Von Kobane nach Afrin: Kurdischer Widerstand im blutigen Spiel der Mächte
Nach tagelangem Artilleriebeschuss und Luftangriffen hat das türkische Militär im kurdischen Kanton Afrin in Syrien eine Bodenoffensive mit dem Namen „Operation Olivenzweig“ begonnen. Auf dem Höhepunkt seiner Macht im Inneren versucht Erdogan die Rolle der Türkei als Regionalmacht auszubauen.
Diesmal ist Afrin die Zielscheibe Erdoğans. Der kurdische Kanton in Nordsyrien befindet sich seit 2012 unter der Kontrolle von PYD (Partei der Demokratischen Union) und YPG/YPJ (Volksverteidigungseinheiten) und ist einer der drei Kantone des autonomen Gebiets Rojava (Demokratische Föderation Nordsyrien).
Mit der Ankündigung der „Operation Olivenzweig“ begann eine massive militärische Aktivität an der syrischen Grenze. Panzer, Truppen und Artillerie wurden an der Grenze stationiert. Seit Tagen kommt es zu Angriffen seitens des türkischen Militärs und Rebellengruppen wie Dschaisch al-Fatah und turkmenisch-dschihadistischen Gruppen. Türkische Kampfjets bombardieren kurdische Dörfer und Stellungen der YPG, bei denen bisher nach Meldungen aus der Region dutzende Zivilist*innen ums Leben gekommen sind. Auf die Meldungen, dass die türkische Bodenoffensive vorangeschritten sei, antwortet die YPG mit klaren Worten: „Weder die türkische Armee noch die mit ihr verbündeten Gruppen haben es geschafft nach Afrin vorzudringen. Am 21. Januar um 8 Uhr kam es bei dem Versuch türkischer Truppen, die Grenze zu überschreiten, zu Gefechten mit unseren Kräften. Die türkische Armee musste sich aufgrund unseres Widerstandes zurückziehen.“
Hingegen behauptet Erdoğan: „Die Terrororganisation flüchtet aus Afrin. Sie werden flüchten und wir werden jagen.“ Er geht davon aus, das türkische Militär könne die Region in einer Woche erobern. Zu den „neun Zielen der Operation“ gehört unter anderem die mittelfristige Zielsetzung „das Leben in Manbitsch zu normalisieren“, d.h. die Eroberung zu organisieren.
Die nationalistische Einheit unter Ausnahmezustand im gesamten Land
Der Ausnahmezustand wurde eineinhalb Jahre nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 zum sechsten Mal um weitere drei Monate verlängert. Nach wie vor regiert Staatspräsident Erdoğan mit Dekreten das Land. Die Repression gegen Oppositionelle hat nicht im Geringsten abgenommen. Legitim gewählte Abgeordnete der HDP sind immer noch im Gefängnis. Die Eingriffe in die Presse- und Meinungsfreiheit werden begleitet durch Verhaftungen und Schließungen von Zeitungsredaktionen. Die neoliberale Offensive schreitet dermaßen voran, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Hungergrenze leben müssen. Die Statistiken bezüglich der Armutsgrenze sind drastischer: Mehr als 50 Prozent der gesamten Bevölkerung lebt in Armut. Die Arbeitslosenquote liegt bei 10,3 Prozent. Unter den Jugendlichen zwischen 15 bis 24 liegt die Arbeitslosigkeit bei 19,1 Prozent. Nach offiziellen Angaben des Arbeitsschutzrats starben im Jahr 2017 täglich fünf Arbeiter*innen im Durchschnitt. Die Regierung versucht ihre Wirtschaft auf den Leichen der Arbeiter*innen wieder aufzubauen.
Die Massen werden von diesem Zustand damit abgelenkt, die nationale Einheit gegen Kurdistan zu verteidigen. Die Entstehung der türkischen Bourgeoisie und der türkischen Republik basiert auf dem Genozid an Armenier*innen und Pontosgriech*innen und der Konfiszierung deren Vermögen. Hingegen ermöglichte die innere Kolonialisierung Nordkurdistans dem türkischen Staat einerseits mit chauvinistischer Propaganda und Praxis die Arbeiter*innenklasse zu spalten. Andererseits konnte die türkische Bourgeoisie die kurdischen Ressourcen ausplündern. Das kurdische Volk und ihre politische Vertreter*innen sind also die natürlichen Feinde des Staates. Heute berichten weitgehend alle Zeitungen vom „heroischen Auftakt“ der türkischen Armee und die bürgerlichen Parteien stehen vereint hinter der Invasion Rojavas. Sie rühmen den Angriff und versuchen ihn in den Augen der Bevölkerung zu legitimieren. Wer sich gegen den Angriff stellt, wird als Verräter*in diffamiert.
Die systematische Repression von Gewerkschaften, Zeitungen, Vereinen, Akademiker*innen und Aktivist*innen und die Anschläge des Daesh haben die Massen dermaßen eingeschüchtert, dass nur noch ein bescheidener Teil der Gesellschaft öffentlich das Erdoğan-Regime verurteilt. Unter dem Ausnahmezustand hat er zunächst das Referendum zum Präsidialsystem gewonnen, nun will er die Präsidentschaftswahlen mithilfe des Ausnahmezustands gewinnen. Andersrum würden die bisher seit Sommer 2016 erlassenen Dekrete ihre Gültigkeit verlieren – und das würde er nicht überleben. Die militärische Offensive in Afrin ist also ein Versuch, die türkische Bourgeoisie hinter seinem außenpolitischen Kurs zu vereinen und ihr den Weg nach Syrien zu eröffnen. Das Ziel der Türkei ist, weitere kurdische Gebiete in Nordsyrien zu erobern und ein zusammenhängendes kurdisches Territorium in Nordsyrien zu verhindern. Der erster Schritt in diese Richtung erfolgte im August 2016 mit der Eroberung der strategischen Ziele Dscharabulus und Al-Bab durch Erdoğans ersten Feldzug gegen Rojava. Zwei Städte, die die Kantone Afrin und Manbitsch voneinander trennten und unter der Kontrolle der SDF waren.
Stellvertreter*innenkrieg in Syrien: Geopolitische Manöver
Die Investitionen Erdoğans in den Bürger*innenkrieg in Syrien sind immens, er kann sie jedoch ohne Errungenschaften nicht aufgeben. Seine aggressive Außenpolitik fußt auf dieser Grundlage. Ein Versuch, mit Hilfe dschihadistisch-turkmenischer Milizen ein Gegengewicht in der Region aufzubauen, geschieht auf Kosten einer massiven Verschuldung. Außerdem isolierte sich Erdoğan geopolitisch, als seine Verbündeten in Syrien Niederlage erlitten. Weder dem Block um die USA und Saudi-Arabien noch dem Block um Russland und Iran konnte sich die Türkei fest zuordnen und war letztlich gezwungen, weitgehende Kompromisse einzugehen: Von einem Regimewechsel in Syrien ist nicht mehr die Rede. Stattdessen konnten sich die Türkei, der Iran und Russland darauf einigen, einen dauerhaften Waffenstillstand und den Beginn der Normalisierung Syriens einzuleiten. Doch die Präsenz der kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Nordsyrien nutzt Erdoğan gelegentlich, um die Isolation zu durchbrechen. Diesen Kurs begründet er mit der Sicherung der Staatsgrenzen.
Diese Sicherung wird von turkmenisch-dschihadistischen Teilen der syrischen Rebellen übernommen. Sie wurden von der Ankara ausgerüstet, trainiert und warten auf die Befehle des türkischen Militärs. Auch bei der Eroberung von Dscharabulus und Al-Bab spielten sie eine große Rolle. Nachdem die USA angefangen hatten, stärker mit den SDF zu kooperieren, eröffnete sich für die Türkei die Möglichkeit, unter ihnen mehr Einfluss zu erlangen.
Die USA hatten in der vergangenen Woche angekündigt, eine neue Grenztruppe in Nordsyrien aufzubauen, zu der die Syrischen Demokratischen Kräfte gehören sollten. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte den Medien, dass nicht die Rede davon sein kann, jemals „die Bildung einer Terrorarmee“ direkt südlich ihrer Grenzen zu akzeptieren. Im selben Atemzug kritisierten Syrien und Russland die Pläne der USA scharf.
Einige hundert russische Truppen waren im südöstlichen Teil Afrins stationiert, bis sie zum Beginn der Operation „Olivenzweig“ von Moskau zurückgezogen wurden. So sollten angeblich mögliche Provokationen verhindert werden – besonders weil syrische Regierungstruppen unterstützt durch Russland und Iran in der nordwestlichen Provinz Idlib gegen die von der Türkei geförderte Fateh-al-Scham-Front eine Offensive eröffnet hatten.
In Idlib wurde zuvor in Verhandlungen zwischen der Türkei, Russlands und dem Iran eine Deeskalationszone eingerichtet. Eine Waffenruhe zwischen Rebellen und Regierungstruppen wurde vorgesehen. Allerdings war dort bisher die Fateh-al-Scham-Front stationiert. Die neue Offensive in Idlib hat die Anspannungen zwischen dem Block um Russland und den Iran und der Türkei verschärft. Die Invasion Afrins seitens der Türkei kann Russland allerdings tolerieren, solange in Idlib die Regierungstruppen voranschreiten. Daher vermeiden sie einen Konflikt mit einem aggressiven Erdoğan in Afrin.
Die Position der USA wiederum besteht darin, abzuwarten und die Offensive zu tolerieren. Die Kosten der Invasion des Iraks 2003 waren für die USA dermaßen hoch, dass ihre Psychologie und weiteren Interventionsmöglichkeiten erschöpft sind. Sie sind nicht bereit, in eine Sackgasse zu manövrieren und die strategische Partnerschaft mit der Türkei gegenüber den kurdischen Streitkräften aufzugeben. Die Effektivität der kurdischen Milizen wurde hauptsächlich im Kampf gegen den Dschihadismus benötigt, um den Einfluss auf den Stellvertreter*innenkrieg beizubehalten. Zudem sind vor Ort keine US-Truppen stationiert. Selbst wenn die USA zum jetzigen Zeitpunkt eingreifen wollen würde, der Shut-Down der US-Administration macht Washington manövrierunfähig.
Die Aggression Erdoğans enthält zwei Botschaften: an die USA, er sei der bestmögliche Verbündete des Weißen Hauses in der Region. An Russland und Iran, dass er den Verhandlungstisch über die Zukunft Syriens nicht ohne Gewinne verlassen wird.
Die Bundesregierung paktiert mit Erdoğan
Während die militärische Offensive der Türkei voranschreitet, will Deutschland die Beziehungen mit der Türkei weiter entspannen. Letzte Woche trafen sich der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel und der türkische Außenminister Çavuşoğlu, um den Konflikt zu entschärfen. Die Bundesregierung will die Modernisierung türkischer Leopard-Panzer durch den deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall genehmigen lassen.
Diese Panzer werden gerade in der Offensive gegen Afrin und die kurdischen Gebiete eingesetzt. Die deutsche Regierung trägt damit eine direkte Verantwortung bei der Zerstörung kurdischer Dörfer und der Ermordung von Zivilist*innen in Rojava. Erdoğans repressive Hand reicht aber bis in die Innenpolitik Deutschlands. So verfolgt die deutsche Regierung kurdische Aktivist*innen und greift kurdische Organisationen gezielt auf Demonstrationen an. Die Erklärung des Auswertigen Amtes bezüglich der angekündigten Offensive ist auch dementsprechend: Es sei klar, dass die Türkei ihre „legitime Sicherheitsinteressen“ entlang ihrer Grenzen zu Syrien habe.
Der Bonapartismus Erdoğans lässt sich nicht reformieren
Mit den Befugnissen des Ausnahmezustandes und nationalistischen Mobilisierungen unterdrückt Erdoğan jegliche Opposition in Inneren, die dem Krieg gegen das kurdische Volk zu widerstehen versucht. Auf die Initiativen der HDP, Kundgebungen und Pressekonferenzen dagegen zu organisieren, antwortet die türkische Polizei mit brutaler Gewalt und Festnahmen. In den Moscheen beten die Imame für eine siegreiche türkische Offensive. Selbst die größten Fußballvereine aus Istanbul twitterten zugunsten der „Operation Olivenzweig“.
Hingegen wurde in Afrin die Generalmobilmachung ausgerufen, um die Heimat zu verteidigen. In der Erklärung der Selbstverwaltung heißt es: „Wir rufen alle Menschen in Kurdistan und internationale Menschenrechtsorganisationen dazu auf, den Kampf der Menschen in Afrin zu unterstützen.” In Afrin rufen die Massen auf Großdemonstrationen: „Eure Artillerie kann uns nicht einschüchtern“ und „Wir werden unser Land nicht verlassen“.
Heute steht das Schicksal von Rojava erneut auf der Probe. Zuletzt war es 2014 der Vormarsch von Daesh auf Kobane, heute geht es um die Verteidigung Afrins gegen die türkische Invasion. In der Situation des Stellvertreter*innenkrieges in Syrien, in dem der Imperialismus und die Regionalmächte barbarische Manöver auf den Leichen der verarmten Massen abhalten, gewinnt der Befreiungskampf in Rojava erneut an Bedeutung.
Dennoch ist die verhaltene Reaktion der westlichen Imperialismen und der Regionalmächte gegenüber Erdoğan eine politische Niederlage für die kurdische Bewegung. Der harmonische Umgang mit Russland und USA geschah hauptsächlich aus Interessen der militärischen Errungenschaften, also um Rojava zu schützen. Viele sahen in ihnen die alten Verbündeten im Kampf gegen die Reaktion zu sehen. Afrin ist aufgrund der Kriegserfahrungen auf die militärische Auseinandersetzung vorbereitet. Es ist möglich, dass das kurdische Volk nach dem Daesh auch Erdoğan in die Knie zwingt.
Dennoch kann Rojava auf Dauer diesem Druck nicht standhalten, weil die Befreiung aus der nationalen Unterdrückung niemals in friedlicher Ko-Existenz mit dem Imperialismus erreicht werden kann. Vor allem nicht in einem einzigen Teil des besetzten Kurdistans. Der Imperialismus plündert die Region aus, teilt sie auf und trägt die Hauptverantwortung für die Tragödie des Nahen Osten sowie des Scheitern des Arabischen Frühlings. Die aggressive Militäroffensive Erdoğans stößt deshalb innenpolitisch kaum auf Widerstand, weil er die Opposition und die Gewerkschaften einschüchtern konnte.
Doch die wirtschaftliche Instabilität der Türkei ermöglicht keinen langanhaltenden Krieg. Die Menschen unterhalb der Armutsgrenze, die arbeitslose Jugend und die in tagtäglicher Lebensgefahr arbeitenden Massen können die nationalistische Propaganda Erdoğans nicht mehr aushalten, sobald die Moral das Brot ersetzt. Darauf soll die kurdische Bewegung in Allianz mit den türkischen Arbeiter*innen und Linken bauen. Eine Einheitsfront gegen den Krieg und den Ausnahmezustand. Für Brot, Arbeit und Freiheit.