Von Hanoi nach Havanna
// Wohin geht Kuba? Eine marxistische Analsyse der Perspektiven für die „sozialistische Insel“ – Broschüre Nr. 9 //
Kuba wirkt wie ein Anachronismus in der heutigen Welt. Andere ehemals „sozialistische“ Staaten führten den Kapitalismus während der Umwälzungen der 1990er Jahre wieder ein. In Russland wurde die Kommunistische Partei gestürzt und ihr System brach zusammen. In China und Vietnam waren es die Kommunistischen Parteien selbst, die einen kontrollierten Reformprozess zur Wiederherstellung einer Marktwirtschaft durchführten. Nur Kuba hat bis heute eine Wirtschaft aufrechterhalten, die nicht den Gesetzen des Marktes, sondern einem Plan unterworfen ist[1].
Die Kommunistische Partei Kubas (PCC) konnte ihr System durch die Einführung von Marktmechanismen retten, die die soziale Ungleichheit vergrößern und die wirtschaftliche Planung untergraben. Deswegen steht Kuba am Scheideweg: der „Statuts Quo“ stellt ein instabiles Gleichgewicht dar, das nicht ewig lang aufrechterhalten werden kann. Qualitative Änderungen stehen am Horizont. Wird Kuba eine chaotische Wiedereinführung des Kapitalismus wie in Russland erleben? Oder eine kontrollierte Restauration wie in China und Vietnam? Wird Kuba ein „Anachronismus“ bleiben? Oder wird es einen ganz anderen Weg einschlagen?
Dieses Dokument untersucht die Perspektiven für Kuba und entwickelt eine programmatische Antwort aus einer revolutionär-marxistischen Perspektive. Diese Analyse stützt sich stark auf Arbeit von verschiedenen trotzkistischen Strömungen – am Ende werden wir unsere Positionen zur innertrotzkistischen Debatte vorstellen. Wir glauben, dass die Entwicklung Kubas eine große Bedeutung für den Klassenkampf in Lateinamerika und weltweit haben wird. Wir wollen zur Debatte über diese Entwicklung beitragen, und laden alle Linken dazu ein, mit uns darüber zu diskutieren.
Kuba heute
Im Jahr 2008 blieb Kuba ein armes Land mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von etwa US$9,500 – rund ein Fünftel des Wertes der USA (US$47,000). Doch in Bereichen wie Gesundheit und Bildung kann Kuba mit dem großen Nachbarn im Norden mithalten: die Kindersterblichkeitsrate beträgt 5,82 pro Tausend (im Vergleich zu 6,26 in den USA) und die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 77,45 Jahre (im Vergleich zu 78,11 in den USA). Die Alphabetisierungsrate liegt bei 99,8%, leicht über der Rate der USA. Diese Statistiken sind noch beeindruckender im Vergleich zu Kubas Nachbarn in der Karibik: zum Beispiel auf Haiti beträgt die Kindersterblichkeit 59,59 – zehnmal höher als auf Kuba!
Diese Zahlen können nur durch die Planwirtschaft erklärt werden, die die Bevölkerung nicht vollständig der Anarchie des Marktes aussetzt (wie es bei allen anderen Wirtschaften dieser Hemisphäre der Fall ist). Obwohl Reformen in den 1990er Jahren marktwirtschaftliche Sektoren der Wirtschaften wachsen ließen, sind immer noch 78% der ArbeiterInnen auf Kuba beim Staat beschäftigt[2] (auch wenn in naher Zukunft bis zu einer Million Staatsangestellte entlassen werden[3]). Privateigentum ist massiv eingeschränkt – auf Kuba gibt es keine soziale Klasse, die die Produktionsmittel besitzt, d.h. keine Bourgeoisie – und der Großteil des Außenhandels läuft unter einem staatlichen Monopol. Große Teile der Wirtschaft sind von den Diktaten des Marktes und dem kapitalistischen Wertgesetz befreit.
Die kubanische Revolution
Kuba stand historisch unter imperialistischer Vorherrschaft, zuerst als Kolonie Spaniens und dann als Halb-Kolonie der USA. Die Insel gewann 1902 die Unabhängigkeit, doch die kubanische Verfassung beinhaltete bis 1934 einen Artikel, der den USA das Recht auf jederzeitige militärische Intervention gewährte. Die politische Macht des US-Imperialismus hatte eine wirtschaftliche Grundlage, denn US-Unternehmen besaßen einen Großteil des Bodens und der Industrie Kubas. Zum Beispiel besaß das US-Kapital 35% der Zuckerproduktion sowie unzählige Hotels und Casinos, während der Rest der Wirtschaft einer kleinen und sklavisch pro-imperialistischen kubanischen Bourgeoisie gehörte[4].
Durch diese Zustände verharrte die kubanischen Bevölkerung, vor allem auf dem Land, in Armut und Unbildung. Als es 1952 so aussah, als würde die Orthodoxe Partei die Präsidentschaftswahlen gewinnen, mit einem Programm für soziale Reformen und eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit, etablierte das kubanische Militär mit Unterstützung der USA eine Diktatur unter Batista. Kuba gewann eine wirkliche Unabhängigkeit erst durch die Revolution von 1959.
Die kubanische Revolution wurde durch eine Guerilla-Bewegung unter der Führung Fidel Castros geführt, eines Anwalts, der versucht hatte, die Batista-Diktatur vor Gericht anzuklagen, bevor er mit dem Angriff auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 den bewaffneten Kampf aufnahm. Castros Bewegung des 26. Juli (M-26-J) stellte eine Koalition verschiedener Klassen dar: kleinbürgerliche Bauern/Bäuerinnen, ländliche HalbproletarierInnen, bürgerliche Intellektuelle und einige ArbeiterInnen. Ihre wichtigste Basis war, wie es bei jeder Guerilla-Armee der Fall ist, die arme und landlose Bauernschaft. Aufgrund dessen hatte die Bewegung keine klare Ideologie oder ein politisches Programm – die M-26-J hatte nicht mal eine einzige Konferenz, um ihre Politik festzulegen. Die chaotische Organisation gab der Führung eine weitreichende Autonomie von der Basis: Entscheidungen wurden durch Dekrete der Führung statt durch demokratische Entscheidungsfindung der Mitgliedschaft getroffen.
Das Ziel der Guerilla, wie sie das im „Manifest der Sierra Maestra“ aus dem Jahr 1957 darlegte, war „das schöne Ideal eines freien, demokratischen und gerechten Kubas“[5]. Sie forderten die USA auf, keine Waffen an die kubanische Diktatur zu verkaufen, weil diese die Menschenrechte verletzte. Obwohl einige AktivistInnen aus dem innerem Kreis von Castro Sympathien für den Stalinismus hatten (wie sein Bruder Raúl oder Ernesto „Che“ Guevara), kämpfte die Guerilla nicht für eine soziale Revolution. Ihre Ziele waren fortschrittlich – etwa der Kampf gegen Analphabetismus und Arbeitslosigkeit, die Schaffung einer parlamentarischen Demokratie, die Entwicklung der Industrie und v.a. eine Landreform – doch sie gingen nicht über den Rahmen des Kapitalismus hinaus.
Der Zusammenbruch der Diktatur ist nicht ausschließlich auf die Aktivitäten der Guerilla zurückzuführen, deren paar tausend KämpferInnen zahlenmäßig und waffentechnisch der Armee von Batista massiv unterlegen waren. Es war ein Generalstreik der kubanischen ArbeiterInnen, der Batista letztlich zwang, zu Silvester 1958 aus dem Land zu fliehen[6]. Dadurch entstand ein Machtvakuum, das durch die kleine, aber gut organisierte M-26-J bei ihrem Einmarsch in Havanna acht Tage nach Batistas Flucht gefüllt wurde.
Von Olivgrün zu Rot
Als die Guerilla an die Macht kam, basierte ihr Programm auf der utopischen Vision eines unabhängigen kubanischen Kapitalismus, mit einer Landreform, um armen Bauern/Bäuerinnen Land zu geben und den Einfluss der USA in der Landwirtschaft zu senken. Castro hat bekanntlich gesagt, dass die Revolution „nicht rot, sondern olivgrün“ sei, und als er die USA im April 1959 besuchte, ging er noch weiter: „Ich habe klar und deutlich gesagt, dass wir keine Kommunisten sind. Die Türen sind offen für private Investitionen, die der Entwicklung der Industrie auf Kuba dienen. Es ist absolut unmöglich für uns, Fortschritte zu machen, wenn wir uns nicht mit den USA verständigen.“[7]
Das Castro-Regime hatte keine andere Wahl als eine Landreform durchzusetzen – sonst hätte es seine Unterstützung unter den Bauern/Bäuerinnen verloren. Die Reform, die im Mai 1959 verabschiedet wurde, war gemäßigt in dem Sinne, dass sie großzügige Entschädigungen für ehemalige LandbesitzerInnen anbot. Doch der US-Imperialismus konnte keine Schritte in Richtung größerer Unabhängigkeit seitens seiner de facto-Kolonie in der Karibik hinnehmen, und forderte die sofortige Auszahlung der Entschädigungen – was natürlich für den verarmten kubanischen Staat unmöglich war.
Die neue kubanische Führung versuchte, zwischen den imperialistischen und einheimischen KapitalistInnen auf der einen Seite und den ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen auf der anderen Seite zu balancieren. Zum Beispiel ging die M-26-J während des Jahres 1959 gegen die kubanische stalinistische Partei, die Sozialistische Volkspartei (PSP), vor und denunzierte sie als „antirevolutionär“, weil sie Streiks für höhere Löhne organisierte[8]. Indem sie die verschiedenen Klassen gegeneinander ausspielte, konnten die zentrale Führung und vor allem Castro als „líder máximo“ immer mehr Macht in ihren eigenen Händen konzentrieren.
Am Ende war dieser Balanceakt unmöglich, da der US-Imperialismus nicht weniger als die vollständige Unterwerfung forderte. Im Kontext des Kalten Krieges war das Castro-Regime gezwungen, Handelsverträge mit der Sowjetunion für die Lieferung von Öl abzuschließen – und US-Raffinieren auf Kuba verweigerten die Verarbeitung. Die kubanische Regierung verstaatlichte die Raffinieren, was die Blockade von venezolanischem Öl nach sich zog und Kuba zwang, all sein Öl aus der UdSSR zu importieren. Die Weigerung der USA, die wichtige Zuckerernte zu kaufen, führte zu weiteren Handelsabkommen mit der UdSSR und China.
Ab Sommer 1960 wurden große Teile der kubanischen Wirtschaft verstaatlicht. Bis Ende 1960 war 80% der Industrie in den Händen des Staates[9]. Nur die Unnachgiebigkeit des US-Imperialismus – mit der von den USA unterstützten Invasion im April 1961 als Höhepunkt –, zusammen mit der Tatsache, dass die arbeitenden Massen Kubas mobilisiert und teilweise bewaffnet waren, trieb die Castro-Führung in die Arme der Sowjetbürokratie. Als die Regierung nach und nach US-amerikanisches und kubanisches Kapital enteignete, flohen die kubanische Bourgeoisie und ihre AgentInnen massenhaft nach Miami.
Die M-26-J wurde mit der bestehenden stalinistischen Partei auf Kuba, der PSP, fusioniert. Die fusionierte Organisation wurde nach und nach in eine stalinistische Partei nach dem Vorbild der Kommunistischen Partei der Sowjetunion umgebildet. Diese Partei hatte den Kapitalismus ohne eine aktive, bewusste, führende Rolle der ArbeiterInnenklasse abgeschafft. Die Enteignungen wurden per Dekret durchgeführt, nachdem das Proletariat in den stalinistischen Massenorganisationen bürokratisch atomisiert und jegliche Opposition unterdrückt worden war. Die Abschaffung des Kapitalismus ohne ArbeiterInnenrevolution war nur möglich aufgrund der Existenz von stalinistischen Staaten in großen Teilen der Welt[10].
Die kubanische Revolution begann im Jahr 1917…
Die kubanische Revolution begann 1917 mit der Oktoberrevolution in Russland. Während des ersten imperialistischen Weltkriegs stürzte die russische ArbeiterInnenklasse gemeinsam mit der armen Bauernschaft nicht nur die Zarenmonarchie, sondern zerbrach auch die Macht der besitzenden Klassen. Angeführt von einer revolutionären ArbeiterInnenpartei, bekannt als die Bolschewiki, führten die ArbeiterInnen- und Bauern/Bäuerinnenräte eine Landreform durch, ohne Entschädigungen für die ehemaligen BesitzerInnen und vergesellschafteten die Industrie unter ArbeiterInnenkontrolle.
Es war eine unglaublich dynamische und lebendige Bewegung. Die Politik wurde in den Räten (genannt „Sowjets“) und auch in den bolschewistischen Parteikomitees heiß diskutiert. Die Einheit in der Aktion basierte auf Freiheit in der Diskussion und demokratischer Entscheidungsfindung.
In einem langen und blutigen Bürgerkrieg verteidigte die russische ArbeiterInnenklasse ihre Revolution – immer in der Hoffnung auf Rettung in Gestalt von sozialistischen Revolutionen in anderen Ländern. Aber die benötigte Hilfe kam nicht: Die deutsche Revolution wurde von den SozialdemokratInnen verraten und im Blut ertränkt, und die ungarische Räterepublik wurde zerschlagen.
Die Isolation der Sowjetunion hatte drastische Folgen. Die Bürokratie der bolschewistischen Partei und des sowjetischen Staates befreite sich mehr und mehr von jedweder demokratischen Kontrolle. Diese Entwicklung kennzeichnete eine politische Konterrevolution, welche die ArbeiterInnenklasse und ihre Räte von der Macht ausschloss. Die UdSSR wurde kein ArbeiterInnenstaat im Übergang zum Sozialismus, sondern ein degenerierter ArbeiterInnenstaat, in welchem dieser Übergang von der Bürokratie blockiert wurde.
Das reaktionäre Regime, das von der Bürokratie unter Stalin aufgebaut wurde, war eine besondere Form des Bonapartismus. Bonapartismus beschreibt einen Staatsapparat, der zwischen den Klassen balanciert, wenn keine Klasse stark genug ist, ihre Herrschaft vollständig durchzusetzen. Auf diesem Weg scheint der Staat sich über die miteinander kämpfenden Klassen zu erheben und baut den Repressionsapparat massiv aus, um so die arbeitenden Massen zu disziplinieren.
Ein wichtiger Anführer der Opposition gegen den Stalinismus, Leo Trotzki, beschrieb Stalins Regime als „Sowjet- (oder besser gesagt: anti-Sowjet-) Bonapartismus“[1], denn die Sowjetbürokratie balancierte zwischen der ArbeiterInnenklasse, den Bauern/Bäuerinnen und dem Weltimperialismus. Trotzkis Analogie zum bürgerlichen Bonapartismus bezog sich dabei nicht auf den „klassischen“ Bonapartismus von Louis Bonaparte, welcher in Perioden der kapitalistischen Krise auftritt (zum Beispiel die Schleicher-Regierung in der Weimarer Republik oder die Pilsudski-Diktatur in Polen). Vielmehr bezog sich diese Analogie auf den jungen, offensiven Bonapartismus aus der Aufstiegsperiode der Bourgeoisie, d.h. unter Napoleon Bonaparte.
Das Napoleonische Regime entstand aus der Reaktion in der Französischen Revolution und kämpfte einerseits gegen die Interessen der städtischen Armen und des demokratischen KleinbürgerInnentums, aber andererseits auch gegen die Überreste des Feudalismus. Napoleons Regime musste, während es die politischen Institutionen der Revolution abschaffte, zugleich deren Errungenschaften bezüglich der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse verteidigen – es verbreitete diese Errungenschaften sogar in Europa, mit der Spitze der Bajonette.
In einer ähnlichen Weise war die stalinistische Bürokratie gezwungen, die Errungenschaften der Oktoberrevolution zu verteidigen, vor allem die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Aber sie verteidigte sie im Interesse einer parasitären bürokratischen Kaste, nicht im Interesse der internationalen ArbeiterInnenklasse.
Die politische Konterrevolution des Stalinismus war die Saat für eine soziale Konterrevolution (d.h. die Restauration des Kapitalismus), die etwa 60 Jahr später kam. Innerhalb der bürokratischen Kaste gab es immer eine starke Tendenz zur Restauration. Gorbatschows Reformen untergruben die Planwirtschaft und Jelzins Regime schaffte sie ab. Auf diese Weise konnte der Kapitalismus die Ernte der stalinistischen Reaktion einfahren.
[1]. Leon Trotsky: „The Workers’ State, Thermidor and Bonapartism“.
Kubanischer Bonapartismus
Kuba war nie eine sozialistische Gesellschaft, in der die ArbeiterInnenklasse die Produktionsmittel demokratisch verwaltet. Kuba hat noch nie irgendeine Art von proletarischer Demokratie gehabt: keine Art von ArbeiterInnen- und Bauern/Bäuerinnenräten, mit gewählten und abwählbaren Delegierten, wie im Sowjetsystem, das durch die Oktoberrevolution in Russland etabliert und später durch die stalinistische Konterrevolution in den 1920er/30er Jahren zerstört wurde. Die kubanische Bürokratie hatte es nicht nötig, eine politische Konterrevolution durchzuführen, um Organe der proletarischen Demokratie zu zerstören, da solche Organe einfach nicht existierten: von Anfang an stützte sie sich auf den (bürgerlich-)bonapartistischen Staatsapparat, der vor der Enteignung der Bourgeoisie etabliert wurde. „Castro, der im Jahr 1959 ein Bonaparte für die geschwächte kubanische Bourgeoisie war, war bis 1962 ein Bonaparte ‚für‘ die politisch enteignete kubanische ArbeiterInnenklasse.“[11]
Auf Kuba gab es, im Vergleich zum Rest des „sozialistischen Blocks“, nie besonders viel Repression gegen die Bevölkerung – es gab nie Panzer auf den Straßen, um einen Volksaufstand niederzuschlagen, wie in der Tschechoslowakei 1968 oder in Polen 1981, und es gab nie ein ausgeprägtes Gulag-System wie in Stalins Sowjetunion. Im Vergleich zu anderen stalinistischen Führungen genießen die Castro-Brüder, wegen deren Rolle im Unabhängigkeitskampf, Legitimität in großen Schichten der Bevölkerung. Doch die stalinistische Grundlage des Systems wurde erst vor kurzem wieder deutlich, als zwei Politiker der „jungen Generation“, Felipe Pérez Roque und Carlos Lage, aus allen Führungspositionen entfernt wurden – unerwartet, ohne vorherige Diskussion in der Partei[12].
Ein noch dramatischeres Beispiel war der Fall von Esteban Morales, einem Forscher am Zentrum für Hemisphärische und US-Studien an der Universität von Havanna und ein regelmäßiger Kommentator für offizielle kubanische Zeitungen und Nachrichtensendungen. In einem Artikel, der im April 2010 auf der Webseite der Union der SchriftstellerInnen und KünstlerInnen Kubas (UNEAC) veröffentlicht wurde, fragte er, ob Korruption „die wahre Konterrevolution“ sei: „Bei genauer Betrachtung der heutigen inneren Situation Kubas können wir keine Zweifel daran haben, dass die Konterrevolution, Stück für Stück, gewisse Positionen im Staat und der Regierung einnimmt (…) Ohne Zweifel wird es immer offensichtlicher, dass es Leute in Regierungs- und Staatspositionen gibt, die sich finanziell für den Fall des Scheiterns der Revolution wappnen. Andere haben vielleicht schon alles vorbereitet für den Transfer von Staatsgeldern in private Hände, wie es in der alten UdSSR geschah.“[13] Trotz der Tatsache, dass er die Bürokratie selbst nicht angriff und seine Kritik auf die korruptesten Elemente in ihr beschränkte, wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und aus den Medien gesperrt. Dieses Beispiel zeigt, wie wenig Hoffnung für eine Selbstreform der kubanischen Bürokratie in Richtung Sozialismus existiert.
Wie zu Zeiten der Guerilla hat die kubanische Führung bis heute eine große Autonomie von der Bevölkerung und selbst von den eigenen Partei- und Staatsstrukturen. Ein Beispiel dafür ist die „Gruppe zur Unterstützung des Kommandanten“, die Fidels private politische Partei war, komplett außerhalb der Strukturen der PCC (Dies ist eine Kleinversion von China unter Mao, wo die maoistische Führung ebenfalls aus einem auf die Bauernschaft gestützten Guerillakrieg hervorgegangen war und relativ autonom von anderen Teilen der herrschenden Bürokratie manövrieren konnte)[14].
Formell demokratische Institutionen wie die „Versammlung der Volksmacht“, nach dem Vorbild eines bürgerlichen Parlaments, wurden erst durch die Verfassung von 1976 geschaffen, d.h. mehr als 15 Jahre nach der Revolution! Es gibt Versammlungen, die die KandidatInnen für dieses Parlament auswählen, die einen großen Teil der Bevölkerung einbinden. Doch in diesen Versammlungen gibt es keine Kampagnen, keine politischen Programme und vor allem keine politischen Parteien oder Organisationen (selbst der PCC ist es nicht erlaubt, Wahlkampf zu machen). Studien zeigen, dass die Mehrheit der KubanerInnen die KandidatInnen aufgrund von Kriterien wie „Ehrlichkeit“ auswählen – doch leider können auch „ehrliche“ Leute die Wiedereinführung des Kapitalismus unterstützten. In diesem Rahmen hält die Kommunistische Partei ihre inoffizielle Hegemonie aufrecht: 70% der KandidatInnen sind Mitglieder der PCC, obwohl diese nur 15% der Wahlberechtigten ausmachen[15].
Ein degenerierter ArbeiterInnenstaat
Kubas System passt zu Leo Trotzkis Analyse eines degenerierten ArbeiterInnenstaates: einer Gesellschaft, in der das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft worden ist (eine Voraussetzung für den Übergang zum Sozialismus), aber in der eine privilegierte Bürokratie alle politischen und wirtschaftlichen Institutionen kontrolliert und jegliche unabhängige Aktivität der Massen unterdrückt. Deswegen wird der Übergang zum Sozialismus – also das Absterben des Staates, weil die arbeitende Bevölkerung zunehmend alle Aufgaben der Verwaltung direkt übernimmt – blockiert. Und als Folge driftet das ganze System Richtung Kapitalismus zurück.
TrotzkistInnen in den 1980er Jahren definierten den degenerierten ArbeiterInnenstaat in Russland folgendermaßen: „Die Diktatur des Proletariats hat die paradoxe Form einer politischen Diktatur eines ‚bürgerlichen Staates ohne die Bourgeoisie‘ über das Proletariat angenommen. Sie hat die Form der Herrschaft einer politisch konterrevolutionären bonapartistischen Staatsmaschinerie angenommen, die noch auf den postkapitalistischen sozialen Grundlagen basierte, die von der Oktoberrevolution etabliert worden sind. Diese Staatsmaschinerie war noch das Organ eines ArbeiterInnenstaates, weil es diese revolutionären Eigentumsverhältnisse verteidigte. Doch sie verteidigte sie auf ihrer eigene Art und in ihren eigenen Interessen, um ihre Kastenprivilegien gegenüber der ArbeiterInnenklasse aufrechtzuerhalten.“[16] Der kubanische ArbeiterInnenstaat basiert auf bürokratischer Herrschaft und war damit von Anfang an degeneriert.
Die kubanische Revolution erlebte noch nicht mal Diskussionen über ArbeiterInnendemokratie. In den frühen Tagen der Revolution gab es Debatten darüber, wie die Produktivität der ArbeiterInnen zu erhöhen sei. Das Regime verwendete eine Mischung aus materiellen Anreizen, „moralischen Anreizen“ und Repression. Che Guevara trat bekanntlich für moralische Anreize ein (Aufrufe an die ArbeiterInnen, härter zu arbeiten, um die Sache des Sozialismus voranzutreiben) als Teil seiner Vorstellung von einem „neuen Menschen“. Doch bei dieser Debatte wurde die ArbeiterInnendemokratie als Mittel, um die Produktivität durch die Verringerung von bürokratischer Verschwendung und Misswirtschaft zu steigern, nicht erwähnt. Guevara reagierte sogar persönlich auf die Kritik am Bürokratismus durch die kubanische trotzkistische Organisation mit der Unterdrückung dieser Partei[17]!
Der russische Revolutionär Leo Trotzki dagegen erklärte den unverzichtbaren Charakter der ArbeiterInnendemokratie in einer Planwirtschaft: „Die Interessen der ProduzentInnen und die Bedürfnisse der KonsumentInnen (…) können ihren Ausdruck nur durch eine blühende Demokratie der ProduzentInnen und KonsumentInnen finden. Demokratie ist in diesem Fall nicht irgendein abstraktes Prinzip. Sie ist der einzige denkbare Mechanismus, um das sozialistische Wirtschaftssystem vorzubereiten und im Leben umzusetzen.“[18] Das heißt, mit der Forderung nach ArbeiterInnendemokratie für Kuba geht es nicht einfach darum, das politische System „freundlicher“ zu gestalten, sondern im Wesentlichen darum, die Planwirtschaft funktionieren zu lassen.
Der Kapitalismus verwendet den Markt als einen sehr unpräzisen Mechanismus, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfassen (deswegen unpräzise, weil der Markt nicht die Bedürfnisse per se erfasst, sondern nur diejenigen Bedürfnisse, die auch bezahlt werden können). Doch in einer Planwirtschaft ist der einzige vergleichbare Mechanismus die demokratische Diskussion. Bürokratische Planung, die jegliche Diskussion und Kritik unterdrückt, ist zwangsläufig ineffektiv, weil die Bedürfnisse der Bevölkerung unbekannt bleiben – und das neben der Tatsache, dass die BürokratInnen ihre eigenen Statistiken fälschen!
Die „Sonderperiode“
Mitte der 1980er Jahre führte die kubanische Führung eine Kampagne der rectificación und Dezentralisierung durch. Gegen den Zeitgeist der Perestroika-Kampagne von Michael Gorbatschow gerichtet, hat dies möglicherweise die kubanische Wirtschaft vor dem kompletten Zerfall bewahrt, als der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe und damit auch ein großer Teil des kubanischen Außenhandels zusammenbrach[19]. Die Antwort darauf war die „Sonderperiode zu Friedenszeiten“, die am 26. Juli 1990 anfing. Bis 1993 war Kubas BIP um 30% gesunken – Ölimporte sogar um 70%[20].
Eine Verfassungsreform im Jahr 1992 erlaubte ausländische Investitionen auf der Insel, unter bestimmten Bedingungen. Diese joint ventures (empresas mixtas) werden vom kubanischen Staat und multinationalen Konzernen betrieben. Das erste solche Unternehmen wurde von einem Tourismuskonzern aus der ehemaligen Kolonialmacht Spanien aufgemacht – bis zum Jahr 2005 hatte Spanien die meisten joint ventures, nämlich 100[21].
Im Jahr 1993 wurden einige staatliche Farmen in Bauern/Bäuerinnengenossenschaften verwandelt und Kleinbetriebe wurden legalisiert. Bis zum Jahr 2001 gab es 150.000 Kleinbetriebe auf der Insel, die mit vielen Einschränkungen funktionieren: zum Beispiel darf ein paladar, ein kleines, privates Restaurant, nur 12 KundInnen gleichzeitig bedienen[22]. Dazu gibt es Schwarzmarktbetriebe aller Art, die Essen servieren, Souvenirs verkaufen, Videos verleihen oder tausend andere Arbeiten erledigen (Das schließt auch das verbreitete Phänomen Prostitution ein, das bis zum Jahr 1990 praktisch verschwunden war, aber mit dem Beginn der „Sonderperiode“ wieder erschien[23]). Beide Sektoren zusammen bilden einen bedeutenden, kleinbürgerlichen Teil der Wirtschaft.
Die Essensverteilung ist immer mehr privatisiert worden. Bis zum Jahr 1995 wurde sie fast ausschließlich vom Staat gewährleistet[24] – doch im Jahr 2000 wurde schon die Hälfte des Essens durch den privaten Sektor verteilt[25]. Jetzt reicht die staatliche Lebensmittelration für höchstens zwei Wochen im Monat – Diebstahl und Handel auf dem Schwarzmarkt sind damit eine Notwendigkeit für die Bevölkerung, um ihre elementaren Bedürfnisse zu befriedigen.
Ebenfalls im Jahr 1993 wurde der US-Dollar legalisiert. Um so viele Devisen wie möglich aufzusaugen, eröffnete der Staat Läden, die ausländische Produkte gegen Dollars verkauften. KubanerInnen konnten auf unterschiedlichem Wege an Dollars herankommen: durch Geldsendungen von Verwandten im Ausland, durch geschäftliche Beziehungen mit TouristInnen und auch durch Korruption. Ab 1994 zahlte der Staat Boni in Dollar an Staatsangestellte, neben dem normalen Lohn in Pesos. Bis zum Jahr 1999 profitierten etwa ein Drittel der ArbeiterInnen auf der Insel von diesen Boni[26]. Natürlich ist das weit entfernt von Che Guevaras Ideen über „moralische Anreize“!
Interessanterweise ist der Zucker nicht länger der König der kubanischen Wirtschaft. Im Jahr 2006 empfing Kuba zum ersten Mal zwei Millionen ausländische TouristInnen – dieser Sektor beschäftigt 80.000 ArbeiterInnen direkt und schätzungsweise weitere 200.000 indirekt[27]. Im Jahr 2000 brachte der Tourismus rund 1,9 Milliarden Dollar ein, während Exporte (einschließlich Zucker und Nickel) nur 1,5 Milliarden einbrachten[28]. Kubas Zuckerernte sinkt jetzt auf historische Tiefen, niedriger als irgendwann in den letzten hundert Jahren.
Stabilisierung
Kubas Wirtschaft erlebte eine gewisse Stabilisierung ab 1999, als Venezuela, im Tausch für kubanische Ärztinnen, billiges Öl zu liefern begann. Dies ermöglichte es der Regierung, die Wirtschaft zu „ent-dollarisieren“, mit der Einführung des konvertiblen Peso im Jahr 2004. Dennoch existieren bis heute zwei Währungen nebeneinander auf Kuba: der „normale“ Peso, mit dem Staatsangestellte bezahlt werden, und der konvertible Peso, an den Dollar gekoppelt, der durch Geldsendungen, den Tourismus usw. zu haben ist.
Reformen, die unter Raúl Castro durchgeführt wurden, erlauben es KubanerInnen inzwischen, Handys, Computer und DVD-Spieler mit konvertiblen Pesos in staatlichen Läden zu kaufen, außerdem dürfen sie in ausländischen Hotels übernachten, die bisher für KubanerInnen unzugänglich waren[29]. Wenn man bedenkt, dass einE kubanischeR ArbeiterIn etwa US$20 im Monat verdient, und ein DVD-Spieler US$100 oder mehr kostet, steht es außer Zweifel, dass die soziale Ungleichheit auf der Insel in den letzten Jahren gewachsen ist. In den letzten Jahren ist das BIP gestiegen, aber der durchschnittliche Lebensstandard nicht, d.h. die Kluft zwischen arm und reich wird größer. Konkret hat sich der Gini-Koeffizient, der soziale Ungleichheit in einem Land misst, zwischen 1986 und 1999 von 0,22 zu 0,41 fast verdoppelt[30].
Der ehemalige kubanische Wirtschaftsminister, José Luis Rodriguez Garcia, nannte die Marktmechanismen ein „Zugeständnis“ an die Marktwirtschaft, das „unausweichlich“ wäre, obwohl sie im Widerspruch zum Überleben des „revolutionären Projektes“ stehen. Für ihn war die Unausweichlichkeit ein Produkt von Löchern im Plan: diese Löcher, die automatisch vom (Schwarz-)Markt gefüllt werden würden, sollten zumindest der staatlichen Kontrolle unterstehen. Doch sein einziges Rezept, um das Überleben der Planwirtschaft zu sichern, waren die „politischen und moralischen Werte“ des kubanischen Volkes, statt irgendwelcher konkreten wirtschaftlichen oder politischen Strukturen[31]. Ähnlich setzen die „FreundInnen Kubas“ auf die Überzeugungen der Führung oder das Bewusstsein der Bevölkerung, obwohl die letzten Wirtschaftsreformen die Grundlagen für die Wiedereinführung des Kapitalismus legen.
Diese Reformen wurden von einigen MarxistInnen als vergleichbar zur „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP) in der Sowjetunion verteidigt, die nach dem BürgerInnenkrieg eingeführt wurden, um die Wirtschaft wieder in Gang zu setzen. Doch der private Sektor, der unter der NEP entstanden war, war unter strenger Kontrolle der Bürokratie des ArbeiterInnenstaates. Auf Kuba dagegen ist es die Bürokratie selbst, in erster Linie das Militär, die von den Wirtschaftsreformen profitiert.
Das Militär, die Bürokratie und die Partei
Kubas joint ventures werden in erster Linie von den Revolutionären Streitkräften (FAR) betrieben. Der langjährige Kommandeur der FAR und jetziger Premierminister der Insel, Raúl Castro, gilt seit den 1980er Jahren als „Reformer“. Unternehmen des Militärs sind jetzt der größte Partner von ausländischem Kapital auf Kuba und kontrollieren etwa 40% des BIP: die Tourismusholding Gaviota S.A., im Besitz der FAR, ist eins der größten Unternehmen auf der Insel[32].
Die Existenz von privaten Unternehmen hat zu weitverbreiteter Korruption auf allen Ebenen des kubanischen Systems geführt: von lokalen InspekteurInnen, die Bestechungen von Kleinunternehmen annehmen, bis hin zu Generälen, die Schmiergelder annehmen, während sie millionenschwere Verträge mit internationalen Tourismusunternehmen aushandeln. Aus marxistischer Sicht ist die gefährlichste Entwicklung, dass Risse im staatlichen Außenhandelsmonopol entstehen. Z.B. können joint ventures selbst Güter importieren, außerhalb des kubanischen Wirtschaftsplans. Eine Gruppe kubanischer WirtschaftswissenschaftlerInnen stellte bereits 1995 fest: „Die Aktivität des Außenhandels, früher durch das Außenhandelsministerium vollständig kontrolliert, wird durch eine wachsende Zahl von Unternehmen direkt übernommen (von Unternehmen, die staatlichen Organismen gehören, Handelsgesellschaften in den Händen von kubanischem Kapital, joint ventures und VertreterInnen ausländischer Firmen.“[33]
Die herrschende Partei, die Kubanische Kommunistische Partei, wurde erst sechs Jahre nach der Revolution gegründet – und hielt ihren ersten Kongress erst sechs Jahre danach ab. Die PCC war vor der „Institutionalisierung“ der Revolution in den 1970er Jahren nicht der zentrale politische Apparat auf der Insel – diese Rolle blieb den Streitkräften vorenthalten. Jetzt basiert das politische System auf einem Machtgleichgewicht zwischen den (sich oftmals überschneidenden) Partei- und Militärbürokratien. Gerade in den schwierigen Zeiten der „Sonderperiode“ wuchs die PCC erheblich: beim fünften Kongress im Jahr 1997 hatte die Partei 780.000 Mitglieder, ein Drittel davon erst nach 1990 eingetreten[34]. Vor diesem Hintergrund änderte sie ihre Selbstbeschreibung von „einzige Partei der kubanischen ArbeiterInnen“ in „einzige Partei der kubanischen Nation“ und ersetzte den Marxismus-Leninismus durch den kubanischen Nationalismus als Leitideologie[35].
In den letzten Jahren gab es eine gewisse Ausweitung demokratischer Rechte. Es gibt weniger Pressezensur, mehr Diskussion auf den Universitäten, eine Offenheit gegenüber den Rechten von LBGT-Menschen – man kann auf der internationalen Buchmesse in Havanna sogar Werke von Leo Trotzki kaufen[36]! Doch das ist in erster Linie ein Ausdruck von Marktreformen, nicht von sozialistischer Demokratie. Ein bürgerliches Wirtschaftssystem braucht ein gewisses Maß an öffentlichem Diskurs, um sich über Mechanismen von Angebot und Nachfrage selbst zu regulieren.
Die Entwicklung der Wirtschaft
Der bestimmende Faktor der kubanischen Wirtschaft ist die Blockade, die die US-Regierung im Jahr 1962 unter dem „Trading with the Enemies Act“ einführte und im Jahr 1996 mit dem „Healms-Burton Act“ nochmal verschärfte. Kubanische Quellen gehen davon aus, dass die kubanische Wirtschaft in den letzten 50 Jahren etwa 86 Milliarden US-Dollar wegen der Blockade verloren hat[37].
Nichtsdestotrotz importiert Kuba riesige Mengen von Lebensmitteln aus den USA. Kubas zentrales historisches Problem, die mangelnde industrielle Entwicklung und die daraus resultierende Abhängigkeit vom Zuckerexport und vom Tourismus (was Che Guevara bereits bei seinem Rücktritt aus der kubanischen Führung kritisierte) sorgen dafür, dass Kuba weiterhin auf Importe angewiesen ist: aus China, Europa, Kanada und auch den USA. Im Jahr 2007 gab Kuba mehr als eine halbe Milliarde Dollar für Lebensmittelimporte aus den USA aus – trotz des Embargos, das ungünstige Bedingungen für die kubanische Seite vorschrieb. Da die kubanische Landwirtschaft nur 20% der Bedürfnisse der Bevölkerung decken kann, sind die USA die wichtigste Lebensmittelquelle Kubas[38].
Während die kubanische Führung die ArbeiterInnen auffordert, „weniger zu meckern und mehr zu arbeiten“[39], bleibt das fundamentale Problem, dass ein degenerierter ArbeiterInnenstaat der ArbeiterInnenklasse wenige Anreize bieten kann, um die Produktivität zu erhöhen. Er kann nur sehr begrenzt Begünstigungen oder Sanktionen anbieten (d.h. wenig Zuckerbrot und wenig Peitsche). Als Folge davon gibt es die Gefahr, dass fleißige ArbeiterInnen Aufstiegsmöglichkeiten unter einem kapitalistischen System sehen und deshalb auch ihre Zukunft dort sehen. Während ein kapitalistischer Markt sich sowohl auf die Drohung der Arbeitslosigkeit und das Versprechen der Beförderung stützen kann, basiert eine bürokratisch geplante Wirtschaft auf Vollbeschäftigung und allgemeiner Armut. Der einzige längerfristig funktionierende Mechanismus, um die Produktivität zu steigern, ist eine lebendige ArbeiterInnendemokratie, die die gesamte arbeitende Bevölkerung in die Verwaltung des politischen und wirtschaftlichen Lebens einbezieht (und darauf setzt, dass sich die Revolution über die eigenen Landesgrenzen hinaus verbreitet).
Die neuesten Wirtschaftsreformen der kubanischen Regierung, die Kürzungen beim Bildungs- und Gesundheitswesen „unausweichlich“ nennt[40], werden den privaten Sektor ausweiten. Es läuft momentan ein Experiment, um die 24.700 staatlichen Kantinen, die ein Mittagessen für 3,4 Millionen ArbeiterInnen zubereiten, zu schließen. Die ArbeiterInnen würden statt kostenlosem Essen, einen Coupon im Wert von 15 Pesos bekommen, der in einem privaten Imbiss ausgegeben werden kann. Sollte diese Reform vollständig umgesetzt werden, würde es zu einer Explosion privater Unternehmen auf Kosten der staatlichen Lebensmittelverteilung führen.
Es wird allgemein erwartet, dass die staatlichen Lebensmittelrationen („La Cartilla“), die zumindest einen Teil der Grundernährung für die gesamte Bevölkerung sicherstellt, als nächstes abgeschafft werden[41]. Es laufen sogar Reformen für die Zulassung von Privatarbeit, d.h. für die Wiedereinführung der Lohnarbeit, um Arbeitsplätze für bis zu eine Million Staatsangestellte zu schaffen, die die Regierung für überflüssig hält[42]. Die Entlassung von bis zu 20% der gesamten ArbeiterInnenklasse auf Kuba könnte zu einem qualitativen Sprung im Verhältnis zwischen den staatlichen und privaten Sektoren der Wirtschaft führen.
Die Laufbahn des kubanischen Regimes
Das kubanische Regime ist für seinen Internationalismus bekannt – Fidel Castro wurde von Nelson Mandela für die Rolle gelobt, die kubanische Truppen beim Kampf gegen die Apartheid in Südafrika gespielt haben. Kubanische ÄrztInnen in Venezuela und in der ganzen Welt tragen dazu bei, die Lebensstandards in den ärmsten Ländern zu heben.
Doch Kubas Außenpolitik war nie revolutionär im marxistischen Sinne des Wortes. Im letzten Jahrzehnt wurden viele lateinamerikanische Länder durch Krisen erschüttert, doch die kubanische Regierung versuchte nie, diese Krisen auf die Abschaffung des Kapitalismus hin zu lenken. In Argentinien, Bolivien, Venezuela oder Honduras haben Kubas VertreterInnen die eine oder andere populistische, bürgerliche Figur unterstützt, statt den Weg zur ArbeiterInnen- und Bauern/Bäuerinnenmacht aufzuzeigen. Manchmal war die kubanische Führung sogar bereit, komplett reaktionäre Regierungen zu unterstützen, so z.B. die Militärdiktatur in Argentinien, die im Jahr 1976 an die Macht kam. Sie bekam Unterstützung, obwohl sie die Avantgarde der ArbeiterInnen und Jugend massakrierte, mit 30.000 Verschwundenen, weil sie eine einigermaßen freundliche Außenhandelspolitik gegenüber der Sowjetunion hatte!
Am deutlichsten wurde dies in Nicaragua. Nach einem Guerillakampf und Massenaufständen, die ein proimperialistisches Regime stürzten und die Frage der Abschaffung des Kapitalismus stellten, forderte Castro die NicaraguanerInnen dazu auf, nicht dem „kubanischen Weg“ zu folgen, d. h. die Bourgeoisie nicht zu enteignen. Er nutzte die moralische Autorität der kubanischen Revolution, nicht um den Kapitalismus in Zentralamerika zu zerschlagen, sondern um ihn zu retten, weil das den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion zu dem Zeitpunkt entsprach[43]. Auf ähnliche Art und Weise verteidigte Castro die sowjetische Invasion, um den Prager Frühling im Jahr 1968 zu zerquetschen, sowie die Unterdrückung von Solidarność in Polen im Jahr 1981, genauso wie er sich gegen jede Rebellion gegen den Stalinismus stellte, weil er um die mögliche Instabilität seines Systems fürchtete.
Diese Außenpolitik hat zwei Grundlagen: einmal die strategische Konzeption der kubanischen Bürokratie und des gesamten ehemaligen „sozialistischen Blocks“, die das Ziel der proletarischen Revolution der Aufrechterhaltung ihrer bürokratischen Systeme unterordnet. Dies wurde von Trotzki in Bezug auf die Sowjetunion in den 1930er Jahren beschrieben[44]. Die andere Grundlage ist eine entstellte Variante des Marxismus, die von der kubanischen Führung gefördert wurde, die auf einen Guerillakampf unter den Bauern/Bäuerinnen setzte. Diese Strategie erwies sich als komplett hoffnungslos, als sie Ende der 1960er von Che Guevara in Bolivien ausprobiert wurde – doch im Jahr 1970 organisierte die bolivianische ArbeiterInnenklasse einen städtischen Aufstand, der deutlich machte, dass nur sie die Macht hatte, um die Ketten des Imperialismus zu brechen. Ähnlich stellte die kubanische Führung ihren Einfluss hinter die Volksfrontregierung von Salvador Allende in Chile: Eine berühmte Anekdote handelt davon, dass Castro Allende eine vergoldete AK47 schenkte, doch er gab der chilenischen ArbeiterInnenklasse keine Ratschläge bezüglich der Notwendigkeit, sich gegen die drohende Konterrevolution zu bewaffnen.
Der „chinesische Weg“
Die Entwicklung Chinas seit den frühen 1990er Jahren macht deutlich, dass der Kapitalismus in einem degenerierten ArbeiterInnenstaat ohne große Veränderungen im politischen Regime wiedereingeführt werden kann. Es ist bezeichnend, dass die offizielle kubanische Presse China weiterhin sozialistisch nennt, obwohl 2/3 der MillionärInnen im Land (und davon gibt es viele!) Mitglieder der Chinesischen Kommunistischen Partei sind. Noch wichtiger ist, dass die gesamte Wirtschaft mit wenigen Ausnahmen den Gesetzen des Marktes unterworfen ist. Chinas „Wirtschaftswunder“ basiert auf der Überausbeutung von Hunderten Millionen Bauern/Bäuerinnen, die in die großen Städte gepfercht werden, um als billige Arbeitskräfte für multinationale Konzerne zu dienen.
Einen besseren Vergleich zu Kuba findet man in Vietnam oder Laos, wo der Kapitalismus ebenfalls in den frühen 1990er Jahren wiedereingeführt wurde, obwohl diese Länder noch von „Kommunistischen Parteien“ regiert werden. Da diesen Ländern die enorme ArbeiterInnenklasse und der Binnenmarkt Chinas fehlen, sind sie noch ärmer: multinationale Konzerne verlagern ihre Produktion von China nach Vietnam, um noch billigere Arbeitskraft zu nutzen. Teile der kubanischen Bürokratie loben Vietnam als Modell für ihr Land, z.B. der Ökonom Omar Everleny von der Universität Havanna: „Ein gewisser Anteil Marktwirtschaft ist für den Entwicklungsprozess unter den kubanischen Bedingungen überlebenswichtig. Vietnam hat es geschafft, den Markt einzuführen und es ist eine Wirtschaft mit hohen Wachstumsraten und steigendem Wohlstand und kann heute mit den wichtigsten Exporteuren von Grundprodukten weltweit konkurrieren.“[45]
Das Problem ist natürlich, dass diese Aussagen kurz vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise fielen, die Vietnam mit besonderer Härte traf. Im Jahr 2008 hat sich die Zahl der Menschen in Vietnam ohne genug zu essen fast verdoppelt[46] – und das Lohnniveau war etwa halb so hoch wie in China[47]. Es darf keine Illusionen über die Pläne der kubanischen Exilbourgeoisie geben, die wie Geier in Miami warten, um die Insel in eine US-Kolonie zurück zu verwandeln: Die Folgen einer Wiedereinführung des Kapitalismus auf Kuba wären noch verheerender als in Vietnam.
Große Teile der kubanischen Bürokratie sind nicht zufrieden damit, bloße VerwalterInnen der Produktionsmittel zu sein, da sie ihre Privilegien nach Lust und Laune eines/r Vorgesetzten verlieren können, und diese Privilegien nicht direkt auf ihre Kinder übertragen können. Sie wollen wirkliche BesitzerInnen werden, sowie es ihre chinesischen oder vietnamesischen KollegInnen vorgemacht haben. Doch es gibt mehrere Hindernisse für diesen restaurationistischen Flügel der kubanischen Bürokratie. Erstens gibt es den enormen Druck des US-Imperialismus. Die Bürokratie fürchtet, dass, wenn sie das Land für ausländisches Kapital zu weit öffnet, sie vom US-Kapital und den gusanos[48], die aus Miami zurückkehren, weggefegt wird. Zweitens gibt es die Weltwirtschaftskrise, die nicht nur Kuba hart trifft, sondern Privatisierungen unter den vorherrschenden Marktbedingungen zunehmend unattraktiv macht. Deswegen versucht die Bürokratie, das Land gegenüber dem internationalen Markt sehr langsam zu öffnen, durch Beziehungen zu China, Brasilien, der Europäischen Union, Kanada usw.
Drei mögliche Wege
Der letzte Kongress der PCC war im Jahr 1997. Der sechste Kongress, der ursprünglich für 2008 geplant war, wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Das ist ein klares Zeichen, dass es Risse innerhalb der Bürokratie gibt, die die oberste Führung flicken will, bevor sie sich auf einem Kongress zeigen.
Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten für die Entwicklung Kubas in den kommenden Jahren:
1. Ein kompletter Zusammenbruch, wie ihn der US-Imperialismus bevorzugt. Obwohl Obama mit dem Versprechen in den Wahlkampf zog, in einen Dialog mit der kubanischen Regierung zu treten, zog er sich später auf die alte US-Position der bedingungslosen Unterstützung für die kubanische Exilbourgeoisie zurück. Dennoch muss festgestellt werden, dass die traditionelle Strategie Washingtons innerhalb der herrschenden Klasse der USA hinterfragt wird: einige US-Parlamentsabgeordnete unterstützen Abkommen mit der Castro-Regierung. Hinter ihnen stehen KapitalistInnen, die sofort einen Zugang zu den kubanischen Märkten wollen, statt dogmatisch auf einen politischen Umbruch auf der Insel zu warten. (Die US-Handelskammer schätzt, dass die US-Wirtschaft jährlich 1,2 Milliarden US-Dollar wegen der Blockade verliert[49].) Die Bourgeoisien Lateinamerikas sind allgemein gegen eine US-amerikanische Übernahme der Insel, weil dies den Einfluss der USA im gesamten Kontinent massiv stärken würde. Deswegen unterstützen die meisten lateinamerikanischen Regierungen die kubanische Regierung sowohl politisch (durch die Einbindung Kubas in internationale Abkommen) wie wirtschaftlich (durch Handelsabkommen, wie vor kurzem zwischen Kuba und Brasilien). Doch ist es durchaus möglich, dass die wachsende Kleinbourgeoisie auf Kuba dafür gewonnen werden könnte, das gegenwärtige Regime hinwegzufegen – genau darauf zielen die Propagandakampagnen der US-Geheimdienste.
2. Eine kontrollierte Wiedereinführung des Kapitalismus, wie in China oder Vietnam geschehen. In diesen Ländern bleiben die roten Fahnen und das Einparteiensystem intakt, doch ein Sektor der herrschenden Bürokratie verwandelte sich in KapitalistInnen und ein anderer Sektor in korrupte FunktionärInnen eines bürgerlichen Staates – ein großer Teil der kubanischen Bürokratie unterstützt diese Perspektive – die Offiziere der Revolutionären Streitkräfte sollten als wichtigste soziale Basis dieser Form der kapitalistischen Restauration gesehen werden. Die neue kubanische Kleinbourgeoisie könnte auch eine Basis für diese Variante sein. Doch die Nähe des US-Imperialismus würde einen solchen Prozess unheimlich schwer zu kontrollieren machen. Deswegen gab es bisher nur zaghafte Schritte in diese Richtung seitens der kubanischen Führung. Paradoxerweise ist es wahrscheinlich gerade die diplomatische Unnachgiebigkeit der USA, die prokapitalistische Reformen durch die Bürokratie verhindert hat. Nichtsdestotrotz zeigen die Beispiele Chinas und Vietnams, dass diese Art der Restauration durchaus möglich ist. Die andauernde Feindseligkeit des US-Imperialismus bringt die Bürokratie dazu, nach Abkommen mit den KapitalistInnenklassen Lateinamerikas (deren Ressourcen allerdings trotz Jahren des Wirtschaftswachstums noch extrem begrenzt sind) oder vorzugsweise mit europäischen imperialistischen Mächten zu streben. Doch auch ohne solche Abkommen sind konkrete Schritte hin zur Restauration im Gang, und da kapitalistische Produktionsverhältnisse sich quasi „automatisch“ reproduzieren, werden diese Reformen früher oder später den Umschlagpunkt erreichen.
3. Eine politische Revolution der ArbeiterInnen, wie Trotzki sie für die Sowjetunion vorschlug und die in Ansätzen in Ungarn im Jahr 1956 beobachtet werden konnte. Die kubanische ArbeiterInnenklasse hat seit der Revolution keine unabhängige politische Rolle gespielt, da ihr ein Rahmen fehlt, um sich auszudrücken. Das macht diese dritte Möglichkeit zur Schwierigsten in der Umsetzung. Doch wenn die Lebensstandards der ArbeiterInnen angegriffen werden und die Gefahr einer US-Kolonisierung sie erkennen lässt, dass sie in einem zweiten Haiti (oder zumindest einer zweiten Dominikanischen Republik) leben könnten, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie für die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution kämpfen, in dem sie die Unternehmen übernehmen, ArbeiterInnenräte bilden und ihre Kontrolle über die wirtschaftlichen Institutionen etablieren und damit die wirtschaftliche Planung der Massendemokratie der ArbeiterInnenklasse unterwerfen. Obwohl ein Teil der Bürokratie sicherlich für diesen Kampf gewonnen werden könnte, zeigt die gesamte Erfahrung der revolutionären Krisen in stalinistischen Staaten, dass es hoffnungslos ist, von der Bürokratie zu erwarten, dass sie sich selbst in eine revolutionäre Regierung verwandelt. Eine Revolution auf Kuba würde bedeuten, zum zweiten Mal seit 1959 das ausländische Kapital auf der Insel zu enteignen – aber da es keine einheimische KapitalistInnenklasse auf Kuba gibt, wäre dies in erster Linie eine politische und keine soziale Revolution. Die Aufgabe, die einheimische Bourgeoisie zu enteignen, wurde bereits in der Zeit bis 1961 erledigt. Um eine politische Revolution umzusetzen, wäre eine revolutionäre Partei der ArbeiterInnen, die auf einem marxistischen Programm basiert, nötig – und momentan müsste eine solche Partei illegal aufgebaut werden.Sie müsste versuchen, in die Kommunistische Partei Kubas zu intervenieren, da diese aktuell der wichtigste Ort auf der Insel ist, an dem überhaupt politische Diskussionen stattfinden. Doch wie der Ausschluss von Esteban Morales aus der PCC klar macht, müsste eine Intervention für ein revolutionäres Programm auch konspirativ vor sich gehen.
Ein Programm für die ArbeiterInnenrevolution müsste durch MarxistInnen auf der Insel erarbeitet werden, auf der Grundlage einer konkreten Analyse der sich verändernden Umstände. Doch es müsste sicherlich die folgenden Punkte beinhalten:
H Für die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution, sowohl gegen den Imperialismus wie gegen die Bürokratie!
H Nieder mit der Bürokratie! Für ArbeiterInnendemokratie mit ArbeiterInnen- und Bauern/Bäuerinnenräten, die das Land verwalten!
H Für Organisationsfreiheit, einschließlich der Freiheit für alle politischen Parteien, die die Errungenschaften der Revolution verteidigen!
H Nieder mit den Privilegien und der sozialen Ungleichheit! Keine Privilegien für FunktionärInnen! Für die Enteignung der „nouvelle riche“!
H Für eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei, basierend auf der Tradition der bolschewistischen Partei, die die Oktoberrevolution führte, und der Vierten Internationale, die diesen Kampf fortsetzte!
Auf der Grundlage einer politischen Revolution würde sich Kuba von einem lediglich moralischen Beispiel in eine aktive politische Kraft für den Kampf gegen den Kapitalismus in Lateinamerika verwandeln. Bei jedem Massenaufstand – und im letzten Jahrzehnt gab es nicht wenige davon! – würde eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung den Weg zum Sozialismus aufzeigen und Parteien mit einem marxistischen Programm unterstützen. Anstatt isolierte Guerillabewegungen und „fortschrittliche“ bürgerliche Regierungen zu unterstützen, würde eine revolutionäre Außenpolitik sicherstellen, dass der ArbeiterInnenstaat auf Kuba nicht lange isoliert bleiben würde. Eine sozialistische Revolution quer durch Lateinamerika ist die einzige reale Möglichkeit, Kubas Wirtschaftsprobleme zu lösen. Eine revolutionäre ArbeiterInnenregierung könnte die Wirtschaft zwar viel effizienter verwalten als die Bürokratie, doch es gibt keinen Ausweg aus Armut und Rückständigkeit auf einer kleinen Insel. Es gibt keinen „Sozialismus in einem Land“ und schon gar nicht auf einer Insel!
Bei der Analyse Kubas heute sind zwei grundsätzliche Fehler möglich. Einer ist, Kuba als ein im Wesentlichen sozialistisches Land mit lediglich einigen kleinen Defiziten im Bezug auf die Demokratie zu sehen[50]. Diese Position ignoriert die restaurationistischen Tendenzen innerhalb des Regimes und die ständige bürokratische Misswirtschaft. Solche „Solidarität mit Kuba“ bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Unterstützung der Castro-Regierung einschließlich ihrer Privatisierungsprojekte. Der zweite Fehler ist, anzunehmen, dass Kuba schon immer ein kapitalistisches Land war oder vor kurzem eines geworden ist[51]. Diese Position ignoriert die Tatsache, dass es keine kubanische Bourgeoisie gibt, d.h. keine Klasse, die die Produktionsmittel besitzt, und kann die erstaunlichen sozialen Statistiken, die anfangs erwähnt wurden, nicht erklären. Eine korrekte Analyse muss von der Einschätzung der widersprüchlichen Entwicklung einer Gesellschaft ausgehen, die in der Mitte des Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus stecken geblieben ist, mit einer starken Tendenz, in die erste Gesellschaftsform zurückzufallen[52].
Aufgaben für MarxistInnen
Revolutionäre MarxistInnen außerhalb Kubas haben mehrere grundsätzliche Aufgaben. Wir müssen die Errungenschaften der kubanischen Revolution gegen den Imperialismus verteidigen und v. a. gegen die verbrecherische US-Blockade der Insel protestieren. Gleichzeitig müssen wir diese Errungenschaften gegen die herrschende Bürokratie verteidigen, wenn sie weitere Schritte Richtung Kapitalismus zu unternehmen versucht. Dazu müssen wir die einzige denkbare soziale Basis einer zweiten kubanischen Revolution stärken, eine unabhängige ArbeiterInnenbewegung auf der Insel.
Wir können nicht auf den heuchlerischen imperialistischen Diskurs über Menschenrechte hereinfallen und prokapitalistische „DissidentInnen“ unterstützen, die bereits genug Unterstützung von der CIA erhalten. Doch es gibt keinen Zweifel, dass die repressiven Maßnahmen, die aktuell gegen die prokapitalistische Opposition angewendet werden, sobald der Restaurationsprozess weiter vorangeschritten ist, auch gegen ArbeiterInnen benutzt werden, die ihre Rechte verteidigen. Deswegen rufen wir zur Bildung von Tribunalen von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen auf, die die Fälle von allen politischen Gefangen untersuchen sollen. Wir erkennen das Recht eines ArbeiterInnenstaates an, sich gegen imperialistische AgentInnen zu verteidigen. Allerdings müssen die arbeitenden Menschen darüber entscheiden, ob die eingesperrten DissidentInnen tatsächlich Verbindungen zu ausländischen Geheimdiensten hatten und eine Gefahr darstellen. Diese Tribunale müssen andererseits auch die Verbindungen zwischen führenden FunktionärInnen und imperialistischen Konzernen untersuchen, um der verbreiteten Korruption Einhalt zu gebieten.
Zusammenfassend läuft unsere Verteidigung Kubas nicht unter der Losung: „Fürs Vaterland! Für Castro!“ Stattdessen sagen wir: „Für den Sozialismus! Für die Weltrevolution! Gegen die herrschende Bürokratie!“[53]
Revolutionäre Internationalistische Organisation (RIO), 23. Oktober 2010
Der Entwurf wurde von Wladek Flakin (RIO, Berlin) im April 2010 verfasst und beim Lateinamerika-Seminar im Juni 2010 und bei der Sommerakademie im August 2010 diskutiert. Auf der Grundlage dieser Diskussionen wurde der Text von Victor Jalava (RIO, Kiel) erweitert. An der Diskussion beteiligten sich Mitglieder des Linken Block Rostocks (LiBRo), der Marxistischen Initiative (MI) aus Berlin und der Neuen Antikapitalistischen Linken (NAL) aus der Tschechischen Republik.
Quellen und Literatur
Bücher über Kuba
Max Azicri/Elsie Deal [editors]: Cuban Socialism in a New Century. Adversity, Survival and Renewal. Gainsville 2004.
Philip Brenner [et al.] [editors]: A Contemporary Cuba Reader. Reinventing the Revolution. Lanham 2007.
Lydia Chávez [editor.]: Capitalism, God and a Good Cigar. Cuba Enters the Twenty-First Century. Durham/London 2005.
Trotzkistische Analyse und Debatte
Steve Cushion: „The Working Class in the Cuban Revolution“. Permanent Revolution #14. London 2009. S. 34-40.
Diego Dalay: „Raúl Castro announces measures ‘not pleasant’ to the Cuban people“.
Fracción Trotskista: Cuba en la encrucijada.
Stuart King: „Cuba: The Last Workers’ State?“ In: Permanent Revolution. #10. London 2008.
Martin Hernández: „Cuba … no es una isla“. In: Liga Internacional de Trabajadores: Marxismo Vivo. #22. P. 109.
Eduardo Molina: „¿Qué se negocia en La Habana?“.
Ebd.: „Raúl announces an attack on the workers’ conquests“.
Roberto Ramirez: „Cuba En la Encrucida“.
Gary Tennant: Dissident Cuban Communism. The Case of Trotskyism. Bradford 1999.
Degenerierte ArbeiterInnenstaaten
Leon Trotsky: The Revolution Betrayed.
Ebd.: „The Soviet Economy in Danger“.
Ebd: „The Workers’ State, Thermidor and Bonapartism“.
Ebd.: „The USSR in War“.
Workers Power/Irish Workers‘ Group: The Degenerate Revolution. London 1982.
Artikel über Kuba
Gerardo Arreola: „Cuba requiere ‘soltar todas las fuerzas productivas’“. La Jornada. 17. März 2008. México D.F.
Bernd Bieberich: „Agonie auf dem Acker“. In: Lateinameria-Nachrichten. Nr. 415. Januar 2009. Berlin.
Rigoberto Díaz: „Los privados esperan aprovechar el cierre de comedores obreros en Cuba“.
Granma: „U.S. has cost more than $86 billion“. Granma Internacional. 4. Oktober 2006.
Latin American Network Information Center: Castro Speech Data Base.
New York Times: „Cuba removes restrictions on sale of computers and DVD players“. New York Times. 13 März 2008.
Margot Pepper: „The Costs of the Embargo“.
Ian Urbina: „In Cuba, Change Means More of the Same, With Control at the Top“. In: New York Times. 6. April 2009.
Fußnoten
[1]. Nordkorea bildet eine weitere Ausnahme, muss aber gesondert analysiert werden.
[2]. Alle Zahlen stammen von einer Quelle, die über jeden Verdacht steht, Sympathien für Castro zu hegen: Central Intelligence Agency: The World Factbook. 2008.
[3]. Mehr dazu weiter unten.
[4]. Workers Power/Irish Workers‘ Group: The Degenerate Revolution. London 1982. S. 82.
[5]. M-26-J: Manifesto of the Sierra Maestra.
[6]. Für mehr Infos über die Rolle der ArbeiterInnenbewegung in der kubanischen Revolution vgl. Steve Cushion: „The Working Class in the Cuban Revolution“. Permanent Revolution #14. London 2009. S. 34-40.
[7]. Zit. nach: Martin Hernández: „Cuba … no es una isla.“ In: Liga Internacional de Trabajadores: Marxismo Vivo. #22. S. 109.
[8]. Workers Power: Degenerate Revolution. S. 84.
[9]. Ebd. S. 85.
[10]. Für uns bezieht sich der Begriff „Stalinismus“ nicht nur auf die Politik der Sowjetunion unter Stalin. Stalinismus beschreibt eine Gesellschaft, in der das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft worden ist, in der jedoch eine privilegierte Bürokratie ein Monopol an politischer und wirtschaftlicher Macht innehat. In diesem Sinne war die „Entstalinisierung“, die Nikita Khrushchev im Jahr 1956 verkündete, nur eine Serie von oberflächlichen Änderungen, um die Macht der Bürokratie zu sichern, ohne das stalinistische System grundsätzlich zu ändern. Demzufolge kann eine Gesellschaft stalinistisch sein, unabhängig davon, wie ihre herrschende Bürokratie die Person Stalins sieht. (Nebenbei hat Fidel Castro neben einigen Kritikpunkten viel Positives über Stalin zu sagen: „Er machte große Fehler aber zeigte auch große Weisheit. (…) Er etablierte Einheit in der Sowjetunion. Er konsolidierte das, was Lenin begonnen hatte: die Parteieinheit. Er gab der internationalen revolutionären Bewegung einen neuen Anstoß.“ Aus: Tomas Borge: „El Nuevo Diario Interview with Fidel Castro: Blaming Stalin for everything would be historical simplism.“)
[11]. Workers Power: Degenerate Revolution. P. 87.
[12]. Ian Urbina: „In Cuba, Change Means More of the Same, With Control at the Top“. In: New York Times. 6. April 2009.
[13]. Eduardo Molina: „¿Qué se negocia en La Habana?“. (Auf Deutsch: „Worüber wird in Havanna verhandelt?“.) Siehe auch: Bill Van Auken: „Raul Castro kündigt Entlassungen im Staatsdienst an“.
[14]. Für eine Diskussion hierüber, vgl.: Roberto Ramirez: „Cuba frente a una encrucijada“. In: Socialismo o Barbarie. #22. P. 97-102.
[15]. Haroldo Dilla Alfonso/Gerardo González Núnez: „Successes and Failures of a Decentralizing Experience. Cuba’s Local Governments“. In: Brenner: Cuba Reader. P. 81-83.
[16]. Workers Power: Degenerate Revolution. P. 130.
[17]. „The clamp-down [on the Trotskyists ]had also been given the green light after Guevara sharply criticised the April 1961 edition of Voz Proletaria on national television. The particular article in question argued that the Technical Advisory Councils set up in the workplaces ostensibly to give the workers control over the production process in individual units had a bureaucratic character.“ Gary Tennant: Dissident Cuban Communism. The Case of Trotskyism. Bradford 1999.
[18]. Leon Trotsky: „The Soviet Economy in Danger“. Eigene Hevorhebung.
[19]. William H. LeoGrande: „The ‘Single Party of the Cuban Nation’ Faces the Future“. In: Max Azicri/Elsie Deal [editors]: Cuban Socialism in a New Century. Adversity, Survival and Renewal. Gainsville 2004. P. 186.
[20]. Philip Brenner [et al.] [editors]: A Contemporary Cuba Reader. Reinventing the Revolution. Lanham 2007. P. 1.
[21]. Marguerite Rose Jiménez: „The Political Economy of Leisure“. In: Brenner: Cuba Reader. P. 148.
[22]. Juliana Barbassa: „The New Cuban Capitalist“. In: Lydia Chávez [editor.]: Capitalism, God and a Good Cigar. Cuba Enters the Twenty-First Century. Durham/London 2005. P. 19-21.
[23]. Jiménez: Leisure. P. 150.
[24]. Minor Sinclair/Martha Thompson: „Agricultural Crisis and Transformation“. In: Brenner: Cuba Reader. P. 163.
[25]. José Luis Rodríguez García: „The Road to Economic Recovery“. In: Azicri: Socialism. P. 156.
[26]. Ebd. P. 155.
[27]. Jiménez: „Leisure“. P. 146-147.
[28]. Andrew Zimbalist: „Measuring Economic Performance. Strong and Weak Prospects.“ In: Azicri: Socialism. P. 172.
[29]. New York Times: „Cuba removes restrictions on sale of computers and DVD players“. New York Times. 13. März 2008.
[30]. Stuart King: „Cuba: The Last Workers’ State?“ In: Permanent Revolution. Nr. 10. London 2008. P. 39.
[31]. Rodríguez García: „Economic Recovery“. P. 150-151.
[32]. Brenner: Cuba Reader. P. 48.
[33]. Zit. nach: Hernández: „Cuba … no es una isla“. P. 110.
[34]. LeoGrande: „Single Party“. P. 191.
[35]. Ebd. P. 184-185.
[36]. Dies ist kein Zeichen dafür, dass die kubanische Regierung für die revolutionären Ideen Leo Trotzkis offen ist, sondern dafür, dass sie sich momentan keine Sorgen über eine ArbeiterInnenrevolution auf der Insel macht.
[37]. Granma: „U.S. has cost more than $86 billion“. Granma Internacional. 4. Oktober 2006.
[38]. Bernd Bieberich: „Agonie auf dem Acker“. In: Lateinameria-Nachrichten. Nr. 415. Januar 2009. Berlin.
[39]. Diego Dalay: „Raúl Castro announces measures ‘not pleasant’ to the Cuban people“.
[40]. Ebd.
[41]. Rigoberto Díaz: „Los privados esperan aprovechar el cierre de comedores obreros en Cuba“.
[42]. Eduardo Molina: „Raúl announces an attack on the workers’ conquests“.
[43]. Castro machte unzählige Aussagen in diesem Sinne. Z.B.: Die Situation in Nicaragua „requires a national reconstruction program with the participation of all sectors of Nicaraguan society.“ Rede zum 26. Jahrestag des Angriffs auf die Moncada-Kaserne. 26. Juli 1979. Oder: „According to Castro, the plan followed by the Nicaraguans is ‘perfect’: Without giving up being revolutionaries, they postpone the construction of socialism until it becomes possible and limit themselves for the time being to structural reforms, the most important of which is agrarian reform.“ EFE: Castro discusses Central America, Disarmament. 18. Februar 1985.
[44]. Leo Trotzki: Die verratene Revolution. Kapitel 8, Teil 1: „Von der Weltrevolution zum Status Quo.“
[45]. Gerardo Arreola: „Cuba requiere ‚soltar todas las fuerzas productivas’“. La Jornada. 17. März 2008. México D.F.
[46]. Martha Ann Overland: „Vietnam’s Troubled Economy“.
[47]. Alexander Jung/Wieland Wagner: „Die Karawane zieht weiter: China will nicht länger die Billigfabrik der Welt sein“. Spiegel Special. #3. Hamburg 2008. P. 68-75.
[48]. Wörtlich: „Würmer“. Castros Begriff für die ExilantInnen.
[49]. Margot Pepper: „The Costs of the Embargo“.
[50]. Neben stalinistischen Parteien, die Kuba als Vorbild sehen, gibt es auch viele trotzkistische Strömungen, die eine unkritische Haltung zum Castrismus haben, etwa das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale (VS), die Internationale Marxistische Tendenz (IMT) und die Sozialistische Arbeiterbewegung (MST) aus Argentinien.
[51]. Die Internationale Arbeiterliga (LIT-CI) von Nahuel Moreno behauptet, dass der Kapitalismus auf Kuba restauriert worden sei und eine „demokratische Revolution“ gegen die „kapitalistische Diktatur“ nötig wäre. Die Internationale Sozialistische Tendenz (IST) von Tony Cliff argumentierte schon immer, dass Kuba „Staatskapitalismus“ war. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) von Gerry Healy hatte eine verwirrte Analyse, dass Kuba ein kapitalistischer Staat war, der im Sinne einer schwachen Bourgeoisie regierte. Heute sind sie auffällig leise im Bezug auf irgendeine Analyse von Kuba heute.
[52]. Wir möchten unsere grundsätzliche Übereinstimmung mit der Trotzkistischen Fraktion – Vierte Internationale (FT-CI) und ihrem programmatischen Dokument, das vor Kurzem erschien, zum Ausdruck bringen: „Cuba en la encrucijada“ („Kuba am Scheideweg“). Wir begannen mit der Arbeit an diesem Dokument bevor ihr Dokument fertiggestellt wurde.
[53]. „[Unsere] ‘Verteidigung der UdSSR’ wird sich selbstverständlich himmelweit von der offiziellen Verteidigung unterscheiden, die jetzt unter der Losung geführt wird: ‘Für das Vaterland! Für Stalin!’ Unsere Verteidigung der UdSSR wird unter der Losung geführt: ‘Für den Sozialismus! Für die Weltrevolution! Gegen Stalin!’ Leo Trotzki: „Die UdSSR im Krieg.“