Vom Viertel aus das System stürzen?

14.06.2024, Lesezeit 20 Min.
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Foto: Oli Medina

Stadtteilarbeit hat Konjunktur. Doch auf welchen Grundlagen fußt die Arbeit dieser Gruppen und ist die aktive Beteiligung an der Stadtteilarbeit nun der richtige Weg für Revolutionär:innen?

Die Orientierung auf Stadtteilarbeit hat sich bei linken Aktivist:innen als äußerst beliebt erwiesen und ist in der Lage gewesen, über die Grenzen verschiedener politischer Spektren hinauszuwachsen – von (post-)autonomen Kreisen bis hin zu (post-)stalinistischen oder maoistischen Gruppierungen. Selbst innerhalb der Partei Die Linke wird über das Thema Stadtteilarbeit regelmäßig diskutiert.

Die Wurzeln dieser Entwicklung hin zu „revolutionärer Stadtteilarbeit“ reichen zurück zu den Diskussionen, die seit 2017/2018 im autonomen Spektrum geführt wurden. Ausgangspunkt war ein Debattentext „Zum Ende einer Bewegung und eines Organisationsansatzes“ von Geronimo Marulanda. Kurz gesagt geht es darum, dass die Autonomen sich in der eigenen Szene verschanzt und so von der Mehrheit der Gesellschaft abgegrenzt haben. Infolgedessen haben viele autonome Gruppen die Praxis der Stadtteilarbeit erprobt, um wieder Massenbindung aufzubauen.

Schon seit Anbeginn der autonomen Bewegung wird mit einer Gesellschaftsanalyse gearbeitet, die keine Abkehr von den Arbeiter:innen, sondern eine Abkehr von den Produktionsstätten hin zum urbanen Raum und damit auch zu den Stadtvierteln ist. Es handelt sich um ein Abwenden von der Kernrolle der Arbeiter:innenklasse, weg von ihrer strategischen Stellung im Produktionsprozess. Der Ursprung dieser Analyse kommt von der Aufweichung des Klassenbegriffs durch Toni Negri, den Begründer des sogenannten italienischen „Operaismus“. Negri machte geltend, dass die gesamte Gesellschaft zur Fabrik mutiert sei. Alle Unterdrückten, nicht lediglich die Massenarbeiter:innen in der Industrie, wären Proletarier:innen, eingeschlossen diejenigen, die durch das „gesellschaftliche Kapital“ unterdrückt würden. Als neues revolutionäres Subjekt, die „sozialen Arbeiter:innen“, identifizierte er neben Studierenden und Arbeitslosen auch Hippies – die Randgruppen oder „Marginalisierte“. Durch spontane Aufstände und „Massengewalt“ sollten sie den Kapitalismus umstürzen. Die modernen Ansätze zur Stadtteilarbeit werden dazu weiterhin durch Rückgriffe auf die Organisationsstrukturen der Zapatista-Kommunen der EZLN in Mexiko, die Landlosenbewegung in Brasilien unter der Führung der Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) und die Gemeinschaftsarbeit der Black Panther Party (BPP) in den USA in den 1970er Jahren ergänzt. Diese Bewegungen dienen als Inspiration und bieten Modelle für den Aufbau von Community-basierten Widerstands- und Unterstützungsnetzwerken, die weit über traditionelle politische Organisationsformen hinausgehen. Besonders hervorzuheben ist, wie lokale Gemeinschaften sich selbst organisieren und aktiv gegen Unterdrückung in ihren jeweiligen Kontexten vorgehen können, sei es durch direkte Aktionen, die Entwicklung alternativer Regierungsstrukturen oder das Anbieten grundlegender sozialer Dienstleistungen ähnlich der Black Panther Community-Arbeit.

Kampagnen wie „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ unterstreichen die zunehmende Wichtigkeit der lokalen Arbeit und der direkten Ansprache der Bürger:innen. In vielen Städten lassen sich Bestrebungen zur Gründung sogenannter „Viertelgewerkschaften“, Stadtteilkomitees und Fokussierung auf Community-Organizing beobachten. Der Begriff revolutionäre Stadtteilarbeit wird seit 2022 breiter diskutiert, mit der Veröffentlichung des linken Theorie-Kollektivs Vogliamo Tutto. In dem Buch „Revolutionäre Stadtteilarbeit – Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis“ werden Aktivist:innen verschiedenster Gruppen zu ihrer Arbeit interviewt und versuchen, Gemeinsamkeiten und Differenzen in der politischen Praxis und Strategie zu diskutieren. Das dahinterstehende Konzept klingt auf den ersten Blick überzeugend: Die Stadt, als der Mittelpunkt im Leben ausgebeuteter Menschen, bietet einen möglichen Nährboden für Widerstand. Diese Analyse gründet klar auf einer Weiterführung der Gesellschaftsanalyse der Operaist:innen, die die urbane Umgebung als neuen Austragungsort gesellschaftlicher Konflikte ansehen, nicht mehr ausschließlich den Arbeitsplatz. Doch es mangelt diesen Ansätzen an einer präzisen Klassenanalyse, die effektive politische Hebel gegen die Macht des Kapitals aufzeigen könnte.

Die heutige Situation

Die gegenwärtige Stadtteilarbeit zielt verstärkt darauf ab, Selbstverwaltung vom Viertel aus zu ermöglichen und als Widerstandsstrukturen gegen staatliche Einmischung zu etablieren. Dies verdeutlicht einen bedeutenden Perspektivenwechsel: Weg von einer konzentrierten Fokussierung auf Betriebe und Klassenkämpfe, hin zum unmittelbaren Lebensumfeld und zur Schaffung von selbstverwalteten Vierteln. Diese Entwicklung birgt wichtige Fragen und Herausforderungen, mit denen sich auch die Viertelinitiativen kritisch auseinandersetzen müssen. Die Diskussion über Wirksamkeit und Bedeutung von Stadtteilarbeit ist im Übrigen keineswegs eine neue Erfindung der Autonomen. Schon in den 1920er Jahren waren die führenden Arbeiter:innenparteien KPD und SPD tief liegend in den Stadtvierteln verwurzelt. Ähnlich den modernen Stadtteilgruppen schufen sie Räume für sozialen Austausch, inklusive Sportvereinen und Chören, und nutzten die Viertel als entscheidende Felder im Kampf gegen Faschist:innen. Hervorzuheben ist der grundlegende Unterschied in der strategischen Ausrichtung: Die Arbeit der KPD beruhte auf einer soliden Klassenanalyse, die die Produktionsstätten und nicht das „Volk“ als politischen Hebel sah. Diese deutliche Orientierung auf Klassenverhältnisse scheint in der gegenwärtigen Stadtteilarbeit nicht mehr in gleichem Maße vorhanden zu sein. Revolutionäre Stadtteilarbeit ist kein feststehender wissenschaftlicher Begriff. Viele Projekte beziehen sich aufeinander, lernen voneinander und entwickeln ihre Arbeit stetig weiter. Revolutionäre Stadtteilarbeit versucht, die lokalen Fragen stets in gesamtgesellschaftliche Kontexte einzubinden und Schritte zum Aufbau von Strukturen zu gehen, die in der Lage sind, ein anderes System als den Kapitalismus zu errichten. Somit richtet sich die revolutionäre Stadtteilarbeit per se gegen den Staat und gegen seine Repressionsorgane. Deutlich wird dies insbesondere in Auseinandersetzungen um Zwangsräumungen. Staatliche Organe schützen primär die Eigentumsrechte, während Stadtteilinitiativen auf Seiten der Bewohner:innen das Recht auf Wohnen versuchen zu verteidigen.

Eine neuere Entwicklung ist allerdings die Initiierung sogenannter „Stadtteilgewerkschaften“. Einige autonome Gruppen wie ROSA („Räte Organisieren, Solidarität Aufbauen“) haben ihre Arbeitsweise im Laufe der Zeit entwickelt und auch selbstkritisch angepasst. Bis zum strategischen Wandel der Viertelgruppen wurde das betrieben, was die Stadtteilgewerkschaften heute als „einfache Basisarbeit“ bezeichnen. Diese Arbeitsweise ist geprägt vom Aufsuchen prekärer Stadtteile durch die Aktivist:innen, um über Propaganda linke Politik zu verbreiten. Zu den Aktivitäten zählten Haustürgespräche, das Angebot kultureller und sozialer Anlaufpunkte sowie das Organisieren von Versammlungen zur Thematisierung lokaler Probleme und eine eigene Publikation für das Viertel. Doch obwohl diese Methode teilweise zu erfolgreichen Mobilisierungen fähig war, gelang es nicht, die Menschen im Stadtteil nachhaltig zu organisieren oder langfristig für ihre Interessen zu gewinnen oder einen Wandel des politischen Bewusstseins der Bewohner:innen im Viertel zu schaffen. Nach einem intensiven Selbstreflexionsprozess verschob sich der Schwerpunkt mehr auf eine langfristige Organisationsarbeit. Die „komplexe Basisarbeit“ setzt nun darauf, mittels einer politisch klaren Kerngruppe von Aktivist:innen – sogenannter „Initiativkräfte“ – langfristige Strategien zu entwickeln. Eine heterogene Kerngruppe wird als Hindernis angesehen, daher strebe man Einigkeit bezüglich der Ziele und politischen Grundverständnisse an. Die wenigsten sind sich allerdings dessen bewusst, dass hinter den Aktionen von Stadtteilgewerkschaften linke Organisationen wie beispielsweise in Münster ROSA stecken. Mit dem strategischen Wandel zur „komplexen Basisarbeit“ agiert ROSA nicht mehr offen als Gruppe und steckt all ihre Ressourcen in die Viertelarbeit und bleibt die treibende Kraft hinter den Kulissen. Diese verborgene strategische und taktische Planung, die von den „Initiativkräften“ durchgeführt wird, wirft Fragen bezüglich der Selbstaktivität und -organisation im Stadtteil auf.

Die Erkenntnis, dass eine verbindliche Organisation unverzichtbar ist, setzte sich vor allem nach dem Wechsel zur „komplexen Basisarbeit“ in den Stadtteilgewerkschaften durch. Hauptziel der Basisarbeit ist das aktive Einbinden der Viertelbewohner:innen. Offene Treffen allein erreichten jedoch nicht die angestrebten tiefergehenden politischen Diskurse unter den Teilnehmer:innen. Es mussten belastbare Strukturen geschaffen werden, die auch ohne Präsenz zentraler Aktivist:innen bestehen können. Besonderes Augenmerk lag dabei auf Themen wie der Weiterbildung von Aktivist:innen, um die Organisation als kollektives Gedächtnis der Bewegung zu stärken. Dies soll sicherstellen, dass sowohl historische Erfolge als auch Niederlagen nicht vergessen werden. Überraschenderweise erkennen einige autonome Gruppen also zunehmend die Notwendigkeit einer revolutionären Partei an, ohne das so klar zu benennen. Schon seit Langem streben revolutionäre kommunistische Gruppen und Parteien danach, solche Parteien zu bilden, die den gleichen Anforderungen genügen, wie sie von den Stadtteilgewerkschaften festgelegt wurden. Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch in dem transparenten Umgang dieser traditionellen revolutionären Organisationen mit ihren Zielen. Dies trägt erheblich dazu bei, Diskussionen und demokratische Prozesse sowohl innerhalb der Bewegung als auch in der breiteren Öffentlichkeit voranzutreiben und Vertrauen zu gewinnen und ein Programm zur Emanzipation der Arbeiter:innenklasse anbieten zu können – ein Schlüsselelement für den Aufbau einer starken revolutionären Organisation, die die Führungskrise etablierter Arbeiter:innenparteien überwindet.

Die Stadtteilgewerkschaften sagen zwar, sie verfolgen das Ziel, eine „organisierte soziale Bewegung“ aufzubauen, die überregionale Verbindungen knüpft. Es geht aber im Kern darum, autonome Strukturen in eine Art klandestine Partei zu überführen, auch wenn dies nicht explizit benannt wird. Inspiriert von Bewegungen wie der Landlosenbewegung in Lateinamerika, zielt die Organisation in der Stadtteilgewerkschaft darauf ab, gewerkschaftliche und politische Dimensionen zu vereinen. Die Erfahrung, dass die im Rahmen der „einfachen Basisarbeit“ geschaffenen kulturellen und sozialen Räume oft vorwiegend politisch engagierte Menschen angezogen, führt zu wichtigen Überlegungen bezüglich der Anpassung der Arbeitsweise. Besonders im Stadtteil organisieren sich Menschen, wenn sie nach Lösungen für ihre prekären Lebensumstände suchen. Die Stadtteilgewerkschaften stoßen in eine Lücke vor, in der den Menschen keine Ansprechpartner für ihre Anliegen zur Verfügung stehen. Es ist daher unausweichlich, dass dadurch die Aktivist:innen zu einem Anlaufpunkt für die Sorgen der Viertelbewohner:innen werden und sich die Leute mit dem Aufruf zur Selbstorganisation zufriedengeben müssen, sich jedoch letztendlich enttäuscht abwenden. Der Versuch, quasi soziale Arbeit zu leisten, ohne dabei auf die Expertise von ausgebildeten Sozialarbeiter:innen oder Jurist:innen zurückgreifen zu können, stellt politische Aktivist:innen vor die große Herausforderung, dass sich Leute auch von progressiven Lösungsansätzen distanzieren können. Selbstkritisch stellt auch ROSA selbst in dem Buch von Vogliamo Tutto fest: „Häufig ziehen sich Nachbar:innen wieder zurück, nachdem sie an einer bestimmten Aktion teilgenommen haben. Würde es dabei bleiben, dass eine dauerhafte Einbindung einer größeren Zahl von Nachbar:innen in die Initiative nicht gelingt, wäre der Ansatz gescheitert – selbst dann, wenn die Initiativen regelmäßig Kämpfe mit großer Beteiligung führen würden, und auch dann, wenn diese Kämpfe erfolgreich wären.“

Ziele und Probleme der Arbeit

Das Ziel von revolutionärer Stadtteilarbeit ist eben eine Selbstorganisierung für eine strukturelle Veränderung der Gesellschaft zu fördern und nicht das Gewinnen einzelner Teilkämpfe. Eine der größten Hürden ist es für die Aktivist:innen, von den Bewohner:innen der Nachbarschaft nicht als Sozialarbeiter:innen wahrgenommen zu werden. Die Stadtteilarbeit der Viertelgewerkschaften wirkt vorwiegend dienstleistungsorientiert. Scheitert das Ziel, die Eigeninitiative und Selbstaktivierung der Gemeinschaft zu fördern, läuft das Projekt Gefahr, zu einer Art Amateursozialarbeit abzugleiten. Die Aktivist:innen, die sich vorwiegend durch den alltäglichen Aktivismus und eigenständig organisierte Weiterbildungen Kompetenzen angeeignet haben, sind keine professionellen Sozialarbeiter:innen. Dennoch bieten sie offene Sprechstunden und Beratungen an, doch am Ende bleiben die suchenden Anwohner:innen oft nur mit dem Appell, sich selbst zu organisieren – eine Lösung, die nicht für jeden ausreicht.

Interessanterweise hat die Initiative „Berg Fidel Solidarisch“ und auch ROSA, sich seit der Hinwendung zur „komplexen Basisarbeit“ nicht mehr an Bündnisarbeit egal zu welchem Thema beteiligt und konzentriert ihre Bemühungen stattdessen ausschließlich auf Reformforderungen mit ökonomischem Schwerpunkt. Doch stellt sich die Frage, was passiert, nachdem beispielsweise ein 24-Stunden-Hausmeisterservice eingeführt wurde. Ist das überhaupt eine angemessene Forderung von Sozialist:innen? Und was geschieht, wenn die LEG – der Wohnkonzern, der die Mehrheit der Wohnungen im Viertel besitzt – in staatliche Hand übergeht? Wer überwacht dann die LEG? Und ist sie danach weiter darauf angewiesen, Gewinne zu erzielen? Diese Fragen weisen auf grundlegende Herausforderungen hin, mit denen Stadtteilinitiativen konfrontiert sind, insbesondere wenn sie versuchen, über den Rahmen traditioneller sozialer Arbeit hinaus tiefgreifende, systemische Veränderungen auf lokaler Ebene zu bewirken. Es zeigt sich, dass ohne eine klar definierte Strategie und eine enge Verbindung zur breiteren politischen und sozialen Bewegung selbst gut gemeinte Projekte Risiken tragen und möglicherweise nicht die erhoffte langfristige Wirkung erzielen können.

Sehen wir uns andere Projekte wie die Stadtteilkomitees in Berlin – ehemals „Kiezkommunen“ – stehen wir auch vor einem weiteren zentralen analytischen Problem, welches eher aus dem (post-)stalinistischen oder -maoistischen Spektrum wiederfindet: Die Gruppen erkennen die Einschränkungen durch gesellschaftlicher Handlungsspielräume sozialer Einrichtungen durch Finanzierungsprobleme und staatliche Repressionen, fokussieren sich jedoch auf die Etablierung von „roten Inseln“, ohne eine umfassende politische Strategie zur Mobilisierung der Bevölkerung zu entwickeln. Diese Herangehensweise erinnert an die Community Programme der BPP in den 1970er Jahren in den USA, die auf das Konzept von Mao Zedong, „dem Volke zu dienen“, zurückgingen. Kern dieser Strategie war es, einerseits die revolutionäre Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung durch soziale Programme zu fördern, während andererseits Vorbereitungen für den Kampf getroffen wurden. Trotz ihres breiten Engagements konnten die Black Panthers jedoch aufgrund des Fokus auf die Arbeit in den Ghettos nicht die breite Basis in der Arbeiter:innenbewegung erreichen. Das lag größtenteils an der starken Fokussierung auf soziale Programme und weniger auf Klassenkämpfe. In der Konsequenz hätte man bei einem Erfolg dieser Strategie möglicherweise eine Zone militärisch und politisch befreit, ohne jedoch die strukturellen Bedingungen des Kapitalismus zu überwinden. Der Einfluss des Kapitals ist nicht ausschließlich auf staatliche Strukturen beschränkt und geht darüber hinaus. Anstatt staatliche Funktionen mit eigenen linken Strukturen zu ersetzen, wäre es aus unserer Sicht zielführender, sich für eine staatliche Übernahme unter Kontrolle der beschäftigten Sozialarbeiter:innen einzusetzen und auf etwaige Kürzungen mit politischer Mobilisierung und der Aufstellung eines Programms zu reagieren. Die Herausforderung bleibt, wie eine solide Basis für revolutionäre Politik geschaffen werden kann, die nicht nur auf vorübergehenden Sozialprogrammen basiert, sondern eine umfassende Bewegung mittels eines Übergangsprogramms für gesellschaftliche Veränderung initiiert.

Anders ausgestaltet ist die Arbeit der Stadtteilgruppe „Hände Weg vom Wedding“. „Hände weg von Wedding“ bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen der Errichtung alternativer sozialer Strukturen und der notwendigen Verankerung in der Arbeiter:innenbewegung. Seit ihrer Gründung im Jahr 2012 hat sich die Stadtteilgruppe „Hände Weg vom Wedding“ als revolutionäre Kraft in der Berliner Stadtteilarbeit etabliert. Ihr Hauptanliegen ist es, sich den drängenden Problemen und Bedürfnissen der Bevölkerung im Stadtteil Wedding, zu widmen. Dazu zählen Themenbereiche wie Mieten/Wohnen, Antirassismus, Gesundheit, Feminismus sowie der Kampf gegen Faschismus und Rassismus und die Unterstützung von Arbeitskämpfen. Ein zentraler Erfolg dieser Initiative war 2018 die Errichtung des Kiezhauses Agnes Reinhold, welches als Treffpunkt dient und verschiedenen linken Gruppen und Organisationen als Basis zur Verfügung steht. Die Gruppe nutzt für ihre Arbeit diverse Kommissionen, die sich auf die genannten Themenschwerpunkte fokussieren. Entscheidungen werden durch eine Delegiertenstruktur und regelmäßige Vollversammlungen der Aktiven gefällt. Sie betonen ihre antikapitalistische, revolutionäre Ausrichtung und nehmen eine klare Stellung gegen reformistische Strömungen im linken Spektrum ein. Dies spiegelt sich in ihrer Organisationsform wider, die dem rätekommunistischen Modell folgt und durch demokratische Entscheidungsfindung, Arbeitsteilung und vielfältige Partizipationsmöglichkeiten charakterisiert ist. Ein reflektierter Blick auf ihre Arbeit im Jahr 2019 zeigte, dass in der Anfangsphase eine gewisse Entfernung zur Lebensrealität ihrer Zielgruppe bestand, woraus die Notwendigkeit einer breiteren und inklusiven Organisationsstruktur abgeleitet wurde. Die Bedeutung von Arbeitskämpfen und die Verankerung lokaler Solidarität spielen – anders als für die Stadtteil-Gewerkschaften – in ihrer Politik eine wesentliche Rolle, wie durch ihr Engagement gegen Outsourcing und prekäre Beschäftigungsverhältnisse demonstriert wird. Eine Besonderheit dabei ist die produktive Verknüpfung von Viertel- und Betriebsarbeit, welche das Kernziel verfolgt, linksalternative Strukturen aufzubauen, die staatliche Strukturen und Aufgaben, etwa durch Essens- und Kleiderausgaben, im Viertel zu ersetzen. Durch kollektive statt individueller Bildung arbeitet „Hände Weg von Wedding“ an einer solidarischen Debattenkultur und breiterer Strategiebestimmung. Diese soll möglichst viele Teile der ausgebeuteten Klassen in den Kiezen einbeziehen.

Reicht das für die Revolution?

Die Konzentration vieler aktueller Ansätze auf einen rein lokalen Wirkungsbereich greift uns allerdings zu kurz und verkennt die größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge. Insbesondere die autonome Bewegung hat aus einer Periode intensiver Politisierung, wie der Streikwelle des „heißen Herbstes“ in Italien zu Beginn der 1970er-Jahre, falsche Erkenntnisse gezogen. Die Überbewertung der Autonomie und die Vernachlässigung von Gewerkschaften und deren Einfluss, gepaart mit einer starken Fokussierung auf militante Gruppierungen, sorgte für eine Isolation von großen Teilen der Arbeiter:innenklasse, was das revolutionäre Potenzial erheblich schwächte. Dieselbe Tendenz hat der Aufbau autonomer Strukturen im Viertel, welche – wie bei den Stadtteilgewerkschaften – völlig losgelöst von sozialen Bewegungen oder gewerkschaftlichen Kämpfen stattfinden. Letztlich kostet uns das die Massenbindung.

Die BPP stand ebenfalls vor einem ähnlichen Problem. Ihre Strategie konzentrierte sich stark auf die Community-Organisation zur Vorbereitung von Ghetto-Aufständen und vernachlässigte dabei die immense potenzielle Gegenmacht, die Arbeiter:innen durch ihre Stellung im Produktionsprozess und die Möglichkeit von Streiks besitzen. Obwohl die BPP wichtige soziale Initiativen umsetzen, verlor sie letztendlich den Anschluss an die breite Arbeiter:innenklasse. Um eine breite Massenbindung innerhalb der Betriebe und der Arbeiter:innenschaft zu erreichen, ist es unerlässlich, dass Stadtteilkomitees aktiv nach Verbindungen zu Arbeitskämpfen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen suchen.

Auch wir wollen die Lösung lokaler Probleme wie Zwangsräumungen, Wohnungsnot und die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum. Wir streben nach einer revolutionären Perspektive für politischen Wandel, die die gesamte Arbeiterklasse anspricht und eine gesellschaftsübergreifende Strategie erfordert. Ziel ist es jedoch nicht, linke Strukturen zu schaffen, die lediglich staatliche Aufgaben imitieren, sondern die Herrschaft der Arbeiter:innenklasse zu etablieren und unter einem eigenen Programm den Umsturz des bürgerlichen Staates vorbereitet. Stadtteilkomitees können ein Bestandteil davon sein, allerdings sollten Sie nicht als isolierte Einheiten betrachtet werden, sondern als Verbindungsglieder zu anderen politischen Kämpfen dienen und insbesondere die Verbindung zur Betriebsarbeit stärken. Dadurch kann politisches Bewusstsein in der gesamten Gesellschaft gefördert werden, wobei die Rolle der Arbeiterinnen und Arbeiter im Produktionsprozess von zentraler Bedeutung bleiben muss. Es gilt, die führende Rolle der Arbeiter:innenklasse in den Fokus zu rücken, die das Fundament einer sozialistischen Gesellschaft bildet. Wir arbeiten offen daran, eine Organisation aufzubauen, die den Sturz der politischen und ökonomischen Macht des Kapitalismus vorbereitet. Diese Partei braucht, um wirkungsvoll zu agieren, die Fähigkeit, über lokale Themen hinauszudenken und die gesamte Arbeiter:innenklasse in ihren Kampf einzubeziehen. Sie soll als Instrument dienen, um Kräfte zu bündeln, Strategien zu klären und Aktionen zu organisieren, mit dem Ziel, den Sozialismus – also eine Rätedemokratie mit der demokratischen Planung der Produktion durch die Arbeiter:innen – aufzubauen.

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