdigen Zuge der Petersburger Arbeiter unter Führung des Popen Gapon188 vor den Zarenpalast in Petersburg. Man stellte liberale Forderungen auf: nach einer Volksvertretung, nach Preßfreiheit, Versammlungsfreiheit und wie die liberalen Forderungen alle heißen. In einer Artikelserie in der ,Neuen Zeit‘189 wirft Rosa Luxemburg die Frage auf: Welches ist die Aufgabe und das Ziel des Proletariats in der Revolution? und sie hat die Frage so beantwortet, wie sie seitdem in Rußland sowohl in den revolutionären Kreisen der ganzen Welt beantwortet wird: Die Teilnahme des Proletariats an der Revolution hat zum Ziel die Diktatur des Proletariats. Sie hat mit dieser Arbeit nicht nur das theoretische Gerippe geschaffen für die russische proletarische Revolution, die im Oktober 1905 einsetzte, sondern theoretisch das Ziel gegeben für die revolutionäre Bewegung, in der wir augenblicklich stehen und durch die das Proletariat der ganzen Welt in diesem Jahr wird hindurchgehen müssen.

Aber mit der theoretischen Führung wollte sich Rosa Luxemburg nicht begnügen. Trotz des Abratens und der Warnungen ihrer Freunde reiste sie im Dezember 1905 als Frau Matschke nach Warschau, stand dort in der Bewegung und wurde im März 1906 verhaftet. Sie blieb in Haft bis Ende Juni 1906, wo sie gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt wurde. Das Schicksal, das ihr blühte, war klar: Leo Jogiches, mit dem sie zusammen kämpfte, ist in jenen Tagen von den russischen Gerichten zu der höchsten zulässigen Strafe von 8 Jahren Zuchthaus verurteilt worden; das wäre ihr Schicksal gewesen. Sie ging nach Finnland und von dort über Schweden nach Deutschland zurück.

Es galt, die Lehren auszumünzen, die die russische Revolution ihr und dem deutschen Proletariat gegeben hatte. Das geschah in einer umfangreichen literarischen Tätigkeit. Die erste Frucht war die in Hamburg erschienene Broschüre: ‚Der Generalstreik und die deutsche Sozialdemokratie‘.190 Rosa Luxemburg brachte aus der russischen Revolution die neue Taktik mit, durch die allein das Proletariat seinen Befreiungskampf durchkämpfen kann: die Taktik der Massenbewegung, der Massenaktion, des Massenstreiks im besonderen. Von diesem Tage an, da sie diese Taktik verlangte, begann ihr gespanntes Verhältnis zu den ‚Instanzen‘. Denn bei den deutschen Partei-Instanzen galt das Wort von Auer:191 ‚Generalstreik – Generalunsinn‘. Die Parteiinstanzen fühlten, daß in den Massen ein Neues, Größeres, als es Parteisekretariate sind, ins Leben trat, und sie fürchteten das Neue. Sie fühlten, daß mit dem Eintritt der Massen in die Bewegung ein neues Element von so ungezügelter Gewalt käme, daß sie fürchten mußten, jene ungestümen Massen in ihrem instinktiven Wollen würden das künstliche, aus Paragraphen und Mitgliedsbüchern aufgerichtete Gebäude zertrümmern. Und so bedeutete der Kampf für die Massenaktion zugleich den Kampf gegen die Partei-Instanzen. Sie hat damals trotzdem theoretisch die Partei beherrscht. Karl Kautsky wandte sich ihr zu, der damals sein Buch schrieb: ,Der Weg zur Macht‘,192 das einzige seiner Bücher, das heute noch andere lesen und das er schon vollständig vergessen hat. Sie führte den Kampf weiter auf den Parteitagen. Das Jahr 1910 brachte die Krise. Es kam die preußische Wahlrechtsbewegung, und in dieser Bewegung kamen zum ersten Mal in Deutschland die Massen auf die Straße. Herr von Jagow193 erließ seinen Erlaß: ‚Die Straße dient lediglich dem Verkehr‘, der Parteivorstand kuschte, und alle Energie der Massen verpuffte ins Leere.

Rosa Luxemburg zog die kritischen Folgerungen daraus, indem sie in einer Frankfurter Rede im Jahre 1911194 scharfe Kritik an dem feigen Verhalten des Parteivorstandes übte, und sie hat dann diese Kritik in drei Artikeln in der ‚Dortmunder Zeitung‘195 wiederholt und noch verschärft. Von diesem Tage an gingen ihre Wege und die des Parteivorstandes auseinander. Die Geister schieden sich, und auch für das theoretische Licht der Partei, für Karl Kautsky, war es eine Entscheidungsstunde. Unter dem Einfluß der russischen Ereignisse hatte er sich dem Standpunkt Rosa Luxemburgs genähert. Nun war er ebenfalls vor die Frage gestellt: für die Revolution mit den Massen, oder für den Parteivorstand mit den Mitgliedsbüchern? Er hat in seinen damaligen Artikeln über die ‚Angriffs- oder Ermattungsstrategie‘ die Entscheidung für den Parteivorstand getroffen und damit den Weg beschritten, der ihn mit dem Parteivorstand zum 4. August 1914 führte.

An dieser Stelle möchte ich ein Wort widmen ihrer Tätigkeit an der von der sozialdemokratischen Partei gegründeten Parteischule. Sie war die beste Lehrerin, sie war der Kopf, der theoretisch führte, und das Temperament, das alle Hörer, alle Schüler hinriß, und ich glaube, es gibt im Leben Rosa Luxemburgs kaum ein schöneres Gedächtnis als das Jahr 1913, als Eduard Bernstein sie auch von diesem Posten zu entfernen suchte. Wie damals die Schüler Mann für Mann, – es waren ja keine Knaben mehr, sondern erwachsene Männer – die, die Anhänger geblieben waren, und die, die aus Schülern wieder Gegner geworden waren, Mann für Mann für ihre Lehrerin Rosa Luxemburg eintraten und so Zeugnis für sie ablegten, daß selbst ein deutscher Parteivorstand davon absehen mußte sie zu entfernen.

Es begannen neue Kämpfe. Die Zeit war eine andere geworden. Sie duldete keine Halbheiten und leeren Worte mehr. Am fernen Horizonte stiegen die ersten Wolken des Gewitters auf, das sich in diesem Kriege entladen sollte. Der Imperialismus war zur Frage der sozialistischen Politik überhaupt geworden. Rosa Luxemburg hatte sich als eine der ersten schon im Jahre 1905 mit dieser Frage beschäftigt und sie in ihrer ganzen Bedeutung erkannt. In den Jahren nach 1910 tritt sie in den unmittelbaren Kampf gegen den Krieg ein, der kommen mußte. Theoretisch und praktisch kämpfte sie. Theoretisch geht sie vor, indem sie den Imperialismus zergliedert in ihrem Werke von der ,Akkumulation des Kapitals‘,196 und praktisch in ihrem Kampfe gegen den Militarismus. Die eine Tätigkeit zog ihr die Angriffe aller Preßlakaien des Parteivorstandes zu, der den Imperialismus mit seinen Gefahren wegen der unvermeidlichen Folgen auf die Partei und deren politische Führung nicht sehen wollte, die andere die Verfolgung durch preußische Staatsanwälte. Jene endigte in giftigen Zeitungsartikeln, diese in Gefängnisstrafen. Im Herbst 1913 hielt sie wiederum in Frankfurt am Main eine Rede, in der sie den Proletariern die Gefahren zeigte, denen sie entgegengingen, und worin sie die Worte sprach: ,Wenn uns zugemutet werden soll, auf unsere französischen Brüder zu schießen, so sagen wir: Nein, das tun wir nicht!‘197 Das war ein Verbrechen, das dann von den Frankfurter Gerichten mit einem Jahr Gefängnis gerächt wurde. Sie ließ sich nicht schrecken. Unmittelbar im Anschluß an dieses Urteil neue Reden: Die Reden gegen die Dramen des deutschen Militarismus, die sich Tag für Tag in den Kasernen abspielten. Der Staatsanwalt holt zu neuem Schlage aus, er will zu dem einen Jahr Gefängnis noch weitere hinzufügen. Es findet in Berlin der Prozeß statt, in dem der Staatsanwalt und die Welt die Stimme der Tausende hören sollte, die der Militarismus schon im Frieden zermalmte. Es kam nicht so weit, die politisch so fruchtbare Tätigkeit des Staatsanwalts fand ein frühzeitiges Ende. Der Krieg begann, und es kam der Augenblick, in dem sich Rosa Luxemburg im Waffenbunde zusammenschloß mit dem zweiten, den wir heute betrauern und der mit ihr in den Tod gegangen ist, mit Karl Liebknecht [. . .]“

Nach Würdigung der Persönlichkeit und der politischen Tätigkeit Karl Liebknechts, sagt Paul Levi am Schluß seiner Rede:

„Die Revolution zieht weiter ihre Straße, die Straße, die gesäumt ist von Meilensteinen; und jene Meilensteine sind Leichenhügel [. . .]. Die Bourgeoisie konnte nur das Verbrechen verüben; sie hat die Welt hineingeführt in diese Qual, in dieses Chaos, in diese Anarchie. Wir werden herausmarschieren aufrecht, mit flatternden Fahnen, wenn der, der das Verbrechen verübt hat, kraftlos am Boden liegt. Wir werden herausmarschieren stolzen Schrittes, denn wir wissen: Das Heil und die Zukunft der Menschheit ruht in dem Siege unserer Fahnen. Und in jener Stunde des Sieges werden wir noch einmal zurücksshsn müssen auf alle die, die für uns gelebt haben, die für uns gestorben sind. Sie starben ja alle im Gedanken an jene Stunde, Ich weiß es, sie beide, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht liebten jenen Ritter Ulrich von Hutten, den Mann, der die beginnende neue Zeit erfocht mit seinen scharfen Schlägen, mit seinen scharfen Worten. So wie er, bald scheidend, seine Kampfgenossen rief, so würden die Toten, könnten sie noch zu uns sprechen, uns Mut und Kraft in die Seele senken zum neuen Kampfe . . .“.198

Nach: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 4/1988, S. 435-515.


Fußnoten

1. Heinz Knobloch, Meine liebste Mathilde. Das unauffällige Leben der Mathilde Jacob, Berlin [West] 1986.

2. Elzbieta Ettinger, Rosa Luxemburg. A Life, Boston, Mass. 1986, S.200-202.

3. Peter Nettl, Rosa Luxemburg. Köln und Berlin 1967, S.42.

4. Agnes F. Peterson, A Working Woman: Mathilde Jacob, 1873-1942, in: IWK, Nr.18 (April 1973), S.51-55.

5. Siehe Heinz Knobloch, „Meine liebste Mathilde“, a.a.O., S.164.

6. A.a.O., S.166.

7. Kurt Großmann. Emigration 1933-1945. Geschichte der Hitler-Flüchtlinge, Frankfurt/M. 1969, S.334.

8. Die Briefe befinden sich zur Zeit noch im Besitz von Sibylle Quack und sollen demnächst dem Archiv der sozialen Demokratie in Bonn übergeben werden.

9. Mathilde Jacob, Aus dem Gefängnis in den Kampf, in: Leipziger Volkszeitung, Jg.36 (1929), Nr.12 vom 15. Januar.

10. Peter Nettl, Rosa Luxemburg, a.a.O., S.721.

11. So Narihiko Ito im Vorwort zu Rosa Luxemburg, Ich umarme Sie in großer Sehnsucht. Briefe aus dem Gefängnis 1915-1918, Berlin und Bonn 1980, S.4.

12. Heinz Knobloch, Meine liebste Mathilde, a.a.O., S.168f.

13. Wie Paul Levis Nachlaß gerettet wurde. Erzählt von seinem Neffen Kurt Herz, Memphis/Tenn. [Mai 1988]. Manuskript im Besitz von Rüdiger Zimmermann und Sibylle Quack.

14. Exemplarisch sei genannt: Thomas Huonker. Revolution, Moral und Kunst. Eduard Fuchs: Leben und Werk, Zürich 1985.

15. Rosa Luxemburg im Gefängnis. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1915-1918. Hrsg, und eingel. von Charlotte Beradt, Frankfurt/M. 1973.

16. Der Mikrofilm befindet sich jetzt im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn.

17. Erschien in Schreibmaschinenschrift vervielfältigt vom 27. Dezember 1913 bis zum 21. Dezember 1914. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

18. Das ursprüngliche Manuskript beginnt folgendermaßen: „Ich hatte das Glück, im Jahre 1913 zu Rosa Luxemburg in perönliche Beziehungen zu treten. Niemals vorher hatte eine Frau einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht. Ihre großen leuchtenden Augen, die alles zu verstehen schienen, ihre Bescheidenheit und Güte, ihre fast kindliche Freude an allem Schönen, ließen mein Herz für sie höher schlagen. Bewundernd blickte ich zu dieser Geistesgröße auf, die beinahe dürftig gekleidet war.

So oft ich auch später Rosa Luxemburg zu Versammlungen, Konferenzen oder Demonstrationen begleitete, der erste Eindruck blieb bestehen: sie sah so bescheiden und anspruchslos aus, daß Menschen, die sie noch nicht gesehen hatten, verwundert ausriefen: ‚Das ist Rosa Luxemburg?!‘ Sprach sie dann in ihrer temperamentvollen Art, so wuchs sie über ihr zartes Figürchen hinaus und faszinierte die Hörer.“

19. Schriftstellername Dr. Julius Marchlewskis, Wirtschaftspolitiker, geb. 17.5.1866, gest. 22.3.1925. Gehörte zu den engsten Kampfgenossen Rosa Luxemburgs. Ihre Freundschaft rührte aus gemeinsamer Studienzeit in Zürich her. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

Nach seiner Emigration 1893 in die Schweiz gab Marchlewski dort u.a. mit Rosa Luxemburg die Zeitung „Sprawa Rabotnicza“ heraus; ab 1896 war er in Deutschland Mitarbeiter an zahlreichen linkssozialdemokratischen Zeitschriften und Zeitungen, Verleger in München, Mitbegründer der Spartakusgruppe. In der wissenschaftlichen Literatur wird Marchlewskis Vorname durchweg mit Julian übersetzt.

20. Dr. Franz Mehring, geb. 22.2.1846, gest. 29.1.1919, Historiker und Literaturforscher, kam nach gründlichem Studium der Marxschen Lehre zur Sozialdemokratie, die er vorher vom bürgerlichen Lager aus in Wort und Schrift bekämpft hatte. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

21. Hugo Haase (1863-1919). Rechtsanwalt, Mitvorsitzenderder SPD, seit 1917 der USPD, 1897-1907 und 1912-1919 MdR (SPD/USPD). 1918 Mitglied des Rates der Volksbeauftragten.

Georg Ledebour (1850-1947), Journalist, 1900-1914 Mitarbeiter am „Vorwärts“ und anderen sozialdemokratischen Zeitungen. 1900 bis 1918 MdR (SPD/USPD), 1920-1922 einer der beiden Vorsitzenden der Partei, 1922 Rest-USPD, 1923-1931 Vorsitzender des Sozialistischen Bundes, 1931 SAPD.

22. Hier liegt ein offensichtlicher Schreibfehler von Mathilde Jacob vor. In einer der Versionen, die als Vorarbeiten zu dem von uns veröffentlichten Manuskript dienten, fanden wir den Satz folgendermaßen:

„Sie erhob ihre Stimme stets zögernd; immer zu Kompromissen bereit, bildete sie den sogenannten politischen Sumpf.“ (Siehe „Copy 2“ in: Hoover Institution on War. Revolution, and Peace, Stanford. Cal.)

23. Karl Liebknecht (1871-1919), Rechtsanwalt, 1902-1913 sozialdemokratischer Stadtverordneter in Berlin, 1906 Mitbegründer der proletarischen Jugendbewegung in Deutschland, 1908-1916 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, 1912-1916 MdR, Mitbegründer des Spartakusbundes; zusammen mit Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 ermordet.

24. Otto Rühle (1874-1943), Lehrer, Redakteur an sozialdemokratischen Zeitungen, 1907-1913 Wanderlehrer des Zentralbildungsausschusses der SPD, 1912-1918 führendes Mitglied der „Internationalen Kommunisten Deutschlands“, 1919 Eintritt in die KPD, 1920 Mitbegründer der KAPD, nach 1923 Wiedereintritt in die SPD.

25. Zu dem auf vier Vorträge berechneten Kurs siehe Wilhelm Pieck. Gesammelte Reden und Schriften, Bd.l, Berlin [DDR], 1959. S.330-331.

26. Siehe Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe. Hrsg, vom IML beim ZK der SED, 5 Bde., Berlin [DDR], 1982-1984, Bd.5, S.36. Der von Mathilde Jacob zitierte Brief enthält einige – geringfügige – Abweichungen gegenüber der Berliner Ausgabe.

27. An dieser Stelle ist im ursprünglichen Manuskript eingefügt: „Ich sehe sie hier noch geduldig ihre Schmerzen ertragen, die sich in heftigen Magenbeschwerden äußerten. Sie pflegte mich auf den Rand ihres Bettes zu ziehen, wenn ich bei der Begrüßung ihre kleinen weißen Hände zu küssen versuchte. Das litt sie durchaus nicht, lachte über den Unfug, wie sie es nannte und zog mich herzlich an sich. Meist aber war sie für Zärtlichkeiten nicht zu haben.“

28. Leo Jogiches [Pseudonym Tyska] (1867-1919), persönlicher Freund Rosa Luxemburgs und engster politischer Mitarbeiter, 1894 Mitbegründer der Sozialdemokratie des Königreiches Polen, radikaler revolutionärer Marxist, 1900 übersiedlung vom Schweizer Exil nach Deutschland. Organisierte im Ersten Weltkrieg die Herausgabe der „Spartakusbriefe“ und sorgte nach der Verhaftung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts für den Kontakt zwischen der Spartakusgruppe und den Inhaftierten.

29. An dieser Stelle heißt es im ursprünglichen Manuskript: „Leo Jogiches seinerseits wollte mir einmal Rosa Luxemburgs Güte schildern. ,Ich hatte sie unlängst kennengelernt‘, sagte er, ,ich klagte ihr, daß ich keinen Tee hätte, der für mich schon damals zu den Unentbehrlichkeiten des Lebens gehörte. Rosa hatte gerade aus Polen von ihren Angehörigen Tee bekommen, reichte mir sofort ein Päckchen davon und sagte, bitte, hier ist Tee für Sie. – Ich habe ihn natürlich nicht genommen‘, fügte Leo Jogiches hinzu. Und diese Handlungsweise wiederum ist für ihn kennzeichnend. Es war kaum jemals möglich, ihn zu bewegen, etwas anzunehmen.“

30. Siehe Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, a.a.O., Bd.5, S.52-54. In Mathilde Jacobs Manuskripten befinden sich orthographische Abweichungen, außerdem hat sie einen Nachsatz zu dem Brief weggelassen.

31. Im ursprünglichen Manuskript findet sich an dieser Stelle eine noch pointiertere Darstellung: „Rosa Luxemburgs Kur im Schöneberger Krankenhaus war noch nicht beendet, die völlige Wiederherstellung ihrer Gesundheit wäre dringend nötig gewesen. Aber die Pflicht rief, und sobald die eigentliche Gefahr behoben war, geleitete ich unsere Patientin in ihr Heim nach Südende, wo Leo Jogiches uns empfing. Mit ihren schwachen körperlichen Kräften kämpfte Rosa Luxemburg unermüdlich und mutig gegen die verderbliche Kriegspolitik. Mit todestraurigem Herzen hatte sie im August 1914 den Zusammenbruch der deutschen Sozialdemokratie erlebt. Sie fühlte sich persönlich gedemütigt durch diese Niederlage. Sie einzugestehen und neue Eroberungsfeldzüge für den Sozialismus zu unternehmen, war ihr oberste Pflicht. Zwar fehlten die Kämpferscharen, Rosa Luxemburg zweifelte nicht, sie zu gewinnen.“

32. Clara Zetkin, geb. Eissner (1857-1933), gelernte Lehrerin, Schriftstellerin in Stuttgart, war eine enge Freundin und Kampfgefährtin Rosa Luxemburgs. Von 1892 bis 1917 leitende Redakteurin der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“; 1895-1917 Mitglied der Kontrollkommission und 1906-1917 des Bildungsausschusses der SPD. Mitbegründerin des Spartakusbundes und der USPD; seit 1919 KPD-Mitglied, 1920-1930 MdR.

33. Im ursprünglichen Manuskript finden sich weitere Ausführungen über Karl Liebknecht: „Mit diesem Einzigen hieß es jetzt für Rosa Luxemburg gemeinsame Arbeit zu leisten, um die Massen durch Wort und Schrift aufzuklären und aufzurütteln. Laut und vernehmlich rief Karl Liebknecht von der Reichstagstribüne seine Anklagen in die Welt hinaus. Es schien eine Sisyphusarbeit zu sein bei dem nationalen Taumel, der Massen und Führer ergriffen hatte. Es waren nicht die schlechtesten Genossen, die sich damals voller Abscheu von der Sozialdemokratie lossagten. Die Deutsche Regierung wußte nur zu gut, daß Rosa Luxemburg, die todesmutige Kämpferin, aus dem politischen Kampf ausgeschaltet werden mußte, damit die Militärkamarilla ihre verbrecherische und verlogene Politik fortführen konnte. Rosa Luxemburgs in Neukölln gehaltene Vorträge, einige Flugblätter, als deren Verfasserin man sie verdächtigte, boten hinreichend Grund für ihre Einkerkerung. Hatte sie doch bei keinem Vortrag versäumt, die politisch-ökonomischen Verhältnisse der Vergangenheit auf die Gegenwart zu beziehen, um darzulegen, wie gewissenlos die Politik der Herrschenden jederzeit gewesen. Am 18. Februar 1915 wurde Rosa Luxemburg, leidend wie sie war, verhaftet, um das Jahr Gefängnisstrafe abzubüßen, das über sie im Februar 1914 von der Frankfurter Strafkammer verhängt worden war.“

34. Richard Fischer (1855-1926), Schriftsetzer, 1893-1919 MdR, 1893-1902 Geschäftsführer der Parteibuchhandlung Vorwärts, 1902-1922 Geschäftsführer der Verlagsanstalt und Buchdruckerei Paul Singer & Co. und des „Vorwärts“, 1920-1926 Beisitzer im Parteivorstand.

35. Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Clara Zetkin, „Erklärung“, in: Berner Tagwacht, Nr. 254 vom 30. Oktober 1914.

36. Eine entsprechende Pressenotiz von Karl Liebknecht konnte in der sozialdemokratischen Tagespresse nicht nachgewiesen werden. Die oppositionellen sozialdemokratischen Organe brachten nur eine knappe Meldung über Rosa Luxemburgs Verhaftung. Siehe etwa: Volksfreund. Sozialdemokratisches Organ für das Herzogtum Braunschweig, Jg.45, (1915), Nr. 34, vom 20. Februar. Die Pressenotiz ist erstmals veröffentlicht in: Rosa Luxemburg (u.a.), Briefe an Mathilde Jacob (1913-1918). Hrsg, und mit einem Vorwort von Narihiko Ito, Tokio 1972, S.9.

37. Siehe Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, a.a.O., Bd.5, S.47-48.

38. Siehe Rosa Luxemburg im Gefängnis. Briefe und Dokumente aus den Jahren 1915-1918. Hrsg, und eingel. von Charlotte Beradt. Frankfurt/M. 1973, S.115.

39. Paul Levi (1883-1930), Rechtsanwalt, seit 1909 Mitglied der SPD, kurz vor Kriegsausbruch Verteidiger Rosa Luxemburgs in zwei aufsehenerregenden Prozessen. Enger Freund und Vertrauter Rosa Luxemburgs, Mitglied des Spartakusbundes, Vorsitzender der KPD nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. 1921 Bruch mit der KPD. Levi kehrte mit Anhängern 1922 über die USPD zur SPD zurück. Bis zu seinem Tode im Jahre 1930 war er der führende Kopf des linken Flügels in der SPD.

40. Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse. Rosa Luxemburg vor der Frankfurter Strafkammer. Ausführlicher Bericht über die Verhandlung am 20.2.1914. l.Aufl. mit Vorwort von Paul Levi, herausg. von der Kommunistischen Partei Deutschland (Spartakusbund) 1920. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

41. Junius [i.e. Rosa Luxemburg]. Die Krise der Sozialdemokratie. Anhang: Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie, Zürich 1916.

42. Im ursprünglichen Manuskript heißt es zu Karl Liebknecht an dieser Stelle: „Karl Liebknecht ging häufig zu Rosa Luxemburg, die ihm alsdann Artikel oder Flugblätter zusteckte, während er mit fingierter Harmlosigkeit ihr eine Zeitung reichte, in der verbotene Schriften oder politische Berichte lagen. Er trat als Rosa Luxemburgs Anwalt auf, so daß er jederzeit Zutritt zu ihr. wenn auch unter Assistenz, erhalten konnte.“

43. Es handelte sich um die Herausgabe der Junius-Broschüre. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

44. Siehe Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, a.a.O., Bd.5, S.78-79. Gestrichen wurde von Mathilde Jacob folgen der Satz in Rosa Luxemburgs Brief: „Ich freue mich sehr bei dem Gedanken, daß Sie Frau Ros[enbaum] auf meinem Balkon bewirten werden, und hoffe, daß Sie es gemütlich haben werden.“

45. Im ursprünglichen Manuskript heißt es unmittelbar vor diesem Satz: „Als Rosa Luxemburg im Februar 1915 ihre einjährige Gefängnisstrafe angetreten hatte, erschien mir das zu durchlebende Jahr unendlich lang. War doch jede Stunde eine Freiheitsberaubung in enger Kerkerzelle, durch deren vergitterte Fenster das Licht nur trübe dringt. Das Leben ist so arm im Gefängnis, es muß den kräftigsten Körper zugrunderichten und die widerstandsfähigsten Nerven aufreiben.“

46. Adolph Hoffmann (1858-1930), sozialdemokratischer Buchhändler und Verleger. 1900-1921 Stadtverordneter in Berlin, 1904-1906 und 1920-1924 MdR, 1908-1918 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses (mit Unterbrechungen), 1917 USPD, 1920 KPD, Rückkehr zur SPD, November 1918-Januar 1919 preußischer Kultusminister.

47. Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle noch: „Niemand von uns dachte daran, den Chauffeur zu bezahlen, und so blieb der Wagen vordem Hause stehen. Freunde und Deputationen der Berliner Wahlkreise kamen, um Rosa Luxemburg zu begrüßen. Sie alle brachten Geschenke als Willkommensgruß. Bald glich die Wohnung halb einem Gärtnerladen, halb einem Lebensmittelgeschäft. Wieder schellte es. Der Chauffeur: ,Kommen die Herrschaften wieder runter?1 ,0 je! was macht denn die Taxe?‘ Sie war inzwischen erheblich gestiegen, wir mußten 20 Mark bezahlen.“

48. Sophie (Sonja) Liebknecht, geb. Ryss (1884-1964), Kunsthistorikerin, zweite Frau Karl Liebknechts.

49. An dieser Stelle heißt es im ursprünglichen Manuskript: „Ob Karl Liebknecht viel oder wenig zu essen hatte, er teilte mit uns. Begaben wir uns – meist spät abends – in seine Wohnung, um weiterzuarbeiten, so standen allerlei Gerichte auf dem Tisch: Fisch, Hering, Fleisch, Gemüse, alles war kalt bereit gestellt, und wir ließen es uns schmecken. ,Bitte nehmen Sie noch einmal, es ist ausgezeichnet‘, und er reichte mir eines Abends zum zweiten Male Kohlrüben. ,Danke, ich möchte nicht mehr?‘ ,Ach, Sie meinen, weil sie kalt sind! Das ist ein Vorurteil, sie schmecken vorzüglich.‘ – Wurst verspeiste Karl Liebknecht stets mit der sog. Pelle. Als er später aus dem Zuchthaus zurückgekehrt war, aß er Kartoffeln mitsamt der Schale. Das hatte er sich in der Strafanstalt angewöhnt, erwiderte er auf meinen erstaunten Ausruf, er sei so besser satt geworden. Einmal erwartete ein russischer Arzt Karl Liebknecht, als er heimkam. Er wurde zum Essen aufgefordert, nahm ein Heringsgericht und sah sich dann hilflos um. ,Sie möchten wohl einen andern Teller?‘ ,Bitte, ja.‘ Karl Liebknecht reichte einen Teller aus dem Schrank. Immer noch irrten die Blicke des Arztes. ,Fehlt noch etwas?‘ ,Wenn ich ein frisches Besteck haben könnte.‘ ,Bitte, hier ist es. Sie sind aber schrecklich fein gewöhnt!‘ – Suchten wir ein Restaurant auf, so studierte Karl Liebknecht die Preise und wählte für sich das billigste Gericht, meist Kopffleisch. Sein Vater hatte es ebenso gemacht, und ich war erstaunt, bei seinem ältesten Sohne Wilhelm das gleiche zu beobachten, als ich gelegentlich mit ihm in einem Restaurant aß. Das schloß aber nicht aus, daß Karl Liebknecht, wenn er bei Kasse war, ein raffiniert gutes Mahl zusammenstellen konnte.“

50. Im ursprünglichen Manuskript heißt es hier: „Die enge Zusammenarbeit zwischen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg setzte, wie bereits erwähnt, mit Kriegsbeginn ein. Ohne mir klar zu sein, welcher Art meine Befürchtungen waren, wünschte ich, Karl Liebknecht wäre weniger unzertrennlich von Rosa Luxemburg gewesen, und sah doch, daß mein Wünschen vergeblich war. Dazu kam, daß Karl Liebknechts politische Bedeutung über ihn hinaus wuchs. Sein Name wurde unzertrennlich von dem Rosa Luxemburgs, der ihm das geistige Relief gab. Sein politisches Auftreten wurde immer mutiger, immer kühner. Oft aber waren seine Handlungen tollkühn und nicht frei von Eitelkeit. Baten ihn Franz Mehring oder Rosa Luxemburg von dieser oder jener Aktion abzusehen, so pflegte er zu antworten, man möge um ihn ruhig sein, die Immunität als Abgeordneter schütze ihn vor Verhaftung.“

51. Das ursprüngliche Manuskript bietet folgende Version: „Sehr glücklich war sie nach einer Reise durch Württemberg im Vorfrühling 1916, wo sie einige Tage bei Clara Zetkin blieb. Es sollte das letzte Wiedersehen zwischen beiden gewesen sein. ,Es war schön in einem ordentlich geführten Haushalt‘, meinte Rosa Luxemburg bei ihrer Rückkehr. Auch ihren Freund Hans Diefenbach, von dem später die Rede sein soll, sah sie auf dieser Reise zum letzten Mal in Stuttgart.“ [Hans Diefenbach (1884-1917), Arzt, enger Freund Rosa Luxemburgs. Mit arbeiter der „Neuen Zeit“).

52. Im ursprünglichen Manuskript heißt es noch: „Ein anderes Mal kam Rosa Luxemburg aus der schönen Stadt Braunschweig angeregt und fröhlich nach Hause. Sobald sie ins Zimmer trat, ließ sie sich Mörikes Gedichte von mir reichen: ‚Hören Sie. Mathilde, Mörikes Werke schwirren mir im Kopf herum‘:

‚In ein freundliches Städtchen tret ich ein,
In den Straßen liegt roter Abendschein.
Aus einem offnen Fenster eben.
über den reichsten Blumenflor
Hinweg, hört man Glockentöne schweben,
Und eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor.
Daß die Blüten beben,
Daß die Lüfte leben.
Daß in höherem Rot die Rosen leuchten vor.

Lang hielt ich staunend, lustbeklommen,
Wie ich hinaus vors Tor gekommen, Ich weiß es wahrlich selber nicht.
Ach hier, wie liegt die Welt so licht!
Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle,
Rückwärts die Stadt in goldnem Rauch,
Wie rauscht der Erlenbach,
wie rauscht im Grund die Mühle!‘

[Eduard Mörike, Auf einer Wanderung, in: ders., Sämtliche Werke, Bd.l, Leipzig 1906, S. 101-102].

,Ach Mathilde, warum haben Sie mich nicht nach Braunschweig begleitet? Sie hätten sich gefreut, wie die Genossen nach meinem Vortrag mir zujubelten. Ich hatte Sie gebeten, mitzukommen, ich wußte schon, weshalb ich es tat.‘ – Hatte Rosa Luxemburg in den Jahren vor dem Krieg einen behaglichen Haushalt, in dem eine Angestellte die nötige Arbeit verrichtete, so mußte sie bei Kriegsbeginn diese entlassen und mit einer Stundenhilfe sich begnügen. Die festen Einkünfte hörten auf. Der Unterricht an der Parteischule hatte Rosa Luxemburg den Lebensunterhalt gesichert. Bei Kriegsbeginn wurde die Schule geschlossen; was sollte man mit dem wissenschaftlichen Sozialismus, der so gar keine Argumente für den Burgfrieden bot!

Mit den Artikeln aus Rosa Luxemburgs Feder war es ebenso. Sie waren nicht im Burgfriedenton gehalten, den wenigen sozialdemokratischen Zeitungen, die sie gern gebracht hätten, verbot es die Zensur. Die kleine Rosa war ‚arm wie eine Kirchenmaus‘, wie sie selbst einmal sich ausdrückte. Sie hatte keine Ersparnisse. Das wenige Geld, das ihr je übrig blieb, war für Bücher darauf gegangen.“

53. Das ursprüngliche Manuskript gibt folgende Darstellung: „Der erste Mai 1916 kam heran. Zu diesem Tage hatte die Spartakusgruppe allein eine Demonstration vorbereitet. Die Führer der .Unabhängigen Sozialdemokratie‘ hatten eine Beteiligung an derselben abgelehnt. Aber viele Arbeiter waren mit dieser Ablehnung nicht einverstanden und beteiligten sich gegen den Beschluß der Führer zahlreich an der Demonstration.

Trotz vereinter Vorhaltungen, daß Karl Liebknecht kein Recht hätte, seine Person unnützen Gefahren auszusetzen, war er nicht davon abzubringen, sich der Menge zuzugesellen. Auch Rosa Luxemburg ging unter diesen Umständen mit. Am l.Mai erschienen beide am Sammelort der Demonstration, dem Potsdamer Platz.“

54. Der Text des Flugblattes, den Mathilde Jacob Rosa Luxemburg zuschreibt, stammt aus der Feder von Karl Liebknecht. Liebknecht verfaßte den Text während seines Aufenthalts in Jena vom 23. bis 24. April 1916. Siehe Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften. Hrsg, vom IML beim ZK der SED, 9 Bde, Berlin [DDR] 1. Aufl. 1958-1968. Bd.8: August 1914 bis April 1916. 4.Aufl. 1982. S.613-616.

55. Vollständiger Text des Flugblattes in: Spartakus im Kriege. Die illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Kriege. Gesammelt und eingel. von Ernst Meyer, Berlin 1927, S.141-142.

56. Der Text dieses Handzettels ist bislang an keiner anderen Stelle nachgewiesen. Schriftliche Auskunft von Prof. Annelies Laschitza (IML beim ZK der SED). Ein Flugblatt vom Oktober 1916 enthält gleichlautende Passagen, wurde aber vor der Verhandlung der letzten Instanz verfaßt. Siehe Spartakus im Kriege, a.a.O., S.149.

57. Der vollständige Brief ist abgedruckt in: Rosa Luxemburg (u.a.), Briefe an Mathilde Jacob (1913-1918), a.a.O., S.76.

58. Ernst Meyer, der Herausgeber des Sammelbandes: Spartakus im Kriege, Berlin 1927, gibt auf S.232 Julian Marchlewski als den Verfasser des Flugblattes an. Der Text des Flugblattes findet sich im selben Bd. auf den Seiten 157-159.

59. Folgender Absatz ist im ursprünglichen Manuskript an dieser Stelle von Mathilde Jacob vorangestellt worden: „Nachdem das Urteil gegen Karl Liebknecht rechtskräftig und vollstreckt worden war, ließ sich juristisch und persönlich nichts mehr tun für ihn. Müde und abgehetzt hatte Rosa Luxemburg jetzt den Entschluß gefaßt, eine Erholungsreise sich zu gönnen. Die nötigen Vorbesprechungen waren gemacht, ich freute mich darauf, Rosa Luxemburg für einige Wochen nach Thüringen zu begleiten, wo sie unter ihrem durch Heirat erworbenen Namen Lübeck in einer Familie Wohnung nehmen wollte, die uns von nahestehenden Parteifreunden empfohlen war. Fernere Pläne sahen eine Weiterreise nach Stuttgart zu Clara Zetkin vor. – Es kam allerdings anders.“

60. Eduard Fuchs (1870-1940), Kaufmannslehre, anfangs Anarchist, später Journalist für die sozialdemokratische Presse, 1892-1900 Mitarbeiter am „Süddeutschen Postillion“, seit 1901 in Berlin Sammler, Kunst- und Kulturhistoriker, 1919 Mitglied der KPD, 1928 KPO-Mitglied. Starb im Exil in Paris.

61. Ernst Meyer (1887-1930), seit 1908 Mitglied der SPD, 1910 Vorwärtsredakteur, Mitbegründer der Spartakusgruppe und der KPD, gehörte zum Freundeskreis Rosa Luxemburgs, 1918-1923 Mitglied der KPD-Parteizentrale (mit kurzen Unterbrechungen), seit 1924 Anhänger rechtsoppositioneller Parteiströmungen, 1921-1924 und 1928-1930 Mitglied des Preußischen Landtags.

62. Im ursprünglichen Manuskript heißt es hier weiter: „An eine neuerliche Verhaftung Rosa Luxemburgs glaubte indessen niemand, obgleich von dieser und jener Seite in den vorhergehenden Tagen von einer solchen gesprochen worden war. Es gab so viele Gerüchte, von denen immer nur ein Bruchteil stimmte.“

63. Im ursprünglichen Manuskript fügte Mathilde Jacob an dieser Stelle noch hinzu: „Rosa Luxemburg sah jetzt Jahre der Kerkerhaft vor sich. Erst nach Kriegsende konnte sie auf ihre Befreiung rechnen. Auch sie vermochte die Zeitdauer dieses furchtbaren Krieges nicht abzuschätzen. Zuerst glaubten die klügsten Köpfe an eine höchstens zweijährige Dauer, allmählich aber unterließen auch die Gescheitesten eine Voraussage. Die Zeit mit ihrer scheinbaren Hoffnungslosigkeit lastete bleiern auf allen.“

64. In eine andere Fassung ihres Manuskripts, die zeitlich zwischen dem ursprünglichen Entwurf und der von uns veröffentlichten Version liegt – sie findet sich unter der Bezeichnung „Copy I“ im Hoover Institution on War, Revolution and Peace –, hatte Mathilde Jacob an dieser Stelle eingefügt: „Ein witziger Sechszeiler Mehrings vom 28. Juli 1916 erinnert an diese Zeit:

‚Die Kapern und den Parmesan
– Vom Feinde uns entzogen –
Hab‘ ich an’s Huhn nun nicht getan;
Trotzdem bleib‘ mir gewogen.
Wenn Dir die Kriegskost nicht behagt:
Ich habe nicht den Krieg entfacht.

Herzlich grüßen Franz und Eva Mehring.‘ “

Das Gedicht ist erstmals in: Rosa Luxemburg (u.a.). Briefe an Mathilde Jacob (1913-1918), a.a.O., S.53 abgedruckt.

65. Demgegenüber lautete die Stelle in der ursprünglichen Fassung: „Die unverschämten Bemerkungen des Beamten fielen immer wieder, so daß Rosa Luxemburg, eine Tafel Schokolade gegen ihn schleudernd, endlich aufgeregt rief: von einem dreckigen Spitzel könne man kein besseres Benehmen verlangen.“

66. Die „Spartakus-Briefe“ ursprünglich „Politische Briefe“ benannt, wurden während des Krieges illegal verbreitet und eifrig gelesen. Sie wurden zuerst in Schreibmaschinenschrift vervielfältigt und mit dem Pseudonym „Spartacus“ unterzeichnet. Ihre Artikel stammten in der Hauptsache aus Rosa Luxemburgs Feder, gelegentlich gaben Paul Levi, Karl Liebknecht, Julius Marchlewski, Franz Mehring, Ernst Meyer u.a. ebenfalls Beiträge. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob],

67. Wladimir Korolenko (1853-1921), russischer Schriftsteller und Sozialist. Rosa Luxemburg übersetzte Istorija moego soremennika. Die Geschichte meines Zeitgenossen. Aus dem Russischen und mit einer Einleitung versehen von Rosa Luxemburg, 2 Bde., Berlin: Cassirer 1919, LIII, 554 S.

68. Siehe Rosa Luxemburg. Gesammelte Briefe, a.a.O., Bd.5, S.136.

69. Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle weiter: „Alle Briefe Rosa Luxemburgs gingen über die Kommandantur, so daß wir bei dem üblichen Tempo der Beförderung frühestens in acht bis zehn Tagen Nachricht haben konnten. Und Rosa Luxemburg hatte nicht die nötige Kleidung, keine Wäsche und auch kein Geld.“

70. Der vollständige Brief ist abgedruckt in: Rosa Luxemburg. Gesammelte Briefe, a.a.O., Bd.5. S.137-138.

71. Bei der Ministergattin handelte es sich um Juliette Carton de Wiart. Sie war mit Henry Carton de Wiart (1869-1951) verheiratet, der von 1911-1918 als belgischer Justizminister fungierte. Juliette Carton de Wiart wurde von Mai bis September 1915 in Berlin gefangengehalten. Siehe Paul van Molle. Le Parlement Beige 1894-1969. Gent 1969, S.38-39; Emile Vanderfelde, Souvenir d’un militant socialiste, Pans 1939, S.215; Giovanni Hoyois, Henry Carton de Wiart et le groupe de la Justice sociale, Courtrai 1931, S.170.

72. Es handelt sich um Dr. Ernst Dossmann, geb. 1883 in Magdeburg. Dossmann war Staatsanwalt seit 1913 und während des Ersten Weltkrieges Gefängnisdirektor in Wronke. Er starb 1963 in Quedlinburg (DDR).

73. Im ursprünglichen Manuskript heißt es etwas ausführlicher: „Ich beschloß, etwa eine Woche in Wronke zu bleiben und die mir bewilligten drei oder vier Besuche nicht hintereinander, sondern stets ein, zwei Tage auslassend, zu machen, damit Rosa Luxemburg längere Zeit Abwechslung durch meinen Aufenthalt hatte. Nachrichten, die dem scharfen Auge des Staatsanwaltes entgingen, wußten wir uns in gewohnter übung auch ohne daß wir uns sahen, zukommen zu lassen.“

74. Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle: „Rosa Luxemburg selbst aß Nüsse gern. Ich hätte mehr geschickt, wenn ich nur mehr hätte auftreiben können; denn ich war sicher, daß von den gesandten Nüssen keine in Rosa Luxemburgs Magen wanderte, daß sie sich vielmehr ergötzte, wenn ihre kleinen Freunde sie sich schmecken ließen. Starenkästen ließ sie von Clara Zetkin senden, kurz sie tat alles, wie es ihre Art war, den Tierchen Liebes zu erweisen. Strahlend erzählte sie dem Staatsanwalt von den vielen Besuchern, die ohne seine Erlaubnis zu ihr kämen.“

75. Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle noch: „Gelgent]ich nahm er zu den Plauderstunden seine Schwester mit, von der ich das Phantasieprodukt eines Sozialdemokraten, fein säuberlich auf ein Ei gemalt, eines Tages bei Rosa Luxemburg sah.“

76. Im ursprünglichen Manuskript gehen die Ausführungen über Frau Schrick noch weiter: „Kriegsbegeistert erwähnte sie nebenher, stolz darauf zu sein, in diesem heiligen Kampfe mithelfen zu dürfen. Ihr Standpunkt war natürlich das Trennende zwischen uns. Aber Rosa Luxemburg hat die Menschen im privaten Leben, das sie durchaus zu führen bemüht war, nicht nach ihrer politischen überzeugung eingeschätzt; es zogen sie oft vollwertige Menschen durch ihren Charakter oder ihr Wissen an. –

Kurz nach Ausbruch der Revolution, als Rosa Luxemburg wieder in Berlin war, jedoch nicht zu Hause, sondern im Hotel wohnte, meldete sich Frau Oberin Schrick, die einige Tage in Berlin weilte. Sie hatte den Wunsch. Rosa Luxemburg in der neu gewonnenen Freiheit die Hand zu drücken. Wir freuten uns auf ein Wiedersehen und kamen überein, Frau Schrick bei mir zu empfangen. Wir verplauderten einige ruhige Stunden, über die neuen Verhältnisse, die die Revolution geschaffen, auch der alten nicht vergessend. Es war das einzige Mal, daß die Oberin Rosa Luxemburg wiedergesehen hatte.“

77. Im ursprünglichen Manuskript ist Mathilde Jacob an dieser Stelle sehr viel ausführlicher: „Ich kannte Hans Diefenbach bereits näher, da Rosa Luxemburg gern von ihm zu erzählen pflegte. Sie unterhielt sich stets so aus gezeichnet mit ihm, daß, als sie ihren Freund einmal zur Bahn nach Stuttgart geleitete, beide das Abfahrtsignal überhörten und Rosa Luxemburg in dem Zuge sitzen blieb. In Wittenberge stiegen die Freunde aus und schrieben Ansichtskarten, die die Empfänger belustigen sollten. Sobald dann ein nach Berlin gehender Zug eingelaufen war. fuhr Rosa Luxemburg zurück, während Hans Diefenbach seine Reise nach Stuttgart fortsetzte. Persönlich lernte ich Hans Diefenbach kurz vor seiner Abreise nach Posen im Salon von Paul Cassirer kennen, wo die Schauspielerin und Gattin Paul Cassirers. Tilla Durieux, einige Kapitel aus der nunmehr fertiggestellten übersetzung „Die Geschichte meines Zeitgenossen“ von Korolenko vorlas. Als Hans Diefenbach mir nach der Vorlesung seine Pläne bezüglich eines Besuches bei Rosa Luxemburg unterbreitete, riet ich aufs entschiedenste ab, ohne Sprecherlaubnis nach Wronke zu fahren. Unser Freund aber war seiner Sache allzu sicher. Ohne die erforderliche Erlaubnis bei der Kommandantur nachzusuchen, machte er seiner Freundin den ersten freund-nachbarlichen Besuch.

Der Staatsanwalt beurteilte die Dinge richtiger, er verweigerte Hans Diefenbach die gewünschte Unterredung ohne Vorzeigung einer schriftlich erstellten Erlaubnis der Posener Kommandantur. Er mußte unverrichteter Sache und betrübt von dannen ziehen. Ebenso traurig war seine Freundin, als ihr der Staatsanwalt von dem mißglückten Besuch erzählt hatte.“

Paul Cassirer (1871-1926), Schriftsteller und Verlagsbuchhändler, Berliner Kunsthändler, Verleger, Förderer der impressionistischen Kunst. Ehemann von Tilla Durieux (bürgerl. Ottilie Godefroy. 1880-1971), Schauspielerin, Ausbildung in Wien, 1903-1911 Schauspielerin bei Max Reinhard, von 1915-1917 und wieder von 1919-1929 eine der Führenden Schauspielerinnen am Schauspielhaus in Berlin. Im Zweiten Weltkrieg in der jugoslawischen Widerstandsbewegung. Seit 1952 wieder Auftritte an deutschen Bühnen.

78. Adam Mickiewicz (1798-1855), polnischer Dichter.

79. Im ursprünglichen Manuskript fügte Mathilde Jacob an dieser Stelle noch hinzu: „Gelegentlich traf ich unsern Freund in Unterberg, einem schönen Ausflugsort bei Posen in Begleitung des Ehepaares Marchlewski, das mit Hans Diefenbach Freundschaft geschlossen hatte.“

80. Im ursprünglichen Manuskript heißt es hier weiter: „Ich versuchte. Rosa Luxemburg diese Pracht vor die Seele zu zaubern. Hatte sie mir doch einmal geschrieben, als ich ihr einen blühenden Lindenzweig gebracht hatte: ,Sie wissen nicht, welche Wohltat Sie mir damit erwiesen haben.‘ So brachte ich ihr auch diesmal blühenden Flieder und Schneebälle, bestellte ihr Grüße unseres Feundes und erzählte ihr von manchem, was wir im Gespräch berührt hatten.“

81. Im ursprünglichen Manuskript hatte Mathilde Jacob hier auch Luise Kautsky erwähnt. Sie fügte, nachdem sie den Brief erwähnt hatte, den ihr Hans Diefenbach schrieb, in Klammern folgenden Satz hinzu: “ (auch Luise Kautsky hatte ihn besucht, die langjährige Beziehungen mit ihm und Rosa Luxemburg verband.)“

Luise Kautsky (1864-1943), Freundin Rosa Luxemburgs, Karl Kautskys Ehefrau, übersetzerin zahlreicher Artikel für „Die Neue Zeit“, Mitarbeiterin der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift „Die Gleichheit“. Publizierte 1923 die an sie und Karl Kautsky gerichteten Briefe Rosa Luxemburgs.

82. Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle weiter: “ Ich beschaffte Kisten für das Verpacken der Bücher, und ich sehe mich noch in dem Hotelzimmer zwischen Rosa Luxemburgs Bildern, Gläsern, ihrem Geschirr, einem Korbsessel, einem Liegestuhl und anderem mehr. Ich glaubte nicht, das alles verstauen und fortschaffen zu können. Hinzu kamen meine in der Umgebung von Wronke gehamsterten Lebensmittel: Eier, Butter, Honig u.a.m. Leo Jogiches erwartete mich aus Wronke stets mit besonderer Freude. Neben Nachrichten von mir und über Rosa Luxemburg, brachte ich ihm Eßwaren. Es stand schlecht genug damals um seine Beköstigung. Stets mußte ich aber erst beweisen, daß auch meine Angehörigen versorgt waren. Zweifelte er im geringsten daran, so konnte es nur durch List gelingen, ihn dies oder jenes nehmen zu lassen.“

83. Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle noch: „Traurig und mit Tränen in den Augen wurde sie zu mir geführt. Ich erschrak. Hatte ich Rosa Luxemburg doch nie ihren äußeren Gleichmut verlieren sehen.“

84. Das ursprüngliche Manuskript ist an dieser Stelle wesentlich ausführlicher. Es heißt dort: „Selbst während des Jahres ihrer Strafhaft 1915/16, als man Rosa Luxemburg eine sogenannte Mutterzelle eingeräumt hatte, die, größer als die üblichen Zellen, zur Aufnahme von Wöchnerinnen diente, hatte sie dem kahlen Raum durch Aufstellen einiger Bücher, des Schreibzeuges und sonstiger Kleinigkeiten, eine gewisse Behaglichkeit verliehen. Der Gefängnisarzt aus dem Bamimstraßengefängnis und die dortige Vorsteherin erzählten wiederholt, wie wohnlich die Zelle hergerichtet sei und bedauerten, sie mir nicht zeigen zu dürfen, weil das gegen die Vorschriften verstoßen hätte. – Nach kurzer Zeit erhielt ich dann aus Breslau Nachricht von Rosa Luxemburg, daß aus der Zelle ein behaglicher Raum geworden sei, wovon ich später mich persönlich überzeugen durfte. Da eine Zelle als Schlaf- und Arbeitsraum bei der in Wronke stattlich angewachsenen Menge von Büchern sich als zu eng erwies, nahm man nach einiger Zeit eine daneben liegende Zelle hinzu. Die Benutzung beider war aber praktisch nicht möglich, weil Gefängniszellen durch Türen nicht miteinander verbunden sind. Wollte die stets eingeschlossene Inhaftierte von der einen in die andere Zelle, so mußte sie durch ein Klingelzeichen sich bemerkbar machen. Dann kam die Gefängnisaufsehrin [sic], um Rosa Luxemburg aus der Zelle herauszulassen und in die andere wieder einzuschließen. Unter diesen erschwerenden Umständen gab sie die Benutzung der zweiten Zelle auf.“

85. Im ursprünglichen Manuskript finden sich noch einige Sätze mehr über die Familie Schlisch: „Die ganze Familie, bestehend aus den Eltern Schlisch. einer halbwüchsigen Tochter, zwei Buben von etwa 9 und 5 Jahren, zwei Großmüttern, der Mutter von Robert Schlisch und der seiner Frau, sie alle waren bemüht, der Hausfrau zu helfen und jedes für sein Teil etwas zu Rosa Luxemburg zu tun. Manchmal schaute der fünfjährige Karl auf einen Leckerbissen und rief seufzend: ,Mutti, die olle Rosa kriegt immer was extra? Aber gerade er liebte die ,olle Rosa‘, der er Blumen bringen durfte, und die immer eine Kleinigkeit für ihn bereit hatte.

Nach einiger Zeit wurde Robert Schlisch zum Militärdienst für die Binnenschiffahrt eingezogen. Seine Frau, die ihn besuchen wollte, schrieb ihm, sie wolle während ihrer Abwesenheit die Verpflegung anderen überlassen. Er antwortete, sie möchte, so gern er sie bei sich sähe, vorläufig nicht kommen. Rosa Luxemburg ginge vor, sie sollte ja dafür sorgen, daß .unsere Rosa‘ ordentlich zu essen bekäme.“

86. Der Brief ist vollständig abgedruckt in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe. a.a.O., Bd.5, S.287-288.

87. Im ursprünglichen Manuskript heißt es: „[. . .] schrieb ich die Berichte in Geheimschrift ausschließlich nachts.“

88. An dieser Stelle ist im ursprünglichen Manuskript noch folgender Absatz eingeschoben: „Wenn Leo Jogiches durch Erzählungen sich entspannt hatte, begann er oft erst nach Mitternacht wieder zu diktieren. Dann mußte er den Weg von über einer Stunde nach Neukölln in seine Wohnung zu Fuß machen. Rosa Luxemburg, die seine Art zu arbeiten kannte, war nicht im Zweifel darüber, wie die Berichte für sie zustande kamen.“

89. Die Version des ursprünglichen Manuskriptes lautet: „Rosa Luxemburg, die außer von mir von Sonja Lieb knecht, Mathilde Wurm, Luise Kautsky und Martha Rosenbaum besucht wurde, machte die Ausfahrten mit den sie besuchenden Freunden.“

Mathilde Wurm (1874-1934), Schriftstellerin. Sozialdemokratin, seit 1917 Mitglied der USPD, seit 1919 Stadt verordnete in Berlin, 1922 Rückkehr zur SPD, MdR 1920-1933; Luise Kautsky, s.o. Anm. 65; Martha Rosen baum (wahrscheinlich 1869 od. 1870-1940), Sozialdemokratin. 1917 Mitglied der USPD, finanzierte das Erschei nen der „Internationale“ mit. Trat durch ihren Cousin, Kurt Rosenfeld, in Verbindung zu Rosa Luxemburg.

90. Der Brief ist vollständig abgedruckt in: Rosa Luxemburg. Gesammelte Briefe, a.a.O., Bd.5. S.393.

91. A.a.O., S.408. Im ursprünglichen Manuskript fährt Mathilde Jacob nach dem Briefzitat so fort: „Ich freute mich, wenn sie während der Sprechstunde da waren, in der Zelle herumstolzierten und, wenn wir Brot oder Kuchen verzehrten, ihren Tribut einforderten. Schilderungen des Interesses und der Sorgfalt, die Rosa Luxemburg Tieren zuteil werden ließ, finden sich zahlreich in den prachtvollen Briefen aus dem Wronker und Breslauer Gefängnis an Frau Sonja Liebknecht.“

92. Bezieht sich auf den kompromittierenden Bericht, den ich bei Rosa Luxemburgs Sachen im Barnimstraßengefängnis gefunden hatte. [Origmalanmerkung von Mathilde Jacob].

93. Im Sommer 1917 gab es Bemühungen von deutscher Seite, mit der russischen revolutionären Voroktoberregierung zu einem Austausch von Gefangenen zu kommen Dabei wurde sondiert, auf diese Weise Rosa Luxemburg als ehemalige russische Staatsbürgerin und Julian Marchlewski als einen immer noch russischen Untertan aus den Gefängnissen herauszuholen. Die Bemühungen führten bei Marchlewski schließlich zum Erfolg, scheiterten indes bei Rosa Luxemburg. Schreiben von Feliks Tych an Rüdiger Zimmermann vom 17. April 1988.

94. Laut Mitteilungsblatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgebung, Nr. 16 vom 15. Juli 1917, bemühte sich der holländisch-skandinavische Ausschuß des Internationalen Sozialistischen Büros zur Vorbereitung einer Friedenskonferenz dann auch um die Freilassung Rosa Luxemburgs.

95. Auf Bitten Victor Adlers intervenierte eine Reihe prominenter Sozialisten (Hjalmar Branting, Camille Huysmanns, Emile Vandervelde) bei der provisorischen Regierung in Petrograd, um die Freilassung Otto Bauers zu erreichen. Bauer wurde im September nach Österreich entlassen. Siehe Raimund Low, Otto Bauer und die russische Revolution, Wien 1980, S.10.

96. Jogiches verwechselt mit hoher Wahrscheinlichkeit die serbischen Mitglieder des Internationalen Sozialistischen Büros Pavle Pavlovič (1886-1971) und Trisa Kaclerović (1879-1956). Beide waren 1912 in Basel ins Büro gewählt worden. Während Pavlovič in keine kriegerischen Verwicklungen verstrickt war, wurde Kaclerović bei Kragnjevce in der ersten Jahreshälfte 1917 von österreichischen Truppen gefangengenommen und nach drei bis vier Monaten entlassen, um an der Stockholmer Konferenz teilzunehmen. Siehe Sapski socijalistički pokret za vreme prvog Svetskog Rata. Hrsg, von Michailo Todorovije, Belgrad 1958. S.356.

97. Der Spartakusbund nannte sich ursprünglich „Gruppe Internationale“ nach der in Aussicht genommenen Zeitschrift „Die Internationale“, zu deren Ansichten sich ihre Anhänger bekannten. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob],

98. Am 17. März erließ der Petrograder Sowjet das berühmte Manifest „An die Völker der ganzen Welt“ mit dem Ziel, dem Krieg durch eine gemeinsame Friedensaktion ein Ende zu setzen. Der Petrograder Sowjet konnte erreichen, daß die provisorische Regierung die Petrograder Friedensformel übernahm. Am 11. April entschied das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets ebenfalls, die Einberufung zu einer internationalen sozialistischen Friedenskonferenz in einem neutralen Land zu initiieren, die mit den übrigen sozialistischen Friedensinitiativen zusammenfallen sollte. Die Bolschewiki und die deutschen radikalen Linken lehnten diese Friedensinitiative mit der Formel „Frieden ohne Annexion und ohne Kriegsentschädigung“ ab und arbeiteten auf eine Sonderkonferenz der Zimmerwalder Linken hin. Siehe Jürgen Stillig, Die Russische Februarrevolution 1917 und die sozialistische Friedenspolitik, Köln 1977, passim.

99. In der Generalversammlung des sozialdemokratischen Wahlvereins für den Kreis Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg wurde am 18. Juni 1917 eine Resolution zur Internationalen Sozialistischen Konferenz in Stockholm angenommen. Gleichzeitig wurde beschlossen, drei Delegierte zu wählen. Die Wahl fiel auf Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Käthe Duncker. An der Konferenz vom 5.-12. September 1917, die als dritte Zimmerwalder Konferenz zählte, nahm nur Käthe Duncker teil.

100. Gemeint ist die Friedensinitiative eines skandinavisch-holländischen Restkomitees („holländisch-skandinavisches Komitee“) des Internationalen Sozialistischen Büros, das für den 15. Mai 1917 zu einer Friedenskonferenz nach Stockholm eingeladen hatte. Die Konferenzinitiative scheiterte am Ausreiseverbot der Sozialisten aus den Ländern der Entente.

101. Otto Rühle richtete am 9. Juli 1917 eine Anfrage an den Reichskanzler, ob er gedenke, Rosa Luxemburg als Mitglied des Internationalen Sozialistischen Büros für die Stockholmer Tagung freizugeben. Der Reichskanzler lehnte dieses Ansinnen am 11. Oktober 1917 ab. Siehe Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, a.a.O., Bd.5, S.266.

102. Novoe Vremja [Die Neue Zeit] erschien seit 1868 in Petrograd. Sprachrohr des Adels und der beamteten Bürokratie. Nach der Februarrevolution unterstütze [sic] das Blatt die Kriegspolitik der provisorischen Regierung. Das Blatt wurde am 26. Oktober (8. November) 1917 verboten.

103. Ähnliche und noch stärkere Kraftausdrücke waren zwischen Lenin und seinen Anhängern und dem Kreis um Rosa Luxemburg bei gegenseitiger, oft geübter Kritik an der Tagesordnung. Die Nachrichten aber, die aus Rußland nach Deutschland kamen, waren spärlich, entstellt und oft falsch, so daß das Urteil von Leo Jogiches über die damalige Leninsche Taktik bei genauer Kenntnis der Lage wohl loyaler ausgefallen wäre. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

104. Auch Rosa Luxemburg war der Ansicht, daß durch den von Rußland angestrebten und in Brest Litowsk herbeigeführten Separatfrieden Deutschland siegreich aus dem Kriege hervorgehen konnte, wenn nicht die englischen Bajonette, wie sie meinte, schließlich den Sieg davongetragen hätten. Bei einem Siege Deutschlands aber war einsetzende Gewaltpolitik und schlimmste Reaktion gewiß, die schwerste Bedrohung freiheitlicher sozialistischer Ideen. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

105 Der Brief wurde zuerst in: Sozialistische Politik und Wirtschaft, Jg.2 (1924), Nr.41 vom 2. Juli abgedruckt, ohne daß die Funktion Mathilde Jacobs als Herausgeberin ersichtlich wurde.

106 Die „Arbeitsgemeinschaft“ hatte im April 1917 sich in Gotha als „Unabhängige Sozialistische Partei“ konstituiert. Der Spartakus-Bund war ihr angeschlossen, doch hatte er sich eigene Kampfmaßnahmen gesichert. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob],

107 Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle ausführlicher: „Der deutsche Spießer, der ein solches Flugblatt las, empörte sich in seinem tiefsten Innern ob solchen ‚Landesverrats‘ oder er schüttelte sein Haupt, die Zurechnungsfähigkeit des Flugblattschreibers anzweifelnd. Hätte er doch eher geglaubt, der Himmel könne auf die Erde stürzen, denn die Hohenzollern ‚von Gottes Gnaden‘ aufhören. Deutschland mit ihrer Regentschaft zu beglücken. Sein geringes Denkvermögen war durch die Presse vollends ausgeschaltet. Ihm war der zu erwartende endgültige Sieg jahrelang Tag für Tag vorgetäuscht worden. Wie der Gläubige an seine Religion, so glaubte er an die Wahrhaftigkeit der Zeitungen.“

108 Im ursprünglichen Manuskript heißt es noch: „Die Korruption und der Verrat am Sozialismus konnten erst nach Kriegsende einsetzen, als gut bezahlte Posten vergeben und festgehalten wurden.“

109 Das ursprüngliche Manuskript ist an dieser Stelle sehr viel ausführlicher: „Bei der Knappheit, selbst der scheußlichsten chemischen Ersatznahrungsmittel war das Essen in den Gefängnissen unzureichend; sogar verdorbene Lebensmittel wurden verabfolgt.

Die Leibwäsche mußte besorgt werden, für die Zusendung von Büchern und Zeitungen war bei dem zuständigen Richter um Erlaubnis nachzusuchen. Es erwartete die Gefangenen eine kleine kahle Zelle mit Eßnapf, Blechlöffel, Wasserkrug und Waschnapf. Eine Holzpritsche mit einem Keilkissen, einer dünnen Matratze und einer Wolldecke diente als Schlafstätte. Tagsüber wurde die Pritsche hochgerichtet und an der Wand befestigt. Auch eine Holzplatte, die als Tisch diente, konnte heruntergeklappt werden. Der einzige Stuhl war fest eingeschraubt und zwar so, daß der Gefangene mit dem Gesicht zur Tür sitzen mußte. Der durch eine Klappe von Zeit zu Zeit hineinschauende Beamte konnte dann sogleich sehen, womit sich der Gefangene beschäftigte. Neben der Tür war das Klosett mit automatischer Wasserspülung, die morgens, mittags und abends für das gesamte Gefängnis in Funktion trat.

Für jedes Stück, das man einem Gefangenen hereingeben wollte, mußte man der Gefängnisdirektion die Erlaubnis des zuständigen Richters vorzeigen können.“

110 Diese Vorgänge sind im ursprünglichen Manuskript wesentlich ausführlicher beschrieben: „Wie üblich kam der Verhaftete zuerst ins Polizeigefängnis nach dem Alexanderplatz. Ich bat die Wirtin, sich um Leo Jogiches zu kümmern. Sie willigte gern ein und besorgte gewissenhaft alles Nötige, war aber eifersüchtig, wenn hie und da neben ihr eine Verehrerin auftauchte. Sie machte Leo Jogiches dann eine Szene und klagte mir hinterher ihr Leid. Die Wirtin war eine noch junge hübsche Person, deren Mann im Felde gefallen war. Von Zeit zu Zeit hatte Leo Jogiches irgendeine Bemerkung über sie gemacht, so auch, daß sie krankhaft neugierig war. Sie scheute vor keinem Mittel zurück, um hinter seine Angelegenheiten zu kommen. Sogar die für ihn ankommenden Briefe erbrach sie.

Als ich die Wirtin aufsuchte, führte ich mich unter falschem Namen bei ihr ein. Sie fragte sogleich, ob ich die Frau des alten Herrn mit dem weißen Bart wäre, was ich der Einfachheit halber bejahte. Gemeint war Franz Meh ring. der einzige Besucher, der bei Leo Jogiches erschienen war. Leo Jogiches hatte die Telefongespräche mit mir meist bei einem Zigarrenhändler in der Nähe seiner Wohnung geführt. Die Wirtin, die der Ladeninhaber davon unterrichtet hatte, bat diesen, auf die verlangte Nummer zu achten. Da Leo Jogiches außerdem, wenn ich am Tele fon war, mich mit Mathilde anredete, oder falls ich nicht da war, meine Angehörigen nach Mathilde fragte, so ruhte die Frau nicht, bis sie meine Personalien völlig herausbekommen hatte. Triumphierend sagte sie Leo Jogiches eines Tages, mit wem er immer telefoniere. Da ich Schreibmaschinenarbeiten anfertigte, gab er an, eine größere Arbeit für einen seiner Freunde bei mir schreiben zu lassen, zog es aber fortab vor, Telefongespräche nicht mehr in der Nachbarschaft zu fuhren. Selbstredend wußte die Wirtin nichts von Leo Jogiches‘ politischen Interessen, auch kannte sie die Menschen nicht, mit denen er zu tun hatte.“

111 Hugo Holthöfer (1883-1958), 1912 Amtsrichter in Köpenick, wo er während der Kriegszeit in mehr als 30 Fällen als Untersuchungsrichter des Reichsgerichts fungierte, 1928-1931 Oberlandesgerichtspräsident in Königsberg, 1947 als LDPD-Mitglied Stadtrat der Abteilung Post- und Fernmeldewesen in Berlin (West) (gegen den Willen der Gewerkschaften), 1954 Rücktritt als Postsenator.

112 Bertha Thalheimer (1883-1959), vor 1914 SPD-Linke, Vorstandsmitglied der württembergischen SPD, Mitglied der Gruppe Internationale, des Spartakusbundes und der KPD, 1929 KPO. 1943 KZ Theresienstadt bis zur Befreiung durch die Rote Armee. Nach 1945 Wiedereintritt in die KPD, 1948 erneuter Austritt, unterstützte die Gruppe Arbeiterpolitik.

113 Im ursprünglichen Manuskript fügte Mathilde Jacob hier noch den Satz hinzu: „Ich mußte meine Sache 7 Monate hindurch gut machen.“

114 Wolfgang Fernbach (1889-1919), Reakteur [sic].

[115] Im ursprünglichen Manuskript heißt es noch: „Wegen der näheren Auswahl der Artikel sollte ich mich mit Leo Jogiches unterirdisch in Verbindung setzen.“

116 Im ursprünglichen Manuskript fügte Mathilde Jacob an dieser Stelle noch hinzu: „Rührend war, mit welcher Liebe eine stattliche Anzahl von Paketen gepackt war, die die durch die Revolution befreiten Russen ihren noch in Kerkern gefangenen deutschen Brüdern geschickt hatten, wobei natürlich Rosa Luxemburg und Leo Jogiches nicht vergessen worden waren.“

117 Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle weiter: „Ich hatte sie in eine unverfängliche Zeitung gelegt, und diese Zeitung bat ich beim Fortgehen, Rosa Luxemburg überlassen zu dürfen, was die Aufseherin gestattete.“

118 Im ursprünglichen Manuskript gibt Mathilde Jacob mehr von ihren Gefühlen preis: „Nach einigen Ausfahrten mit unserer Gefangenen reiste ich nunmehr ins Gebirge. Seitdem sich meine Gedanken fast ausschließlich bei Rosa Luxemburg befanden, hatte ich mir angewöhnt allein zu reisen. Da ich ihr fast täglich Geheimbriefe schrieb, war das Alleinsein auch eine notwendige Vorsicht.

Durchstreifte ich die Natur, so tat ich dies niemals, ohne schmerzlich Rosa Luxemburgs Verbannung in den Kerker zu empfinden, dann beglückte es mich, ihr Blumen zu senden und von meinen Spaziergängen zu erzählen, um hierdurch etwas Abwechslung in ihr eintöniges Leben zu bringen. Dabei freuten wir uns beide herzlich auf meine Rückreise über Breslau.“

119 Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle abweichend: „Die Zeitungen brachten als Anzeichen der kommenden Katastrophe Deutschlands den Abfall Bulgariens. Das war das erste Wetterleuchten am politischen Horizont, dem bald die verheerendsten Gewitter folgen sollten. Wenn man sehen mußte, wie das deutsche Proletariat 4 Jahre hindurch ,Siege‘ feierte, und der ein Narr zu sein schien, der die Ansicht vertrat, daß Sieg oder Niederlage dasselbe für es bedeutete, konnte wohl mancher den Mut verlieren. Rosa Luxemburg allerdings hatte ihn nie verloren. Als wir im Oktober 1917 baten, ernsthafte Schritte einzuleiten, um nach Rußland gehen zu können, antwortete sie: ,Ich bin zu verknüpft mit der Schande des deutschen Proletariats, ich kapituliere nicht.“ [sic] Als wir später nochmals unsere Bitte wiederholten, sagte sie: ,Nein, ich halte auf meinem Posten aus, und ich hoffe in Deutschland noch etwas zu erleben und zwar in nicht gar zu ferner Zeit.‘

Ende September machten wir unsere letzte Wagenfahrt in Breslau. ,Rosa‘, sagte ich unvermittelt, ,sobald du aus dem Gefängnis kommst, verschenk all deine Sachen, die du hier hast.‘ ,Ja, glauben Sie denn wirklich‘, sagte der uns begleitende Rechtsanwalt, ,daß es auch bei uns zu einer Revolution kommen kann?‘ ,Ja‘, sagte Rosa Luxemburg, ,das glaube ich jetzt schon. Sehen Sie, wenn Bulgarien nicht mehr mitmacht, wird die Türkei bald zu einem Sonderfrieden gezwungen werden, was den Abfall Ungarns bedeuten würde, dem Österreich folgen muß. Bleibt also Deutschland allein auf dem Kampfplatz zurück und den kann es unter diesen Umständen nicht länger behaupten. Ob das schon in allernächster Zeit sich abspielen wird oder ob sich die Katastrophe hinauszögert, das kann ich nicht beurteilen. Aber Deutschlands Schicksal ist besiegelt.‘ Der Rechtsanwalt meinte, daß es Deutschland gelingen würde, wenn es alle Kraft zusammennähme, den Kampf auch allein siegreich zu Ende zu führen. Aber kaum zwei Monate nach diesem Gespräch erlebten wir den Zusammenbruch Deutschlands und seiner Verbündeten.“

120 An dieser Stelle ist im ursprünglichen Manuskript folgende Erzählung eingefügt: „Am darauffolgenden Abend gaben die Russen Karl Liebknecht zu Ehren ein kleines Fest. Man aß von dem Geschirr des ehemaligen Zaren. Das russische Zarenwappen auf dem Service, dem Silber und den Kristallpokalen sprach eine beredte Sprache von der Vergänglichkeit aller Dinge. Mir war unbehaglich zu Mute bei diesem Mahl, das Rosa Luxemburg nicht gutgeheißen hätte in einer Zeit, wo die Volksgenossen Hunger litten. Auch waren die meisten Reden, die fast alle der zu erwartenden Revolution galten, unbedeutend, sie konnten den gegebenen Zeitumständen nicht gerecht werden. Hugo Haase äußerte sich beim Verlassen der Botschaft, als die Russen ihrer Hoffnung für den kommenden Umsturz in Deutschland nochmals Ausdruck gaben, daß er eine Revolution als ein Unglück betrachten müßte.“

121 Adolf Gröber (1854-1919), Zentrumsabgeordneter, ab August 1917 Vorsitzender der Reichstagsfraktion, Staatssekretär ohne Portefeuille in der Regierung des Prinzen Max von Baden.

122 Gemeint ist die Konferenz der Revolutionären Obleute in Berlin, die am 2. November 1918 mit 21:19 Stimmen den 4. November 1918 als Termin für eine revolutionäre Erhebung ablehnte. Siehe Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919. Um ein Vorwort und einen bibliographischen Anhang erweiterte Ausgabe, Frankfurt/M. 1978, S.62.

123 Ewald Vogtherr (1859-1923), Kaufmann, SPD-Mitglied, 1890-1898 Stadtverordneter in Berlin, 1893-1898 und 1912-1918 MdR, wurde 1917 USPD-Mitglied.

124 Siehe den Artikel „Unabhängigen-Demonstration“, in: Vossische Zeitung, Nr.565 (Abendausgabe) vom 4. November 1918. Am 4. November hatten USPD und Spartakusgruppe zu einer Demonstration aufgerufen, an der zahlreiche Beschäftigte der Daimler- und Eisenbahnwerke teilnahmen. Der Protestzug bewegte sich vom Wilhelmsplatz zum Schloßberg.

125 Arbeiterpolitik. Wochenschrift für wissenschaftlichen Sozialismus. Das Organ der Bremer Linksradikalen erschien von 1916 bis 1919. Unter der Federführung von Johann Knief war es eines der wenigen legal erschienenen, radikalen Oppositionsblätter.

126 Julian Borchardt (1868-1932), Handlungsgehilfe, sozialdemokratischer Redakteur, 1911-1913 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, gehörte in der Novemberrevolution zu den Internationalen Kommunisten Deutschlands.

127 Das Flugblatt „Gebot der Stunde, Nr.l“ mit der Balkenüberschrift „Her mit der wahren Demokratie!“ und der Schlußforderung „Deutschland – Republik!“ erschien ohne Impressum. – Ein Exemplar des Flugblattes, das sich im Levi-Nachlaß im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn fand, wurde jetzt in die Flugblattsammlung des Archivs aufgenommen.

128 Paul Levi, Wie es anfing, in: Almanach nebst Kalendarium für die Leser des Sächsischen Volksblattes [Umschlagtitel Volksblattalmanach] 1929, Zwickau 1928. S.33.

129 Im ursprünglichen Manuskript lautet der Satz folgendermaßen: „Am Abend zog sie mit Parteifreunden durch die Straßen Breslaus, in denen die Revolution ausgerufen wurde.“

130 Vgl. Spartakus-Briefe (Neudruck) Verlag A. Seehof & Co. Berlin. „Die russische Tragödie“ S.181. – Eine erweiterte Kritik, die ebenfalls für die Spartakus-Briefe bestimmt war, durch die inzwischen ausgebrochene Revolution aber nicht mehr gedruckt wurde, ist verloren gegangen. Da eine Anzahl von Kopien vorhanden war, besteht die Hoffnung, daß die Ausführungen noch gefunden werden.

Rosa Luxemburg, „Die russische Revolution“, eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlaß von Rosa Luxemburg, herausgegeben und eingeleitet von Paul Levi. Verlag Gesellschaft und Erziehung GmbH, Fichtenau-Berlin 1922. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

131 Emilie Jacob(1849-1933), Mutter von Mathilde Jacob.

132 Paul Levi, Wie es anfing. a.a.O., S.33-34.

133 Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle weiter: „Er schämte sich jetzt dieser Absicht, und so war man verhältnismäßig früh zu Entschlüssen gekommen. Gegen Mitternacht trennte man sich voneinander und suchte die Zimmer auf. Ich ging noch einen Augenblick zu Leo Jogiches, um ihm eine Bestellung auszurichten. Als ich in Rosa Luxemburgs Zimmer zurückkehrte, stand Karl Liebknecht mit ihr am Fenster. Beide bewunderten den Sternenhimmel. Der Stern ihres Unheils war an jenem Abend noch nicht sichtbar.“

134 „Was will der Spartakusbund?“ Zuerst im Dezember 1918 in der“Roten Fahne“ veröffentlicht, dann als Broschüre herausgegeben. Da es sich als notwendig erwies, später durch ein erläuterndes Vorwort von Paul Levi ergänzt. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

Mathilde Jacob bezieht sich auf die Broschüre: Was will der Spartakusbund? Hrsg, von der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund). 300. bis 400. Tausend, Berlin 1919. Die anonyme Einleitung wurde mit folgender Bemerkung versehen: „Es hat sich als notwendig herausgestellt, dem Programm die allgemeinen Gedankengänge des Kommunismus vorauszuschicken, die das eigentliche Programm als bekannt voraussetzte. Diese Einleitung umfaßt die Abschitte I bis IV; die Abschnitte V bis VIII enthalten den alten Text von Rosa Luxemburg.“ Die von Mathilde Jacob zitierten Passagen befinden sich in dieser Broschüre auf den Seiten 14-23.

135 Im ursprünglichen Manuskript hatte Mathilde Jacob noch folgende Sätze angefügt: „Sie erwartete Dr. Marchlewski (Karski). der, ein erfahrender [sic] Zeitungsmann, auf die gemeisame [sic] Arbeit mit Rosa Luxemburg eingestellt war. Er kam erst nach ihrem Tode.“

136 Rosa Luxemburg, Rede zum Programm. Gehalten auf dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), 29.-31. Dezember 1918 zu Berlin. Verlag „Rote Fahne“ Berlin 1919. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

Die Redeauszüge Rosa Luxemburgs finden sich auf S.24-26. Schreibfehler und abweichende Interpunktion wurden korrigiert.

137 Im ursprünglichen Manuskript fügte Mathilde Jacob noch hinzu: „Leider konnte ich es damals nicht.“

138 Im ursprünglichen Manuskript folgen hier längere Ausführungen: „Wir ließen uns ein paar Stückchen Putenbraten munden, den wir von einer guten Freundin bekommen hatten. ‚Rosa‘, sagte ich, ‚ich habe Angst um dich, was soll nur werden?‘ ‚Wenn es gefährlich zu werden droht, so verreisen wir beide in den nächsten Tagen.‘ Daraus wurde natürlich nichts. Dagegen nahm Rosa Luxemburg ein junges Mädchen zu sich, die nach dem Tode Hans Diefenbachs brieflich bei ihr Zuflucht gesucht. [Es handelte sich um Martha (Medi) Urban (1894-1963), spätere Frau von Karl Kautsky, jun.] Wir hatten gemeinsam überlegt, daß das junge Mädchen kam, und ich war durchaus einverstanden damit gewesen. Als sie aber eintraf, verließ ich die Wohnung. Ich bekam nicht fertig, Rosa Luxemburg fortab zu besuchen. Tat ich es gelegentlich, so litt ich solche Qualen, daß ich mir vornahm, meine Besuche einzustellen. Rosa verstand von alledem nichts. ‚Ich begreife nicht, daß du nicht zu mir kommst‘, sagte sie des öfteren. ‚Es geht jetzt nicht‘, erwiderte ich. ‚Ich arbeite bis spät abends mit Leo.‘

In der Tat arbeiteten wir von morgens 9 bis nachts gegen 12 Uhr. War ich früher fertig, so lief ich in die Redaktion der ‚Roten Fahne‘ und begleitete Rosa Luxemburg von dort zur Bahn, fuhr aber trotz jedesmaliger Aufforderung nicht mit nach Südende.

Einmal, als wir kurz vor Mitternacht zur Bahn schritten und Rosa Luxemburg nur mühsam vor Müdigkeit sprechen konnte, sagte sie: ‚Kannst du mir sagen, weshalb ich stets so lebe, wie ich nicht die geringste Neigung habe? Ich möchte malen und auf einem Fleckchen Erde leben, wo ich Tiere füttern und sie lieben kann. Ich möchte Naturwissenschaften studieren, aber vor allem friedlich für mich allein leben können, nicht in dieser ewigen Hetzjagd.‘ Ich erzählte dies Leo Jogiches. ‚Machen Sie sich keine Sorgen Mathilde. Wenn Rosa anders lebte, wäre sie erst recht nicht zufrieden. Sie kann gar nicht anders leben.'“

139 Im ursprünglichen Manuskript fügte Mathilde Jacob an dieser Stelle noch hinzu: „Wir verabschiedeten uns flüchtig. Ich ging nach Haus mit den besten Vorsätzen, wie gut sich mein Verhältnis zu Rosa Luxemburg gestalten sollte. Leider konnten diese Vorsätze nicht mehr verwirklicht werden.“

140 Dr. Alfred Bernstein (1858-1922). Sozialdemokratischer Berliner Stadtverordneter 1904-1913, Wundarzt und Geburtshelfer. Gründungsmitglied der Berliner Arbeitersamariter. Nach 1918 Sympathisant der Freien Arbeiter-Union Deutschlands. Das Wohnhaus stand in der Blücherstraße 13.

141 Eugen Levine (1883-1919), Teilnehmer an der russischen Revolution 1905, Sozialrevolutionär, 1909 Emigration nach Deutschland, Anhänger der Linken, Teilnehmer am Gründungskongreß der KPD; als leitendes Mitglied des Vollzugsrates des Ausschusses der Münchener Räterepublik verhaftet und hingerichtet.

142 Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle weiter: „‚Ach, Mathilde‘, sagte Rosa Luxemburg, als ich wieder bei ihr war, ‚wäre ich doch wieder im Loch.‘ ‚Wie kannst du so etwas Schreckliches wünschen!‘ ‚Tausendmal besser als dieses Herumvagabundieren. Im Gefängnis hatte ich meine Ruhe; da ist meine Zelle und außer mir hat niemand in ihr etwas zu suchen. Aber hierher kommen so viele Menschen, daß ich es einfach nicht ertragen kann. Kannst du mir z.B. sagen, was Fräulein J. . . . hier zu suchen hat? Ich bin gestern davongelaufen, als sie kam und habe mich mit einem Buch in das kleine Schlafzimmerchen der Leute gesetzt. Als sie endlich wieder fort war, ging ich zu den Genossen und höre von ihnen gesprächsweise, daß Leo verhaftet worden sei. Stell dir vor, welchen Schreck ich bekam. Du mußt morgen gleich nach ihm Umschau halten und alles tun, was möglich ist?

Das wollte ich selbstverständlich, doch kam ich nicht dazu. An jenem Abend aber trieb es mich, schuldig, wie ich mich Rosa Luxemburg gegenüber fühlte, ihr diese Schuld zu bekennen. ‚Ich muß dir sagen, Rosa‘, begann ich, ‚ich komme sonst innerlich nicht zur Ruhe, ich war stets im Unrecht, wenn ich mich durch dich verletzt fühlte. Ich muß dich um Verzeihung bitten und verspreche dir, für die Folge stets zu kommen, wenn du mich rufst. Es ist ein Wahnsinn, dich für mich allein in Anspruch nehmen zu wollen.‘

,Aber Mathilde, verstehst du denn nicht, daß ich das junge Mädchen aus Pietät für unsern Freund Hans Diefenbach zu mir genommen habe, und daß mein Verhältnis zu dir ein ganz anderes ist?‘ ,So oder so, Rosa, ich bereue mein Benehmen, und das muß ich dir sagen?

Rosa Luxemburg lachte. ,Weißt du, als Hans Diefenbach gestorben war, bereute ich, ihm dies und jenes nicht gesagt zu haben. Sprich dich nur aus, du hast dann nach meinem Tode nichts zu bereuen?

In diesem Augenblick kam Karl Liebknecht mit der Wirtin und ihrem Töchterchen zu uns. ,Ich schlage vor, wir lesen etwas‘, sagte er. ,Ach ja‘, fiel ich ins Wort und glaubte, Rosa Luxemburg damit zu erfreuen. Sie warf mir einen strafenden Blick zu, daß ich die Antwort nicht ihr überlassen hatte. Wir lasen also, das heißt Karl Liebknecht las vor. Zuerst wählte er ein Märchen von Tolstoi, dann etwas von Goethe. Beim Abschied – es war das letzte Mal, daß ich Rosa Luxemburg sah, – küßte ich ihre Hand. Sie entzog sie mir wie gewöhnlich, umarmte mich und küßte mich herzlich auf den Mund. Obgleich Karl Liebknecht und die Wirtsleute dabei waren, umarmte ich Rosa Luxemburg, ihr zuflüsternd, daß ich sie am nächsten Tage wiedersehen würde, daß jetzt alles wieder in Ordnung und ich glücklich sei.“

143 Im ursprünglichen Manuskript lautet der nächste Satz: „Dann ging ich in meine Zelle und marterte mich mit der Schuld ab, die mich durch meine Verhaftung vielleicht an Rosas Tod traf.“

144 Der Text des ursprünglichen Manuskriptes geht so weiter: „Als wir aus den Gefängnismauern heraus waren, sagte er: ‚Wissen Sie, wie ich es erfahren habe? Ich kam ins Gefängnisbüro, um meine Briefschaften zu holen, und ich lese dort in großen Lettern unter den Zeitungsköpfen, daß Karl und Rosa ermordet sind. Das ist doch furchtbar!‘ – Leo Jogiches sagte kein Wort, als wir uns wiedersahen. Ich sprach ihm von den Vorwürfen, die mich zu Boden drückten, ich erzählte von den Mißverständnissen, die zwischen Rosa Luxemburg und mir Platz greifen konnten, und er versuchte, mich davon frei zu machen. Ich bin sicher, daß er selbst sich mit Vorwürfen marterte.“

145 Folgende Passage schließt sich im ursprünglichen Manuskript an: „Auch Wolfgang Fernbach zählte zu diesen. ‚Daß Rosa ihre Schwäche gegen Karl so furchtbar büßen muß‘, sagte ich zu Leo Jogiches, als wir gemeinsam den Weg zur Trauerfeier machten.“

146 Im ursprünglichen Manuskript heißt es weiter: Der Anblick der vielen offenen Gräber, die Angehörige und Freunde wehklagend umstanden, war schaurig. Wir legten Blumen auf den leeren Sarg Rosa Luxemburgs. Als ihr verstümmelter Körper, den verrohte Soldaten auf Geheiß der Offiziere in den Landwehrkanal geworfen hatten, am 13. Juni endlich zur Ruhe gebettet wurde, war dieser Sarg bereits verfallen und das Grab von Leo Jogiches aufgerichtet. Nachdem ich Rosa Luxemburg verloren hatte, wollte ich gegen Leo Jogiches so handeln, daß ich bei seinem Tode nichts zu bereuen hätte. Als er gelegentlich schlechter Stimmung und unumgänglich war, sagte ich zu ihm: „Sie wissen, ich verkrache mich nicht mit Ihnen. Ich möchte mir nicht wieder Vorwürfe machen wie nach Rosas Tod. Wer weiß, was noch kommen kann in dieser schrecklichen Revolution.‘ ‚Sobald wieder geordnete Verhältnisse eintreten‘, erwiderte er friedfertig, ‚gehe ich nach Skandinavien. Dort zu leben, ist lange mein Wunsch. Es ist auch das einzige Land, das ich ohne Rosa aufgesucht habe. In anderen Ländern, die ich liebe und wohin ich gern ginge, würde ich immer an die mit Rosa dort verlebte Zeit erinnert werden.'“

147 Im ursprünglichen Manuskript heißt es weiter: „Während der arbeitsreichen Tage blieb Leo Jogiches keine Zeit, sich dem Schmerz hinzugeben. Wie stets hatte er einen Witz oder eine Anekdote in Bereitschaft, ein aufmunterndes Lächeln für die Mitarbeiter und vor allem für die Jugend, die ihn so liebte. Kaum zwei Monate vergingen zwischen Arbeit und der Erinnerung an unsere Tote. Es kam der März, der mit seinen Stürmen die Revolution hinwegzufegen drohte.“

148 Im ursprünglichen Manuskript schließen folgende Sätze an: „Sie wünschte, in Rosa Luxemburgs Wohnung untergebracht zu werden. Leo Jogiches lehnte ab, uns dort zu besuchen. ‚Das bringe ich nicht fertig‘, sagte er zu mir. ‚ich begreife nicht, daß Sie es können.‘

Halb mich entschuldigend erklärte ich, daß ich gern nach Südende ging. Leo Jogiches dagegen begleitete ich in das ehemalige Herrenhaus nach der Leipziger Straße, in dem der USP-Parteitag tagte.“

149 Theodor Liebknecht (1870-1948), Jurist, betrieb zusammen mit seinem Bruder Karl eine Rechtsanwaltspraxis in Berlin. 1917 USPD-Mitglied, 1921 preußischer Landtagsabgeordneter, 1922 Rest-USPD, 1931 SAPD, führte in der Weimarer Republik einige aufsehenerregende Prozesse. Emigration nach Prag und Basel.

150 Kurt Rosenfeld (1877-1943), Rosa Luxemburgs Rechtsanwalt, 1906-1910 Lehrer an der Parteischule, seit 1910 Berliner Stadtverordneter, 1917 USPD, 1918 preußischer Justizminister, 1920-1932 MdR, 1922 SPD, 1931 SAPD, 1933 Emigration nach Paris, später USA.

151 Der Polizeibeamte Tamschick (genauere biographische Daten konnten nicht ermittelt werden) soll nicht nur Jogiches, sondern auch den Gewerkschaftsführer der Elektrizitätsarbeiter, Wilhelm Sult, und den früheren Kommandanten der Volksmarinedivision, Heinrich Dorrenbach, ermordet haben. Er wurde später vom preußischen Innenminister Severing zum Polizeileutnant befördert. Siehe Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1929, S.367-368. Siehe außerdem den Bericht Karl Retzlaws, Aufstieg und Niedergang. Erinnerun gen eines Parteiarbeiters, 4. neugefaßte Auflage, Frankfurt/M. 1976, S.127.

152 Der Bericht erschien 1929. Siehe Fritz Winguth, Leo Jogiches zum zehnten Jahrestag seiner Ermordung, in: Leipziger Volkzeitung, Jg.36 (1929), Nr.38 vom 9. März 1929. Mathilde Jacob hat die Erinnerungen von Fritz Winguth, ehemals Leiter der radikalen Jugendbewegung in Neukölln, leicht bearbeitet.

153 Käthe Kollwitz (1867-1945), Graphikerin und Bildhauerin.

154 Georg Wagner (1867-?), Arzt, Sozialdemokrat, „Vertrauensarzt“ für die Hanauer Gewerkschaftsorganisationen, 1912-1933 Mitglied der Hanauer Stadtverordnetenversammlung, Mitglied des Hanauer Arbeiter- und Soldate rates, Mai 1919 KPD, Levi-Anhänger, seit 1922 Führer einer unabhängigen Kommunistischen Partei in Hanau („KPD-Wagner Gruppe“), 1933 ins Konzentrationslager verschleppt.

155 Im ursprünglichen Manuskript ist folgender Satz eingefügt: „Es hatten sich Elemente eingeschlichen, denen die Arbeit Sache des Geldverdienens war.“

156 Im ursprünglichen Manuskript heißt es noch weiter: „Nicht wenige Genossen, die in der Kriegszeit selbstlos und der Sache ergeben waren, hatten die hohen Gehälter und das für illegale Zwecke allzu leicht hergegebene Geld, dessen Wert sie nicht kannten, korrumpiert.“

157 Georg Maerckcr (1865-1924), Generalmajor, 1918/1919 Führer des Freiwilligen Landesjägerkorps, 1920 Befehlshaber im Wahlkreis IV (Dresden).

158 Gustav Noske (1868-1946), Korbmacher, Redakteur verschiedener sozialdemokratischer Tageszeitungen, MdR 1906-1920, Repräsentant des rechten Parteiflügels. 1918 Mitglied des Rates der Volksbeauftragten, Januar 1919-März 1920 Reichswehrminister, schlug die revolutionären Nachkriegserhebungen mit Hilfe des Militärs blutig nieder.

159 Maxim Zetkin (1883 1965). Arzt, Sohn Clara Zetkins.

160 Paul Jorns (1871-1942), seit 1909 Kriegsgerichtsrat im Heeresdienst, führte die Ermittlungen in den Mordfällen Liebknecht/Luxemburg. 1923 Oberstaatsanwalt, 1936 planmäßiger Leiter des Volksgerichtshofes (Oberreichsanwalt). Ruhestand ab 1.4.1937, stellte sich aber bei Kriegsausbruch wieder dem Volksgerichtshof zur Verfügung und blieb dort bis zum Ende. NSDAP-Mitglied seit 1933.

161 Der Jorns-Prozess. Rede des Verteidigers Dr. Paul Levi nebst Einleitung. Berlin 1929. Internationale Verlagsanstalt. [Originalanmerkung von Mathilde Jacob].

162 Im ursprünglichen Manuskript heißt es an dieser Stelle noch weiter: „Einige Häuser von dieser entfernt ließ ich vor einem Gärtnerladen halten, in dem ich öfters Blumen geholt, um sie auf den Schreibtisch Rosa Luxemburgs zu stellen. Jetzt kaufte ich einen Strauß weißen Flieders und ließ ihn in den Sarg legen.“

163 Im ursprünglichen Manuskript ist noch eingefügt: „An dem gewaltigen Zuge, der sich vom Friedrichshain in Bewegung setzte, nahm sie nicht teil. Ihr Wagen durchfuhr vor ihm die Straßen, auf deren Bürgersteig dicht gedrängt Proletarier warteten, die, verhindert sich dem Zug anzuschließen, ihrer Führerin ein letztes Lebewohl sagten.“

164 Siehe Heinrich Heine, „Hymnus“, in: Heinrich Heine. Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg, von Klaus Briegleb. Bd 7 (Schriften 1837-1844), München 1976, S.489.

165 Paul Levi, Ein Erinnerungsbuch, in: Sozialistische Politik und Wirtschaft. Jg.4 (1926), vom 30. Dezember.

166 Paul Levi, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Gedächtnis. Rede, gehalten von Paul Levi bei der Trauerfeier am 2. Februar 1919 im Lehrer-Vereinshaus zu Berlin. Hrsg, von der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), o.O. [Berlin], o.J. [1919].

167 Im Original bei Paul Levi ist irrtümlich der 5. Mai als Geburtstag angegeben. Mathilde Jacob hat dieses Datum korrigiert.

168 Pavel B. Axelrod (1850-1928), bedeutender Vertreter der sozialistischen Arbeiterbewegung Rußlands, der eng mit der deutschen Sozialdemokratie zusammenarbeitete. Mitbegründer der ersten russischen marxistischen Gruppe „Befreiung der Arbeit“; später einer der Führer der Menschewisten.

169 Georg Plechanow (1856-1918), zunächst Anhänger der Volkstümler, 1880 Emigration in die Schweiz, 1883 Begründer der marxistischen Gruppe „Befreiung der Arbeit“, nach der Spaltung der russischen Sozialdemokratie (1903) Anhänger der Menschewisten.

170 Ignacy Dazynski (1866-1936), seit 1892 Führer der Polnischen Sozialdemokratischen Partei Galiziens und Schlesiens (PPSD), Abgeordneter im österreichisch-ungarischen Parlament, Unterstützer der PPS, November 1918 Ministerpräsident der Provisorischen Volksregierung der Republik Polen.

171 Gemeint ist die sozialistische Monatsschrift „Sprawa Rabotnicza“, Organ der Sozialdemokratie des Königreichs Polen. Erschien von 1893 bis 1896 unregelmäßig in Paris.

172 Rosa Luxemburg, Die industrielle Entwicklung Polens. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der staatswissenschaftlichen Doktorwürde der hohen staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich, Leipzig 1898.

173 Der Sozialpatriotismus in Polen, in: Die Neue Zeit, Jg.14 (1895/96), Bd.2, Nr.41, S.459-470.

174 Theobald von Bethmann-Hollweg (1856-1921), seit 1905 preußischer Innenminister, 1907 Staatssekretär des Reichsrates des Innern, 1909 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident, Juli 1917 Rücktritt.

175 Hans von Beseler (1850-1921), preußischer General, 1915-1918 Generalgouverneur in Warschau.

176 Im Originaltext Paul Levis heißt es „cum laude“.

177 Gustav Lübeck. Ging 1898 mit Rosa Luxemburg eine Scheinehe ein, die 1903 geschieden wurde.

178 Eduard Bernstein (1850-1932), Handlungsgehilfe, Schriftsteller; seit 1872 Mitglied der SDAP, 1881 Redakteur des emigrierten Parteiorgans „Der Sozialdemokrat“, ständiger Mitarbeiter der Theoriezeitschrift „Die Neue Zeit“, begann ab 1896 mit der Revision des Marxismus; 1902-1906 und 1912-1918 MdR, ständiger Mitarbeiter der „Sozialistischen Monatshefte“, 1917 USPD, 1919 Rückkehr zur SPD.

179 Gemeint ist die Artikelfolge Eduard Bernsteins „Die Probleme des Sozialismus. Eigenes und übersetztes“, in; Die Neue Zeit, Jg.15 (1896/97), Bd.l, Nr.6, S.164-171, Nr.7, S.204-213. Nr.10. S.303-311, und Nr.25, S.772-783.

180 „Sozialreform oder Revolution. Besprechung der Bernsteinschen Aufsatzreihe: Probleme des Sozialismus. Neue Zeit 1898“ erschien zunächst in der Leipziger Volkszeitung vom 21.-28.9.1898, Nr.219-225 und vom 4.-8.4.1899, Nr.76-80. Als Monographie unter dem Titel: Sozialreform oder Revolution? Mit einem Anhang; Miliz und Militarismus, Leipzig 1899. Eine 2. Aufl. erschien 1908.

181 Im September 1898 übernahm Rosa Luxemburg die Redaktion der „Sächsischen Arbeiter-Zeitung“ in Dresden, da die beiden Redakteure Parvus (Alexander Helphand) und Marchlewski als unerwünschte Ausländer aus Sachsen ausgewiesen worden waren.

182 Alexandre Millerand (1859-1943), Journalist, ab 1885 französischer sozialistischer Abgeordneter, im Kabinett Waldeck-Rousseau 1899 bis 1902 Handelsminister als erster sozialistischer Minister überhaupt. 1905 Ausschluß aus der französischen Partei, politische Rechtsentwicklung, 1920-1924 Präsident der Republik.

183 Pierre Waldeck-Rousseau (1846-1904), französischer Politiker, gemäßigter Republikaner. 1881-1882 sowie 1883-1885 Innenminister, 1899-1902 französischer Premierminister. Leitete die Gesetzgebung zur Trennung von Staat und Kirche ein.

184 Jean Jaures (1859-1914), Philosophieprofessor, 1885 Abgeordneter der radikalen Linken, gründete 1902 die Zeitung „L’Humanite“, Pazifist. Wurde am 31.7.1914 in Paris ermordet.

185 Heinrich Georg von Vollmar (1850-1922), Mitglied der Sozialdemokratie seit 1876, Vertreter des radikalen Linken Flügels, Mitarbeiter der Dresdner „Volkszeitung“ und des Zürcher „Sozialdemokrat“ (seit 1879), 1881-1887 und 1890-1918 MdR, wandelte sich zu einem bedeutenden Vertreter des süddeutschen Revisionismus, stand zeitweise im scharfen Gegensatz zur Parteileitung Bebels.

186 Georg von Vollmar, Zum Fall Millerand, in: Sozialistische Monatshefte, Jg.6 (1900), Nr.12, S.767-783.

187 Die sozialistische Krise in Frankreich, in: Die Neue Zeit, Jg.19 (1900/01), Bd.l, S.495-499, S.548-558, S.619-631, S.676-688.

188 G.A. Gapon (1870-1906), russischer Priester, Agent der russischen Geheimpolizei, initiierte im Januar 1905 die Petersburger Arbeiterdemonstrationen mit.

189 Rosa Luxemburg veröffentlichte 1905 in Die Neue Zeit vier Artikel über Rußland: Die Revolution in Rußland, in: Die Neue Zeit. Jg.23. (1904/05), Bd.l, S.572-577; Nach dem ersten Akt, a.a.O., S.610-614; Das Problem der „hundert Völker“; a.a.O., S.643-646; Der Bittgang des Proletariats, a.a.O., S.711-714.

190 Gemeint ist die Broschüre: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Hamburg 1906.

191 Ignaz Auer (1864-1907), Sattler, 1874 Sekretär des Parteiausschusses, 1875 auf dem Gothaer Vereinigungskongreß zu einem der Sekretäre der Partei gewählt, langjähriges Reichstagsmitglicd; seit 1890 Sekretär des Parteivorstandes der SPD.

192 Karl Kautsky, Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution. Berlin 1907.

193 Traugott von Jagow (1865-1941), seit 1906 Oberregierungsrat in Potsdam, seit 1909 Polizeipräsident von Berlin, 1916-1919 Regierungspräsident in Breslau.

194 In Wirklichkeit das Jahr 1910. Siehe Rosa Luxemburg, Der preußische Wahlrechtskampf und seine Lehren. Vortrag gehalten am 17. April 1910 im Zirkus Schumann zu Frankfurt am Main. Stenographischer Bericht, Frankfurt/M. 1910.

195 Gemeint sind die Artikel: Was weiter?, in: Arbeiter-Zeitung. Sozialdemokratisches Organ für das Rheinisch-Westfälische Industrie-Gebiet, Dortmund, Nr.61 vom 14. März 1910 und Nr.62 vom 15. März 1910, sowie: Die Maifeier im Zeichen des Wahlrechtskampfes in: a.a.O., Nr.91 vom 20. April 1910. Rosa Luxemburg hielt am 12. April 1910 in Dortmund ebenfalls eine Rede. Der Text: Die Lehren des Wahlrechtskampfes, in: a.a.O., Nr.86 vom 14. April 1910 fehlt in den „Gesammelten Werken“.

196 Gemeint ist die Abhandlung: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, Berlin 1913.

197 Siehe Rosa Luxemburg im Kampf gegen den deutschen Militarismus. Prozeßberichte und Materialien aus den Jahren 1913-1915, Berlin [DDR], 1960. S.38. Der Text der Reden ist nicht mehr erhalten.

198 Im Originaltext Paul Levis folgt hier ein Zitat aus: Ein neu Lied Herr Ulrichs von Hutten, siehe: Ulrich von Hutten, Werke. Hrsg, von E. Böcking, 5 Bde., Leipzig 1859-1870. Bd.2, S.99-100.

Mehr zum Thema