Von ’68 bis heute: Wie die Besetzung der Columbia-Universität die amerikanischen Universitäten in Brand setzte

30.04.2024, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Left Voice

Die aktuelle Mobilisierung an der Columbia University in den USA erinnert an die Universitätsbesetzung von 1968. Inmitten von antirassistischen Forderungen, dem Kampf für Bürger:innenrechte und gegen den Vietnamkrieg haben die Repression von 1968 die Mobilisierung der Studierenden an den amerikanischen Universitäten entfacht. Die Geschichte ist dabei, sich zu wiederholen.

Seit fast einer Woche ist die Columbia University in New York  in den internationalen Schlagzeilen, da Studierende dort ein Camp gegen den Genozid in Gaza errichtet haben. Mittlerweile breitet sich die Bewegung auf mehr als 20 Universitäten aus und hat auch andere Sektoren geweckt, darunter mehrere US-Gewerkschaften, welche Zehntausende von Arbeiter:innen vertreten, die von der Universität eine positive Reaktion auf die Forderungen der Studierenden und die Rücknahme der Suspendierungen fordern.

Die Repressionen ließen nicht lange auf sich warten. Am 18. April ordnete die Verwaltung die Verhaftung von rund hundert Studierenden an. Die Studierenden wurden suspendiert oder aus den Wohnheimen des Campus verwiesen. Eine Verfolgung, die seit Oktober letzten Jahres zunimmt, da auf den US-Campus eine intensive Kriminalisierung stattfindet, während auf nationaler Ebene pro-palästinensische Studierende durch Antisemitismusvorwürfe bis hin zu Morddrohungen unter Druck gesetzt werden.

In einigen Bundesstaaten beginnen die Behörden und Gouverneure damit zu drohen, die Nationalgarde auf die Studierenden anzusetzen, die die Camps in Solidarität mit Gaza aufbauen.

Eine Ankündigung, die eine erhebliche Verschärfung der Repression bedeuten würde und an das Massaker an der Kent State University am 4. Mai 1970 erinnert. Damals schoss die Nationalgarde von Ohio mit Billigung der Universität und der Lokalpolitiker:innen auf Studierenden, im Rahmen einer landesweiten Studierendenmobilisierung gegen den Vietnamkrieg. Dabei wurden neun Studierende schwer verletzt und vier getötet. Eine blutige Episode, die den Geist einer kämpferischen Generation prägte.

Seit den Anfängen der aktuellen Besetzungswelle haben die Studierenden das Erbe der Columbia von 1968 zurückerobert. Damals brachte eine einwöchige Mobilisierung den Campus zum Stillstand und wurde zum Auslöser für die Antikriegsbewegung an den Universitäten im ganzen Land.

„Die ganze Welt schaut auf dich“: Columbia 1968, am Schnittpunkt von antirassistischer und pazifistischer Mobilisierung.

Das Jahr 1968 war in den Vereinigten Staaten von Amerika von einer explosiven gesellschaftlichen Situation geprägt. Wenige Jahre nach den großen Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung (der Civil Rights Act von 1964, das Wahlrecht und die Einführung der öffentlichen Gesundheitsversorgung im Jahr 1965) verschärfte der Kolonialkrieg der USA in Vietnam – der 1975 mehr als zwei Millionen zivile Opfer forderte – die Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft.

Im Januar 1968 wurden die US-amerikanischen und südvietnamesischen Streitkräfte von der Tet-Offensive der Nordarmee überrascht, was die Schwierigkeiten auf amerikanischer Seite deutlich machte. Um den Krieg fortzusetzen, rief die demokratische Regierung von Lyndon B. Johnson trotz einer wachsenden Welle des Protests weiterhin junge Männer an die Front. Nach einer Reihe von Krisen und negativen Umfragen zog er sich schließlich am 31. März aus dem Wahlkampf um die Wiederwahl des Präsidenten zurück. Dann, am 4. April, wurde Martin Luther King Jr., die führende Persönlichkeit der Bürgerrechtsbewegung, ermordet.

In Columbia waren es diese nationalen Gegebenheiten in Verbindung mit einer Mobilisierung gegen die rassistische Politik der Universität, die 1000 Studierende dazu veranlassten, fünf Universitätsgebäude zu besetzen. Die Columbia-Besetzung markierte den Beginn der Studierendenrevolte gegen den Vietnamkrieg, die 1970 in einem Studierendenstreik auf 900 College- und High-School-Campussen gipfelte. Der FBI-Direktor war so verängstigt über „eine Ära des Aufruhrs und der Gewalt“, die von der Neuen Linken und studentischen Aktivist:innen angeführt wurde, dass er im Mai 1968 die Einrichtung von COINTELPRO veranlasste. Dies war ein geheimes Überwachungsprogramm, das darauf abzielte, radikale Bewegungen in ihrer Organisierung anzugreifen und zu zerschlagen, unter anderem durch die Ermordung von Aktivisten der Black Panther Party oder der Native Americans.

Die Zahl der Demonstrationen nahm zu, sei es um gegen die Wehrpflicht zu protestieren oder um die Verbindungen der Universität zum regierungsfreundlichen Institute for Defense Analyses (IDA) anzuprangern. Schließlich mobilisierten afroamerikanische Studierende gegen den Bau einer Sporthalle im historischen Schwarzenviertel von Harlem, das durch seinen Anschluss an die Eliteuniversität Columbia, die Trennung zum Nachteil der schwarzen Bevölkerung vor Ort verstärken würde.

Die Einheit dieser verschiedenen Mobilisierungen führte ab dem 23. April 1968 zu einer fast einwöchigen Besetzung. Die Gesellschaft der Afroamerikanischen Studierenden sowie Studierende für eine demokratische Gesellschaft (SDS) schlossen sich zusammen und forderten eine Amnestie für die mobilisierten Studierenden, einen Stopp des Baus der Sporthalle und die Entkopplung der Universität vom IDA-Programm. Die Besetzung breitete sich schnell auf mehrere Gebäude aus und fand zahlreiche Unterstützer:innen, darunter lokale Harlem-Gruppen und zwei Black-Panther-Aktivisten, Kwame Ture und H. Rap Brown, die auf einer Pressekonferenz vor der Universität ihre Unterstützung bekräftigen.

Die Atmosphäre ist elektrisierend: Die Studierenden entführen den Dekan für einen Tag und übernehmen die Telefonzentrale, um den in Panik geratenen Eltern zu antworten.

Die Verwaltung versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen und organisierte geheime Treffen mit den Studierenden, aber die Studierenden weigerten sich, auf ihre Forderungen einzugehen. Nach einer Woche, am 30. April, schaltete die Verwaltung die Polizei ein. Die Unterdrückung war brutal: 1.000 Polizisten besetzten den Campus und nahmen 700 Studierenden fest. Die Brutalität der Verhaftungen wirkte wie ein elektrischer Schlag. Studierende und Professoren traten daraufhin in den Streik, was zur Schließung des Campus für den Rest des Semesters führte. Doch die Mobilisierung errang wichtige Siege: Columbia setzte den Bau der Sporthalle in Harlem aus, ebenso wie den Vertrag mit der IDA.

Die Ereignisse an der Columbia University wirkten als Auslöser für ähnliche Proteste, auf nationaler Ebene und darüber hinaus. Der Schriftsteller Paul Auster, damals Student, erinnert sich: „Im Jahr 1968 waren wir uns sehr bewusst, was im Rest der Welt geschah.“ Einige Wochen später begann der Generalstreik in Paris. Auf einem Transparent wurde die Einheit sichtbar: ‚COLUMBIA-PARIS‘.

Die Eliteuniversitäten im Zentrum der Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft

Auch wenn der globale Kontext ein ganz anderer ist, lassen sich Parallelen zwischen den Ereignissen an der Columbia im Jahr 1968 und den heutigen Ereignissen nicht leugnen. Damals wurde die Besetzung der Columbia auch wegen ihres Status als Eliteuniversität, einer der acht Ivy-League-Colleges, zu einem Symbol. Diese äußerst prestigeträchtigen Privatuniversitäten (mit hohen Budgets, exorbitanten Studiengebühren und Aufnahmequoten von oft unter 10 Prozent) dienen der Ausbildung der nationalen Elite, sind aber auch wichtige und gut finanzierte Forschungszentren.

Die dort geleistete Arbeit dient oft den Interessen des US-Militärapparats, wie Wendell Wallach, ein ehemaliger Harvard-Student, der 1969 am Streik gegen die Mitschuld der Universität am Vietnamkrieg teilnahm, betont: „Für uns gab es keinen Zweifel, und es gibt auch heute keinen Zweifel, dass der militärisch-industrielle Komplex in einen militärisch-industriellen-akademischen Komplex umgewandelt wurde. Im vergangenen Dezember [2021] las ich mit Bestürzung, dass Yale 15,3 Millionen Dollar vom ehemaligen Präsidenten von Google angenommen hatte… um das Schmidt-Programm für künstliche Intelligenz, aufkommende Technologien und nationale Energieversorgung zu gründen. “ Nach Angaben des Bildungsministeriums haben etwa 100 US-Universitäten in den letzten zwei Jahrzehnten Zuschüsse oder Verträge mit Israel in Höhe von insgesamt 375 Millionen Dollar angenommen.

Die Studierenden, die sich heute den pro-palästinensischen Mobilisierungen anschließen, kommen vor allem von ausgewählten Privatuniversitäten, die sie beschuldigen, wichtige Verbindungen zum US-Verteidigungsministerium oder zur israelischen Armee zu unterhalten: Columbia, Yale, Harvard, Vanderbilt, New York University, MIT…

Während diese Universitäten die Forschung der Rüstungsindustrie unterstützen und die zukünftigen Führungskräfte von mitschuldigen Technologieunternehmen wie Google ausbilden, entsprechen sie gleichzeitig den Wünschen von Kuratorien und Politiker:innen. Dies zeigen die Senatsanhörungen der Präsidenten des MIT, Harvard und der University of Pennsylvania seit dem 7. Oktober, die beschuldigt werden, pro-palästinensischen Studierenden zu erlauben, sich auf dem Campus zu äußern. Diese öffentlichkeitswirksamen Anhörungen zeigen, dass auf nationaler Ebene Druck ausgeübt wird, um jegliche Äußerung zu kriminalisieren, die sich kritisch über die Politik des US-Staates und seiner Enklave im Nahen Osten, dem israelischen Staat, äußert, obwohl diese Universitäten pro-palästinensischen Gruppen bereits generell feindlich gegenüberstehen. Die Präsidenten von Harvard und der University of Pennsylvania sind inzwischen auf Druck der Kuratorien und Geldgeber:innen beider Universitäten zurückgetreten. Am 17. April wurde die Präsidentin der Columbia-Universität, Nemat „Minouche“ Shafik, interviewt. Am nächsten Tag schlugen die Columbia-Studierenden ihr Lager auf. In der Sorge, das gleiche Schicksal wie ihre Kollegen an anderen Ivy Leagues zu erleiden , suspendierte Shafik die anwesenden Studierenden und rief die NYPD, um mehr als 100 von ihnen zu verhaften. Heute droht sie damit, die Nationalgarde zu schicken, wie 1970 an der Kent State University.

Die Repressionen zeigen, dass sich das US-Regime des aktuellen Widerspruchs zwischen einer radikalen und palästina-solidarischen Jugend und ihrem Platz an den Eliteuniversitäten, die angeblich die Reproduktion des seit Jahrzehnten herrschenden pro-israelischen amerikanischen Konsenses garantieren, sehr wohl bewusst ist.

Heute werden junge Menschen an den Universitäten durch zahlreiche Themen wie dem Genozid, die Klimakrise und Antirassismus politisiert. Die Generation, die bei den Demonstrationen gegen die Schießereien an den Highschools oder die Klimastreiks an den Schulen geschmiedet wurde, ist heute an den Universitäten präsent. Im Jahr 2020 litt sie unter dem Lockdown und der katastrophalen Politik der Trump-Administration während Covid-19 und beteiligte sich an der Black-Lives-Matter-Bewegung, bei der viele Studierende die Mitschuld ihrer Universitäten am systemischen Rassismus in den USA anprangerten.

Die Radikalisierung der Studierenden und ihre Desillusionierung gegenüber den akademischen Einrichtungen zeigt sich in dieser Woche in der Besetzung und scheint neue Dimensionen anzunehmen, da die Verwaltungen von Yale bis Columbia eine neue Bereitschaft zur Repression zeigen.

„Ich wurde freigelassen, nachdem Columbia die Polizei gerufen hatte, um mehr als 100 Studierende zu verhaften. Barnard suspendierte mich und warf mich aus meiner Wohnung. Das hat mich in meinem Engagement für die palästinensische Befreiungsbewegung nur bestärkt, und ich verspreche den Kampf für die Desinvestition fortzusetzen“, schrieb die Studentin und Aktivistin Maryam letzte Woche auf X. „Columbia, warum habt ihr mich gezwungen, Professor Edward zu lesen, wenn ihr nicht wolltet, dass ich ihn anwende“, ist auf einem der Plakate im Camp zu lesen, in Anspielung auf die Heuchelei der Institution, die sich auf den antikolonialen palästinensischen Theoretiker Edward Said beruft, der dort viele Jahre Professor war und zu den Autoren gehört, die auf der Pflichtlektüre für alle Studierenden stehen.

Heute könnte die Solidaritätsbewegung an den Universitäten den Mobilisierungen für Palästina neuen Auftrieb geben, zu einem Zeitpunkt, an dem die Invasion in Rafah neue Gräueltaten verspricht. Weit davon entfernt, die Solidaritätsbewegung für Palästina zu zerstören, hat die Repression in Columbia dazu geführt, dass sie ihren Elan verdoppelt und eine riesige Welle der Solidarität ausgelöst hat, die von der tiefen Politisierung zeugt, die der Genozid in Gaza in den imperialistischen Ländern bewirkt hat. Wenn die Studierenden der Columbia University fordern, dass sich diese Solidarität nicht auf Fragen der freien Meinungsäußerung konzentrieren darf, da sonst die Gefahr besteht, dass die Unterstützung für Palästina unsichtbar wird, muss der Kampf gegen die eigene Unterdrückung ein integraler Bestandteil der Bewegung für Palästina sein. Der Marsch in den Krieg und die Unterstützung kolonialer Massaker gehen immer Hand in Hand mit der Einschränkung und dem Verschwinden der elementarsten demokratischen Rechte.

Dies ist in allen imperialistischen Ländern zu beobachten, in denen Aktivist:innen der palästinensischen Sache, darunter viele jüdische Aktivist:innen, als Antisemit:innen diffamiert, juristisch vorgeladen und inhaftiert werden. Von Kolumbien über Paris und Berlin bis nach London verfolgen die Regierungen die gleiche Politik. Auf die Gefahr hin, die gleichen Wutausbrüche zu erleben, blühen inmitten besetzter Universitäten und verbarrikadierter Straßen „Columbia-Paris“-Plakate.

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