Von der Fragmentierung zur Hegemonie: Scheidewege des heutigen Klassenkampfes

19.12.2019, Lesezeit 20 Min.
Übersetzung:
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Auf der ganzen Welt – von Chile und Bolivien bis zum Irak und Algerien – ist eine neue Welle des Klassenkampfes ausgebrochen. Wie nutzt die Arbeiter*innenklasse diese Dynamik, um Massenbewegungen zu vereinen und eine Kraft aufzubauen, die tatsächlich in der Lage ist, die bestehenden Regime zu stürzen?

Die Karte der Ausbrüche der Massenbewegung in Lateinamerika verzeichnet heute viel mehr Punkte als die des Zyklus 2000-2003 oder die des Jahres 2013, die auf Brasilien zentriert war. Puerto Rico, Honduras, Haiti, Ecuador, Chile, Kolumbien bis hin zum Widerstand gegen den Putsch in Bolivien: Diese aufständischen Prozesse markieren das Szenario des Klassenkampfes. Es sind Prozesse, die mit ihren Besonderheiten und Eigendynamiken verschiedene Momente und Situationen durchlaufen. Jedoch bilden sie einen gemeinsamen Zyklus, der – alles deutet darauf hin – gekommen ist, um zu bleiben.

In früheren Artikeln haben wir einige markante Aspekte dieses neuen Zyklus des Klassenkampfes auf internationaler Ebene angesprochen. Die historische Krise des Kapitalismus trifft nicht alle Ausgebeuteten und Unterdrückten auf die gleiche Weise, weder im Allgemeinen noch in jedem Land. Wir haben diese Heterogenität mit der Unterscheidung zwischen den relativen und absoluten Verlierer*innen der sogenannten “Globalisierung“ verbildliicht. Das Zusammenkommen beider Sektoren, insbesondere das Auftreten letzterer, verleiht diesem Zyklus im Vergleich zu dem von 2010-13 einen gewalttätigeren und explosiveren Charakter, zumindest was die „westlichen“ Länder betrifft.

Nun werden dieser heterogene und “staatsbürgerliche” Charakter, in dem sich die Bewegung auszudrücken pflegt – obwohl viele ihrer Protagonist*innen Teil der Arbeiter*innenklasse sind – von Regierungen und Regimen genutzt, um zu manövrieren und Sektoren der Klasse mittels einer Kombination von Zugeständnissen und Repression voneinander zu spalten. Dabei können sie auf die unersetzliche Zusammenarbeit der Gewerkschaftsbürokratien zählen. Ein echtes Labor in diesem Sinne, wie es Frankreich einst während der Rebellion der Gelbwesten war, ist heute Chile – der wichtigste Prozess, den Lateinamerika heute durchläuft und der sich bereits seit mehr als 40 (mittlerweile fast 60, Anm. d. Ü.) Tagen entwickelt.

Die strategische Frage ist nun, wie es diesen Explosionen des Klassenkampfes gelingt, sich in dieser Dynamik nicht zu erschöpfen, sondern die betreffenden Regime zu besiegen und die Möglichkeit zu eröffnen, eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen. Wie wird ein dazu fähiger politisch-sozialer Block gestaltet? Die Hegemonie der Arbeiter*innen, um die verschiedenen Sektoren im Kampf zu vereinen, ist von entscheidender Bedeutung. Sie findet keinen klaren Weg für ihre Entwicklung, und ist weit davon entfernt. Die derzeitigen Prozesse werfen jedoch neue Bedingungen dafür auf.

Was sich in der Arbeiter*innenklasse geändert hat und was nicht

Eine Vielzahl von Theorien hat verkündet, dass die Arbeiter*innenklasse verschwindet oder sich so sehr verändert hat, dass sie hoffnungslos schwach geworden ist. Von André Gorz‘ „Abschied vom Proletariat“ über Jeremy Rifkins „Ende der Arbeit“ bis hin zu denen, die jetzt behaupten, dass im Kapitalismus neue Technologien die Lohnarbeit ersetzen würden. In Toni Negris Autonomismus übergibt die Arbeiter*innenklasse ihren Platz der „Multitude“. Im Postmarxismus von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ist der obligatorische Ausgangspunkt die Aufgabe des „Klassenessentialismus“. Demnach ist die Einheit der Arbeiter*innenklasse, wenn sie heterogen und fragmentiert ist, nicht mehr als eine symbolische Einheit, sie hat keine andere strategische Grundlage als ein Dogma, und wenn sie erreicht wird, würde sie der demokratischen Artikulation zuwiderlaufen.

Sicher ist, dass sich die Arbeiter*innenklasse in den letzten Jahrzehnten wie nie zuvor in der Geschichte ausgebreitet hat, aber durch die neoliberale imperialistischen Offensive viel heterogener wurde und einen weitgehenden Prozess der Fragmentierung durchlief (feste und befristete Arbeitsplätze, Outsourcing, Vertragslose, Arbeitslose, “Einheimische”, Migrant*innen usw.), was zu einer Trennung zwischen Arbeiter*innen „erster“ und „zweiter“ Klasse (letztere machen fast die Hälfte der Arbeiter*innenklasse weltweit aus, mit einem besonderen Gewicht von Frauen und Jugendlichen) zur Folge hatte. Dieser Prozess ging Hand in Hand mit den Rückschritten der Gewerkschaften, die trotzdem weiterhin die am weitesten verbreiteten Arbeiter*innenorganisationen sind. Was sich jedoch nicht geändert – und sogar weiterentwickelt – hat, ist das Tiefgründigste, was der Klasse ihre unverwechselbare Stärke verleiht: Die Arbeiter*innenklasse hält nach wie vor alle „strategischen Positionen“, die die Gesellschaft funktionieren lassen (Verkehr, Großindustrie, Dienstleistungen usw.).

So wurde beispielsweise in Chile, der Wiege des Neoliberalismus, seit dem 1978 von José Piñera (dem Bruder des jetzigen Präsidenten) verfassten Arbeitsplan und dem Arbeitsgesetzbuch ein Modell der Prekarität und Despotie der Unternehmer*innen verankert, das unter den Regierungen des Mitte-Links-Bündnisses Concertación fortgesetzt wurde. Das massiv ausgeweitete Outsourcing strukturiert den chilenischen Kapitalismus. In verschiedenen Bereichen wie der Telekommunikation ist es fast verallgemeinert. Im Bergbau gibt es mehr Outgesourcte als Festangestellte. In Codelco, dem staatlichen Kupferbergbau-Konzern, gab es bis 2010 beispielsweise etwas mehr als 19.000 Festangestellte und mehr als 40.000 Outgesourcte. Heute bilden die Bergleute weiterhin den Zweig, der mehr als 10% zum chilenischen BIP beiträgt und 27% des weltweiten Kupfers produziert. Die Häfen von San Antonio betreiben weiterhin einen der wichtigsten Häfen des Südpazifiks. Die gesamte Telekommunikation des Landes hängt immer noch von dieser Legion von Outgesourcten ab. Das Gleiche gilt für die Eisenbahnen, die Industrie und alle grundlegenden Sektoren der chilenischen Wirtschaft.

Das Besetzen der „strategischen Positionen“ gibt der Arbeiter*innenklasse die Fähigkeit, diese lahmzulegen – und mit ihnen das Funktionieren der Gesellschaft selbst. Es gibt keine andere Kraft – einer anderen Bewegung oder Klasse –, die eine so definierende und entscheidende Fähigkeit hat; dies ist grundlegend, wenn wir über die Frage der Revolution nachdenken. Die Besetzung dieser strategischen Positionen versetzt sie zudem in die Lage, eine unabhängige Macht zu artikulieren, die die ausgebeutete und unterdrückte Bevölkerung aus den Produktionseinheiten (Unternehmen, Fabrik, Schule, Land usw.) heraus mit ihrer Selbstorganisation und Selbstverteidigung verbinden kann, um den kapitalistischen Staat zu besiegen. Aus der Kontrolle dieser Schlüsselpositionen für soziale Produktion und Reproduktion kann eine neue (sozialistische) Ordnung geschaffen werden, die den Kapitalismus ersetzt und in der Lage ist, die Gesellschaft von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien.

Mit anderen Worten, die Arbeiter*innenklasse wurde nicht unwiederbringlich geschwächt. Sie hat sich verändert und ist fragmentiert, behält aber ihre strategische Stärke. Natürlich kann diese Kraft auf korporative Weise von den spezifischen Sektoren genutzt werden, die sie von den Interessen der übrigen Klasse und der Bevölkerung trennen, genauso kann sie entweder nicht genutzt werden oder sie kann dank Gewerkschaftsbürokratien und kapitalistischer Erpressung eingedämmt werden. Aber in allen Fällen kehrt die Hegemonie der Arbeiter*innen in das Gebiet des Möglichen zurück und wird zu einer politischen und strategischen Frage. Wirklich neu ist, dass der Ausbruch der Massenbewegung und der neue Zyklus des Klassenkampfes, den wir erleben, neue und bessere Bedingungen für die Lösung dieser Frage schaffen.

Die Arbeiter*innenklasse, die Jugend und die „Bewegungen“

Guy Standing schrieb kürzlich, dass die Rebellionen auf der ganzen Welt, und insbesondere in Chile, Rebellionen des “Prekariats” sind. In seinem Buch El precariado, una nueva clase social (Das Prekariat, eine neue soziale Klasse) erklärt er dieses Konzept, mit dem er sich insbesondere auf die Arbeiter*innenjugend bezieht, die unsichere, instabile Arbeitsplätze, sowie prekäre Arbeitsverträge hat und insgesamt einem instabilen Leben ausgesetzt ist. Die Beschreibung passt zu vielen der Protagonist*innen der Mobilisierungen und Aktionen, die die Situation Chiles in den letzten Wochen geprägt haben. Junge Menschen, die größtenteils kein „legales“ Streikrecht am Arbeitsplatz oder in der Gewerkschaft haben, aber sich von ihrem Arbeitsplatz entfernen, um auf die Straße zu gehen. Denn sie sind davon überzeugt, dass sie dem Regime, das von der Pinochet-Diktatur geerbt wurde, nichts schuldig sind. Natürlich geht es Standing in seinem Schema darum, das „Prekariat“ als eine neue Klasse aufzustellen, um den anderen Teil der Klasse von der Bildfläche zu entfernen1. Aber was würde passieren, wenn diese Jugend definitiv auf das Bewusstsein der „stabilen“ Arbeiter*innenbewegung einwirkt, wenn sie in die Produktionseinheiten geht und ihren Blick auf die „strategischen Positionen“ wirft?

Tatsächlich hat uns eine der kämpferischen Gewerkschaften, die seit Beginn der Rebellion ein Protagonist der Generalstreiks war, die Hafengewerkschaft „Unión Portuaria“, etwas darüber zu sagen. Es ist eine „de facto“-Organisation, hat aber aufgrund ihrer strategischen Position eine enorme reale Macht. Wie Frank Gaudichaud betont, hat sie nicht nur historische Solidaritätsstreiks angeführt, sondern es ist ihr auch gelungen, die mächtigsten Kapitalist*innen des Landes an einen Verhandlungstisch zu zwingen – über die Köpfe der Zwischenhändler hinweg: „Bei den Hafenarbeiter*innen bleibt die Zugehörigkeit zur Gewerkschaft bestehen, obwohl die Verträge mit den Verlade-Firmen eine Dauer von 8 Stunden haben und nichts gewährleistet, dass sie am nächsten Tag, der nächsten Woche oder dem nächsten Monat wieder eingestellt werden können. Das zweite Merkmal und die zweite Schwierigkeit, die sie von der traditionellen Gewerkschaftsbewegung unterscheidet, ist, dass sie, um ihre Aktionen verhandeln zu können, in der Tat den Schleier lüften und die Gegenseite der tatsächlichen Auftraggeber*innen zwingen müssen, sich als solche zu konstituieren“2. Dies stellt eine unverzichtbare Infragestellung der Bedingungen des Outsourcings dar, bei der der Auftraggeber bei jedem Kampf oder Forderung der Angestellten hinter den Auftragnehmern verborgen bleibt.

Es geht hier jedoch nicht nur um die Arbeiter*innenjugend. Die Frauenbewegung, die sich in vielen Ländern zu einer mächtigen Massenbewegung entwickelt hat, findet in Chile eine der wichtigsten Ausdrucksformen auf internationaler Ebene. So fand am diesjährigen 8. März in Chile die größte Mobilisierung in Lateinamerika statt – und eine der massivsten im Land seit dem Fall der Diktatur. Gleichzeitig hat die chilenische Studierendenbewegung einige der wichtigsten Kämpfe ihrer Art in der letzten Zeit geführt. Im Jahr 2006 waren es „die Pinguine“, die gegen die vom Pinochetismus eingeleitete Privatisierung der Bildung kämpften. Es folgten massive universitäre Kämpfe um freie Bildung im Jahr 2011. Es war kein Zufall, dass mit der „Massenumgehung“ der Drehkreuze die Wut katalysiert werden konnte, die schließlich die Zündschnur der aktuellen Rebellion entzündete. Auch die indigenen Mapuche-Gemeinschaften, die für die Wiedererlangung ihres Landes, das Recht auf nationale Selbstbestimmung und gegen staatliche Repression kämpfen. Am 14. November fanden Mobilisierungen statt, ein Jahr nach der brutalen Ermordung von Camilo Catrillanca, einem Mapuche-Aktivisten, durch die Polizei.

Natürlich liegt es im Interesse von Piñera und des Regimes, dass sich all diese Kräfte unorganisiert, als eine Reihe von unverbundenen Forderungen äußern, damit sie „von oben“ mit den Bürokratien des “Tisches der sozialen Einheit” und den Parlamentarier*innen der Frente Amplio und der Kommunistischen Partei verhandeln können. Gaudichaud hat Recht, wenn er darauf hinweist: „Ohne organisierte Arbeiter*innen werden die territorialen, indigenen, bildungspolitischen, ökologischen, feministischen und stadtpolitischen Kämpfe das Modell nicht überwinden – geschweige denn ‚abreißen‘ – können, obwohl sie eine große Fähigkeit zur Mobilisierung und sogar zur Erringung bemerkenswerter Siege gegen den Staat oder große Rohstoffunternehmen gezeigt haben. Aber ohne die anderen sozialen Bewegungen und die kämpfenden Gemeinschaften ist die Arbeiter*innenbewegung dazu verurteilt, weiterhin in der Fragmentierung zu versinken und nur für wenige angestellte Fraktionen partielle Verbesserungen zu fordern“3.

Die strategische Artikulation materieller Kräfte und ihre Feinde

Angesichts der Frage, wie man verschiedene Forderungen und Kampfformen von städtischen und ländlichen Arbeiter*innen, Arbeitslosen, Arbeiterinnen, ruinierten Bauern*Bäuerinnen und den „Millionen Bedürftige[n], an die die reformistischen Führer niemals denken“, verbinden kann, wenn die großen Prozesse des Klassenkampfes in Gang gesetzt werden, argumentierte Trotzki im Übergangsprogramm: “Die Geschichte hat auf diese Frage bereits eine Antwort gegeben: durch Sowjets, die die Vertreter aller kämpfenden Schichten vereinen. Niemand hat bisher eine andere Organisationsform vorschlagen können, und es ist zweifelhaft, daß man eine finden kann.” Heute, mehr als 80 Jahre nach dem Schreiben dieser Worte, ist keine bessere und demokratischere Form erfunden worden, auch wenn dies Laclaus Postmarxismus nicht gefällt. Deshalb ist Trotzkis Hinweis darauf, dass kein revolutionäres Programm existieren kann, ohne den Vorschlag, Organisationen der Selbstorganisation und der Einheitsfront der Massen wie den „Sowjets“ oder Räten aufzubauen, nach wie vor gültig.

Daraus ergibt sich die Bedeutung der Entwicklung von Koordinationen und Organen der Selbstorganisation, die perspektivisch der Keim für zukünftige Räte sein können, einer alternativen Macht der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten. Sie sind jedoch nicht nur wichtig wegen der Perspektive, die sie eröffnen, sondern auch weil die Organismen der Selbstorganisation, selbst in ihren Anfangsformen, für die am weitesten fortgeschrittenen Sektoren der Bewegung von grundlegender Bedeutung sind, um die rückständigsten zu beeinflussen und dem Handeln des Regimes entgegenzuwirken, das auf die Fragmentierung der Arbeiter*innenklasse selbst und ihrer Verbündeten setzt und die eröffneten Breschen für seine Politik nutzt. Die Selbstorganisation kann auch die Perspektiven von Taktiken wie der Arbeiter*inneneinheitsfront („gemeinsam schlagen, getrennt marschieren“) gegen die Bürokratie stärken, um die Aktionseinheit der Arbeiter*innenbewegung durchzusetzen. Wiederum können die „strategischen Positionen“ mit dem Territorium, die Gewerkschaften mit den „Bewegungen“, die Jugendlichen mit dem Rest der Arbeiter*innen, etc. verbunden werden, sowie die Selbstverteidigung gegen Repressionen organisiert werden.

Unsere Genoss*innen der Partei Revolutionärer Arbeiter*innen (PTR) in Chile sind ein treibender Teil der Initiativen in diesem Sinne. Die wichtigste ist zweifellos Das Komitee für Notfälle und Schutz in Antofagasta, der Hauptstadt derjenigen Region, die rund 50% der nationalen Bergbauproduktion ausmacht. Das Komitee verbindet unter anderem Arbeiter*innen aus der Bildung, dem öffentlichen Dienst, den Häfen, Studierende, Anwohner*innen, Menschenrechtsorganisationen, Kommunikationsexpert*innen, sowie soziale und politische Organisationen. Es gibt den Verwundeten medizinische Hilfe und leistet Rechtsbeistand bei Verfolgung durch den Staat. Es hat auch wichtige Aktionen der Einheitsfront gefördert, wie die Demonstration von 25.000 Menschen am 12. Dezember gemeinsam mit Sektoren der Gewerkschaftszentrale CUT. Ein weiteres wichtiges Element der Artikulation waren an diesem Tag die Streikposten, die die Bewohner*innen der Armenviertel auf den Straßen zu den Minen durchführten, so dass die Bergleute ihre Arbeit niederlegen und an den Mobilisierungen teilnehmen konnten. Gleichzeitig behält das Komitee die Perspektive eines Generalstreiks bis zum Sturz der Regierung Piñeras und all ihrer Repression bei. Es forderte, der Politik der Regierung mit ihrer Farce der Konstituierenden Versammlung nicht zu vertrauen und für eine freie und souveräne Verfassunggebende Versammlung einzutreten, in der es die Arbeiter*innen und Armen sind, die über die Lösungen für die Probleme der großen Mehrheit entscheiden und diese organisieren.

Dies sind zunächst noch kleine Beispiele, aber im Falle einer Verallgemeinerung und Entwicklung von Organisationen wie dem Notfall- und Schutzkomitee, würde die konkrete Möglichkeit einer strategischen Artikulation von Kräften durch Selbstorganisation und die Einheitsront aufgeworfen werden. In den 1970er Jahren wurde begonnen, die cordones industriales zu entwickeln. Jedoch schafften sie es nicht, sich in eine echte alternative (bewaffnete) Macht zu verwandeln, was vor allem auf die Politik der Kommunistischen und Sozialistischen Parteien zurückzuführen ist.

Natürlich haben diese Tendenzen Feinde. Die Überwindung der Fragmentierung geschieht alles andere als automatisch. Es ist nicht nur eine sozialer Spaltung, sondern die gesamte Struktur des kapitalistischen Staates ist darauf ausgerichtet, diese zu verstärken. Die Integratioin der Massenorganisationen mit ihren jeweiligen Bürokratien in den Staat ist ein wesentliches Element, angefangen bei den Gewerkschaften – die im Falle Chiles von der Bourgeoisie systematisch geschwächt wurden –, aber auch bei den „Bewegungen“. Natürlich kommen andere Arten von Mechanismen dazu, zum Beispiel, wie Perry Anderson4 es ausdrückt, „die wirtschaftlichen Zwänge, die direkt wirken, um die Macht der bürgerlichen Klasse zu stärken: unter anderem die Angst vor Arbeitslosigkeit oder Entlassung”.

Als all dies zu scheitern drohte, wie am Tag des Generalstreiks am 12. November – dem wichtigsten seit dem Fall der Diktatur –, schlossen sich die bürgerlichen Parteien sofort in einem Hinterzimmer ein, um eine neue große Täuschung zu verhandeln; das sogenannte „Abkommen für sozialen Frieden und die neue Verfassung“, dem sich auch ein Teil der Frente Amplio anschloss und so versuchte, einen Teil der Bewegung von den Straßen zu entfernen. Gleichzeitig treiben sie Gesetze gegen die Jugendlichen, die mobilisiert bleiben und mit Repression konfrontiert werden, voran: das „Anti-Vermummungs-Gesetz“ sowie das Gesetz, das die Streitkräfte zum „Schutz kritischer Infrastrukturen“ auf die Straßen bringt, ohne den Ausnahmezustand ausrufen zu müssen, um den Staat in den „strategischen Positionen“ zu schützen. In diesem Zusammenhang war es beim jüngsten Streik am 26. November die Aufgabe des „Tisches der sozialen Einheit“, sicherzustellen, dass dieser nicht über ein gewisses Maß an Druck hinausgeht, und am nächsten Tag setzten sie sich zu Verhandlungen mit der Regierung zusammen. Auch an diesem Tag handelte die Regierung durch brutale Repressionen in den Armenvierteln, um zu verhindern, dass die Bewohner*innen hinausgehen und Streikposten wie die am 12. November durchführen.

All diese Maßnahmen sind fast spiegelbildlich, um die Einheit zu verdeutlichen, die an diesem Streiktag am 12. November zwischen Arbeiter*innen, Jugendlichen und der armen Bevölkerung gezeigt worden war und die einen wichtigen Sektor der Mittelschicht zu den Mobilisierungen anzog. Sie schafften es nicht zu verhindern, dass sich an diesem Freitag (den 29. November, Anm. d. Ü.) Tausende von Menschen auf den wichtigsten Plätzen des Landes gegen die Repression versammelten.

Klasse, Partei und Führung

Natürlich wirkt die Aktion der Massenbewegung, um Clausewitz zu umschreiben, nicht auf ein regloses Material, „sondern gegen ein lebendes, das reagiert“, daher das Spiel von „Aktion und Reaktion“, das verschiedene Momente eines Klassenkampfes, Momente des Fortschritts und des Rückzugs konfiguriert, in denen die Bewegung eher offensiv oder defensiv ist. Die Bourgeoisie selbst nimmt dies natürlich zur Kenntnis, so dass Piñera von seiner ersten Aussage „Wir befinden uns im Krieg“ zu den mickrigen Zugeständnissen seiner „Sozialagenda“ überging, um dem Streiktag und Mobilisierung am 23. Oktober zuvorzukommen. Nach dem Wendepunkt des 12. November startete das Regime das Manöver des „Abkommens für sozialen Frieden und die neue Verfassung“, um dann die Repression gegen die weiterhin Demonstrierenden zu vertiefen. Sogar in Brasilien, demjenigen Land der Region, in dem die Offensive gegen die Arbeiter*innen am tiefsten ist, kündigte Paulo Guedes, Wirtschaftsminister von Bolsonaro, in dieser Woche an, dass er bestimmte Angriffe wie die Kürzungen in der Verwaltung wegen des regionalen Kontextes der Klassenkämpfe verschieben würde – während die anderen natürlich weitergehen-.

Aus der Sicht der Arbeiter*innenklasse geht es um das gleiche, aber umgekehrt. Deshalb beginnt die Wichtigkeit des Aufbaus einer revolutionären Partei nicht am Tag des Sturms auf den Winterpalais5. Es benötigt eine revolutionäre politische Organisation, die in der Lage ist, die Avantgarde durch jede dieser Situationen und Momente der Kräfteverhältnisse zu formen. Auf diese Weise müssen eigene Strömungen in den Gewerkschaften, in der Studierendenbewegung, in der Frauenbewegung, in den Massenorganisationen aufgebaut werden – in der Perspektive der Entwicklung von Organismen der Selbstorganisation (Räte), die in der Lage sind, Kräfteverhältnisse zu bewegen, um die Bürokratien erfolgreich zu bekämpfen und die Schranken abzubauen, die die Arbeiter*innenklasse selbst und ihre Verbündeten auseinander halten.

Diese und keine andere war die Geschichte des Bolschewismus unter Lenins Führung. Von seinen Anfängen in der russischen Sozialdemokratie, bereichte er sich ständig durch die (theoretischen und praktischen) Erfahrungen der internationalen sozialistischen Bewegung als Teil der Zweiten Internationale, schlug zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor, in die Streikwelle einzugreifen und die Idee zu überwinden, dass sich die Arbeiter*innen nur dem wirtschaftlichen Kampf widmen sollten und versuchen sollten, zu echten „Volkstribunen“ zu werden, indem sie eine Zeitung und ein Netzwerk von Kadern in ganz Russland entwickelten. Später, in der Revolution von 1905, lernten sie in die Offensive zu gehen, sich die Neuheit der Sowjets anzueignen und den Aufstand in Moskau zu organisieren. Auf die anschließende Niederlage folgte der Kampf darum, die revolutionären Grundlagen der Partei gegen die Skepsis, die die Sozialdemokratie traf, beizubehalten. Dann, angesichts des Aufschwungs der Arbeiter*innen von 1912, öffnete die Partei ihre Türen weit, um die Arbeiter*innen zu organisieren, die in den Kampf traten. Die Prawda wurde gegründet, eine Zeitung mit großer Verbreitung, die jährlich 11.000 Zusendungen von Arbeiter*innen, die sich über ihre Arbeitsbedingungen beschweren, erhielt, die wirtschaftlich von Hunderten von Arbeiter*innenkreisen unterstützt wurde. Der Bolschewismus bereicherte sich durch die Erfahrungen mit der revolutionären Nutzung der parlamentarischen Tribüne (Duma) in verschiedenen Perioden. 1914, vor dem Ersten Weltkrieg, führte Lenin in der Minderheit einen Kampf für den revolutionären Internationalismus.

Jahre später, im Februar 1917, brach die Revolution aus und besiegte das zaristische Regime. Lenin und die meisten der wichtigsten bolschewistischen Anführer*innen waren im Exil. Trotzki fragte sich später, wer dann die Februarrevolution angeführt hatte. Und er antwortete: die von Lenin ausgebildeten Arbeiter*innen. Er bezog sich genau auf diese ganze Vorgeschichte der Fortschritte und Rückschläge, in der die bolschewistische Partei diese Avantgarde geformt hatte. Dieselben bolschewistischen Kämpfer*innen und dieselbe Avantgarde, auf die Lenin sich bei seiner Rückkehr im April 1917 stützte, um der bolschewistischen Partei einen revolutionären Kurs mit dem Vorschlag „aller Macht den Sowjets“ gegen die versöhnlerische Politik eines ganzen Sektors ihrer Führung aufzuzwingen. Mit dieser Vorhut stärkte er die Partei von ihrer Basis aus, ebenso wie ihre Führung durch die Einbeziehung von Anführer*innen wie Trotzki, die den Erfolg des Aufstands im Oktober ermöglichten. Ohne all dies ist der Triumph der russischen Revolution nicht zu verstehen.

Eine revolutionäre Partei kann nicht im Moment der Revolution improvisiert werden; ohne den Lernprozess der Momente des Fortschritts und des Rückzugs des Klassenkampfes, ohne die Assimilation der unterschiedlichsten Erfahrungen, ist es nicht möglich, sie aufzubauen. Die derzeitigen Prozesse, wie wir aufgezeigt haben, werfen neue und bessere Bedingungen auf, um für die Hegemonie der Arbeiter*innen zu kämpfen. Das ist notwendig für den Triumph der Massenbewegung und für die Eröffnung der Möglichkeit, eine neue soziale Ordnung zu schaffen. Im Falle Chiles ist die massive Explosion der Jugend, die bereit ist, sich dem Regime zu stellen, ein Beispiel dafür. Um diese Kämpfe herum, von heute an und in den verschiedenen Momenten des Prozesses, kämpfen unsere Genoss*innen der PTR im Rahmen ihrer Kräfte für die Gründung einer revolutionären Partei. Zusammen mit ihnen sind wir von der PTS und unseren Schwesterorganisationen in verschiedenen Ländern an diesen Kämpfen beteiligt. Worum es geht, ist, die Erfahrungen jedes Landes, jedes Prozesses aus einer internationalistischen Perspektive zu nutzen. Wir sind überzeugt, dass es außerhalb dieser Erfahrungen, dieses Lernens und seiner Schlussfolgerungen und unabhängig davon, wie viele diplomatische Vereinbarungen auf dem Papier getroffen werden, heute keinen wirklichen Kampf für den Wiederaufbau der Vierten Internationale geben kann.

Fußnoten

1. Für eine Diskussion der Thesen von Standing siehe: Del Caño, Nicolás, Rebelde o precarizada, Buenos Aires, Ariel, 2019.

2. Gaudichaud, Franck, “Pensando las fisuras del neoliberalismo ‘maduro’. Trabajo, sindicalismo y nuevos conflictos de clases en el Chile actual”, Revista Theomai nº36, 2017.

3. Gaudichaud, Franck, a.a.O.

4. Anderson, Perry, “Antonio Gramsci: eine kritische Würdigung, Berlin, Olle & Walter, 1979.

5. Gemeint ist der Höhepunkt der Oktoberrevolution, die Machtübernahme des Regierungsgebäudes durch die Petrograder Arbeiter*innen.

Dieser Artikel erschien zuerst am 1. Dezember 2019 in Ideas de Izquierda.

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