Vom Viertel aus das System stürzen?

Stadtteilarbeit hat Konjunktur. Doch auf welchen Grundlagen fußt die Arbeit von Stadtteilgruppen? Wo stoßen sie an ihre Grenzen? Und ist die aktive Beteiligung an der Stadtteilarbeit wirklich der richtige Weg für Revolutionäre?
Von der Szene in die Viertel?
Die Orientierung auf Stadtteilarbeit hat sich unter linken Aktivist:innen als äußerst beliebt erwiesen und ist über die Grenzen verschiedener politischer Spektren hinausgewachsen – von (post-)autonomen Kreisen bis hin zu (post-)stalinistischen oder maoistischen Gruppierungen. Selbst innerhalb der Partei Die Linke wird das Thema Stadtteilarbeit regelmäßig diskutiert. So war sie ein zentraler Bestandteil der Wahlkampagne von Nam Suy Nguyen zur Sächsischen Landtagswahl in Leipzig. Kampagnen wie „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ unterstreichen die zunehmende Bedeutung lokaler Initiativen und der direkten Ansprache der Bürger:innen.
Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen zurück zu Debatten, die seit 2017 im autonomen Spektrum geführt wurden. Ausgangspunkt war ein Diskussionsbeitrag von Geronimo Marulanda mit dem Titel „Zum Ende einer Bewegung und eines Organisationsansatzes“. Kurz gesagt, kritisierte er, dass sich Autonome in ihrer eigenen Szene verschanzt und sich dadurch von der Mehrheitsgesellschaft isoliert hätten. Infolgedessen begannen viele autonome Gruppen, Stadtteilarbeit als Praxis zu erproben, um wieder eine stärkere Verbindung zu breiteren gesellschaftlichen Schichten herzustellen.
Schon seit den Anfängen der autonomen Bewegung basiert ihre Gesellschaftsanalyse nicht auf einer Abkehr von den Arbeitenden an sich, sondern von der Fabrik als zentralem Kampfort. Stattdessen rückt der städtische Raum, insbesondere prekäre Stadtviertel, in den Fokus.
Damit geht eine Abkehr von der zentralen Rolle der Arbeiter:innenklasse innerhalb der marxistischen Theorie einher. Diese besagt, dass die Arbeiter:innenklasse aufgrund ihrer strategischen Stellung im Produktionsprozess dazu in der Lage ist, die Produktion zu bestreiken oder unter eigener Führung fortzuführen.
Die Stadt als Kampfort
Doch woher stammt diese Abwendung von der Produktionssphäre als revolutionärem Zentrum?
Ihr Ursprung liegt in der Aufweichung des Klassenbegriffs durch Toni Negri, den Begründer des sogenannten „Operaismus“. Negri argumentierte, dass die gesamte Gesellschaft zur Fabrik mutiert sei. Nicht nur Industriearbeiter:innen, sondern alle Unterdrückten – also auch jene, die durch das „gesellschaftliche Kapital“ marginalisiert würden – seien Teil des Proletariats. Als neues revolutionäres Subjekt identifizierte er die „sozialen Arbeiter:innen“, zu denen er neben Studierenden und Arbeitslosen auch Randgruppen wie Hippies zählte. Durch spontane Aufstände und „Massengewalt“ sollten sie abstrakt in der Lage sein, den Kapitalismus zu stürzen.
Moderne Ansätze zur Stadtteilarbeit greifen zudem auf Organisationsstrukturen zurück, die in anderen sozialen Bewegungen entwickelt wurden. Dazu gehören die Zapatista-Kommunen der EZLN in Mexiko, die brasilianische Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) sowie die Gemeinschaftsarbeit der Black Panther Party in den USA der 1970er Jahre. Stadtteilarbeit basiert somit auf einem vielfältigen Pool unterschiedlicher Konzepte und Ideen. Für einige Gruppen dienen bestimmte Bewegungen als stärkere Inspirationsquelle als für andere.
Es existieren diverse lokale Gemeinschaften, die sich selbst organisieren und aktiv gegen Unterdrückung in ihrem jeweiligen Kontext vorgehen – sei es durch direkte Aktionen, den Aufbau alternativer Regierungsstrukturen oder die Bereitstellung grundlegender sozialer Dienstleistungen, ähnlich der Community-Arbeit der Black Panther.
Konzept ohne klare Definition
„Revolutionäre Stadtteilarbeit“ ist kein feststehender wissenschaftlicher Begriff. Viele Projekte beziehen sich aufeinander, lernen voneinander und entwickeln ihre Arbeit stetig weiter. Ihr Ziel ist es, lokale Kämpfe in gesamtgesellschaftliche Kontexte einzubinden und Strukturen aufzubauen, die eine Alternative zum Kapitalismus ermöglichen. Damit richtet sich die revolutionäre Stadtteilarbeit per se gegen den Staat und seine Repressionsorgane. Besonders deutlich wird dies in Auseinandersetzungen um Zwangsräumungen: Während staatliche Institutionen primär Eigentumsrechte schützen, setzen sich Stadtteilinitiativen für das Recht auf Wohnen der Bewohner:innen ein.
In vielen Städten lassen sich Bestrebungen zur Gründung sogenannter „Viertelgewerkschaften“ und Stadtteilkomitees sowie eine verstärkte Fokussierung auf Community-Organizing beobachten. Der Begriff revolutionäre Stadtteilarbeit wird seit 2022 intensiver diskutiert, insbesondere mit der Veröffentlichung des linken Theoriekollektivs Vogliamo Tutto. In dem Buch Revolutionäre Stadtteilarbeit – Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis werden Aktivist:innen verschiedenster Gruppen zu ihrer Arbeit interviewt, um Gemeinsamkeiten und Differenzen in politischer Praxis und Strategie zu beleuchten.
Das dahinterstehende Konzept klingt auf den ersten Blick überzeugend: Die Stadt als Lebensmittelpunkt ausgebeuteter Menschen bietet potenziell einen Nährboden für Widerstand. Diese Analyse knüpft direkt an die Gesellschaftstheorie von Toni Negri an. Der städtische Raum wird nicht mehr nur als Lebensumfeld betrachtet, sondern als zentraler Austragungsort gesellschaftlicher Konflikte – im Gegensatz zur traditionellen marxistischen Perspektive, die den Arbeitsplatz als Hauptkampffeld sieht.
Allerdings mangelt es diesen Ansätzen an grundlegenden strategischen Überlegungen: Das Viertel ist kein Ort, von dem aus sich ein wirtschaftlicher Hebel ansetzen ließe, um die Ökonomie im Sinne einer revolutionären Umgestaltung zu beeinflussen. Ein Wohnhaus kann nicht bestreikt werden, und selbst eine militärische Kontrolle über ein Viertel wäre nur von kurzer Dauer, ohne an den Grundfesten des Kapitalismus – der Produktionsweise – zu rütteln.
Die gegenwärtige Stadtteilarbeit verfolgt zunehmend das Ziel, Selbstverwaltung auf lokaler Ebene zu ermöglichen und widerständige Strukturen gegen staatliche Eingriffe zu etablieren. Dies markiert einen wichtigen Perspektivwechsel: weg von einer Fokussierung auf Betriebe, Streiks und Massenmobilisierungen, hin zur unmittelbaren Lebenswelt und dem Aufbau selbstverwalteter Viertel.
Diese Entwicklung wirft jedoch zentrale Fragen auf, mit denen sich auch Viertelinitiativen kritisch auseinandersetzen müssen. Die Debatte über die Wirksamkeit und Bedeutung von Stadtteilarbeit ist keineswegs neu. Schon in den 1920er Jahren waren die Arbeiter:innenparteien KPD und SPD tief in den Stadtvierteln verankert. Ähnlich modernen Stadtteilgruppen schufen sie Räume für sozialen Austausch, etwa in Form von Sportvereinen und Chören, und nutzten die Viertel als wichtige Orte des antifaschistischen Kampfes. Die damalige Orientierung auf Klassenverhältnisse und Produktionsstätten, insbesondere durch die KPD, scheint in der heutigen Stadtteilarbeit jedoch nicht mehr in gleicher Weise vorhanden zu sein.
Aktivist:innen als Sozialarbeiter:innen
Eine neuere Entwicklung ist die Entstehung sogenannter Stadtteilgewerkschaften. Einige autonome Gruppen, darunter ROSA („Räte Organisieren, Solidarität Aufbauen“), haben ihre Arbeitsweise im Laufe der Zeit weiterentwickelt und selbstkritisch hinterfragt. Bis zu einer strategischen Neuausrichtung von ROSA bestand die Arbeit vor allem in dem, was Stadtteilgewerkschaften heute als „einfache Basisarbeit“ bezeichnen. Dabei besuchten Aktivist:innen gezielt prekäre Stadtteile, um über Propaganda linke Politik zu verbreiten. Zu den Aktivitäten gehörten Haustürgespräche, das Angebot sozialer und kultureller Anlaufstellen sowie die Organisation von Versammlungen zur Diskussion lokaler Probleme. Trotz vereinzelter Mobilisierungserfolge gelang es jedoch nicht, die Bewohner:innen nachhaltig zu organisieren, langfristig für ihre Interessen zu gewinnen oder ein tiefgehendes politisches Bewusstsein im Viertel zu entwickeln.
Nach einem intensiven Selbstreflexionsprozess verlagerte sich der Fokus auf eine langfristige Organisationsstrategie. Die „komplexe Basisarbeit“ setzt nun auf eine politisch geschulte Kerngruppe von Aktivist:innen – sogenannte „Initiativkräfte“ –, die strategisch planen und langfristige Strukturen aufbauen sollen. Eine Kerngruppe aus unerfahrenen Anwohner:innen wird hingegen als Hindernis angesehen; stattdessen strebt man eine einheitliche Ausrichtung hinsichtlich Zielen und politischer Grundsätze an.
Bemerkenswert ist, dass viele Viertelbewohner:innen nicht wissen, dass hinter den Aktionen der Stadtteilgewerkschaften linke Organisationen wie ROSA (z. B. in Münster) stehen. Mit der strategischen Wende zur „komplexen Basisarbeit“ agiert ROSA nicht mehr offen als eigenständige Gruppe, sondern tritt bewusst in den Hintergrund. Stattdessen versteckt sie sich in den Strukturen, die sie aufzubauen versucht, bleibt aber die treibende Kraft im Hintergrund. Diese verdeckte strategische und taktische Führung durch die „Initiativkräfte“ wirft Fragen bezüglich der Selbstorganisierung und Eigenaktivität im Stadtteil auf.
Die Einsicht, dass eine verbindliche Organisation innerhalb der Stadtteilgewerkschaften unverzichtbar ist, wurde mit der faktischen Auflösung von ROSA in diese Gewerkschaften jedoch nicht konsequent strategisch zu Ende gedacht. Eine mögliche Alternative wäre, ein offenes, klar revolutionäres Projekt zu schaffen – eine sichtbare politische Kraft, die sowohl inhaltliche Perspektiven formuliert als auch den politisch interessierten Anwohner:innen die Möglichkeit bietet, über den lokalen Rahmen hinaus aktiv zu werden.
Die Einbindung der Anwohner:innen in politische Prozesse bleibt eine der größten Herausforderungen. Offene Treffen allein führten nicht zu den angestrebten tiefergehenden politischen Diskussionen unter den Teilnehmenden. Die daraus gezogene Konsequenz war der Aufbau belastbarer Strukturen, die auch ohne die ständige Präsenz zentraler Aktivist:innen bestehen können.
Auffällig ist, dass Gruppen wie ROSA zunehmend die Notwendigkeit einer revolutionären Organisation anerkennen, dies jedoch nicht explizit benennen oder praktisch umsetzen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Weiterbildung von Aktivist:innen, um die Organisation als „kollektives Gedächtnis“ der Bewegung zu stärken. Dies soll sicherstellen, dass sowohl historische Erfolge als auch Fehler nicht in Vergessenheit geraten.
Allerdings bleibt es eine gewaltige Herausforderung, politische Dynamik innerhalb des kleinen lokalen Rahmens eines Viertels zu erzeugen. Statt eine realistische Einschätzung zu treffen, dass viele Bewohner:innen nicht offen für den Sturz des Systems sind, wird das gesamte Projekt oft vorschnell als „revolutionär“ geframet.
Verdeckte Führung und Lokalismus
Seit jeher streben revolutionäre kommunistische Gruppen danach, Organisationen aufzubauen, die den gleichen Anforderungen entsprechen, wie sie nun von den Stadtteilgewerkschaften formuliert werden. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Transparenz dieser Organisationen hinsichtlich ihrer politischen Ziele. Diese Offenheit fördert demokratische Debatten innerhalb der Bewegung und stärkt das Vertrauen in ihre Arbeit. Zudem ermöglicht sie es, ein Programm zur Emanzipation der Arbeiter:innenklasse zu entwickeln – ein zentrales Element für den Aufbau einer starken revolutionären Organisation, die die bestehende Führungskrise linker Parteien überwinden kann.
Die Stadtteilgewerkschaften geben vor, eine „organisierte soziale Bewegung“ aufzubauen, die überregionale Verbindungen knüpft. Tatsächlich scheint es jedoch eher darum zu gehen, autonome Strukturen schrittweise in eine klandestine Partei zu überführen, ohne dies explizit zu machen. Inspiriert von Bewegungen wie der brasilianischen Landlosenbewegung MST strebt diese Organisationsform eine Verknüpfung von gewerkschaftlichen und politischen Aspekten an.
Ein zentrales Problem bleibt jedoch: Viele Menschen engagieren sich in Stadtteilgruppen nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern weil sie nach Lösungen für ihre prekären Lebensverhältnisse suchen. Die Stadtteilgewerkschaften besetzen eine Lücke, in der es oft an konkreten Ansprechpersonen für soziale Probleme fehlt. Daraus ergibt sich jedoch eine problematische Dynamik: Aktivist:innen werden zu einer Art Ersatzsozialarbeit, ohne über die professionelle Expertise von Sozialarbeiter:innen oder Jurist:innen zu verfügen.
ROSA selbst zieht in Vogliamo Tuttos Textsammlung eine selbstkritische Bilanz:
Häufig ziehen sich Nachbar:innen wieder zurück, nachdem sie an einer bestimmten Aktion teilgenommen haben. Würde es dabei bleiben, dass eine dauerhafte Einbindung einer größeren Zahl von Nachbar:innen in die Initiative nicht gelingt, wäre der Ansatz gescheitert – selbst dann, wenn die Initiativen regelmäßig Kämpfe mit großer Beteiligung führen würden, und auch dann, wenn diese Kämpfe erfolgreich wären.
Damit wird klar: Das Ziel revolutionärer Stadtteilarbeit kann nicht sein, nur einzelne Kämpfe zu gewinnen – es geht um die Förderung nachhaltiger Selbstorganisierung mit dem Potenzial, gesellschaftliche Strukturen grundlegend zu verändern.
Interessanterweise haben sich sowohl die Initiative Berg Fidel Solidarisch als auch ROSA seit ihrer Hinwendung zur „komplexen Basisarbeit“ nicht mehr an Bündnisarbeit beteiligt – unabhängig vom Thema. Stattdessen konzentrieren sie ihre Bemühungen ausschließlich auf Reformforderungen mit ökonomischem Schwerpunkt. Doch stellt sich die Frage: Was passiert, nachdem beispielsweise ein 24-Stunden-Hausmeisterservice eingeführt wurde? Ist das überhaupt eine angemessene Forderung von Sozialist:innen? Und was geschieht, wenn die LEG – der Wohnkonzern, der die Mehrheit der Wohnungen im Viertel besitzt – in staatliche Hand übergeht? Wer überwacht dann die LEG? Ist sie weiterhin darauf angewiesen, Gewinne zu erzielen?
Diese Fragen verweisen auf grundlegende Herausforderungen, mit denen Stadtteilinitiativen konfrontiert sind, insbesondere wenn sie versuchen, über den Rahmen traditioneller sozialer Arbeit hinaus tiefgreifende, systemische Veränderungen auf lokaler Ebene zu bewirken. Es zeigt sich, dass ohne eine klar definierte Strategie und eine enge Verbindung zur breiteren politischen und sozialen Bewegung selbst gut gemeinte Projekte Risiken bergen und möglicherweise nicht die erhoffte langfristige Wirkung erzielen.
Stadtteil Komitees
Betrachtet man andere Projekte wie die Stadtteil-Komitees in Berlin – ehemals „Kiez-Kommunen“ –, stößt man auf ein weiteres zentrales analytisches Problem, das sich eher im (post-)stalinistischen/maoistischen Spektrum wiederfindet: Die Gruppen erkennen zwar die Einschränkungen sozialer Einrichtungen durch finanzielle Engpässe und staatliche Repressionen, fokussieren sich jedoch auf die Etablierung von „roten Inseln“, ohne eine umfassende politische Strategie zur Mobilisierung der Bevölkerung zu entwickeln. Diese Herangehensweise erinnert an die Community-Programme der Black Panther Party in den 1970er Jahren in den USA, die auf das Konzept von Mao Tse-tung, „dem Volke zu dienen“, zurückgingen.
Kern dieser Strategie war es, einerseits die revolutionäre Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung durch soziale Programme zu fördern, während andererseits Vorbereitungen für den Kampf getroffen wurden. Trotz ihres breiten Engagements gelang es den Black Panthers jedoch nicht, eine breite Basis in der Arbeiter:innenbewegung zu erreichen. Dies lag größtenteils an der starken Fokussierung auf soziale Programme und weniger auf Klassenkämpfe. In der Konsequenz hätte ein Erfolg dieser Strategie möglicherweise eine militärisch und politisch befreite Zone geschaffen, ohne jedoch die strukturellen Bedingungen des Kapitalismus zu überwinden.
Der Einfluss des Kapitals beschränkt sich nicht ausschließlich auf staatliche Strukturen, sondern geht darüber hinaus. Anstatt staatliche Funktionen durch eigene linke Strukturen zu ersetzen, wäre es aus unserer Sicht zielführender, sich für eine staatliche Übernahme unter Kontrolle der beschäftigten Sozialarbeiter:innen einzusetzen. Auf etwaige Kürzungen sollte mit politischer Mobilisierung und der Aufstellung eines Programms reagiert werden. Die Herausforderung bleibt, eine solide Basis für revolutionäre Politik zu schaffen – eine, die nicht nur auf vorübergehenden Sozialprogrammen basiert, sondern mittels eines Übergangsprogramms eine umfassende Bewegung für gesellschaftliche Veränderung initiiert.
Positive Ansätze von Stadtteilarbeit
Die Arbeit der Stadtteilgruppe Hände weg vom Wedding ist anders ausgestaltet. Sie bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen der Errichtung alternativer sozialer Strukturen und der notwendigen Verankerung in der Arbeiterbewegung. Seit ihrer Gründung im Jahr 2012 hat sich die Gruppe als revolutionäre Kraft in der Berliner Stadtteilarbeit etabliert. Ihr Hauptanliegen ist es, sich den drängenden Problemen und Bedürfnissen der Bevölkerung im Stadtteil Wedding zu widmen. Dazu zählen Themen wie Mieten und Wohnen, Antirassismus, Gesundheit, Feminismus sowie der Kampf gegen Faschismus und Rassismus und die Unterstützung von Arbeitskämpfen.
Ein zentraler Erfolg dieser Initiative war 2018 die Errichtung des Kiezhauses Agnes Reinhold, das als Treffpunkt dient und verschiedenen linken Gruppen und Organisationen als Basis zur Verfügung steht. Die Gruppe organisiert ihre Arbeit über verschiedene Kommissionen, die sich auf die genannten Themenschwerpunkte fokussieren. Entscheidungen werden durch eine Delegiertenstruktur und regelmäßige Vollversammlungen der Aktiven getroffen. Hände weg vom Wedding betont ihre antikapitalistische, revolutionäre Ausrichtung und positioniert sich klar gegen reformistische Strömungen innerhalb der Linken. Dies spiegelt sich in ihrer Organisationsform wider, die sich am rätekommunistischen Modell orientiert und durch demokratische Entscheidungsfindung, Arbeitsteilung und vielfältige Partizipationsmöglichkeiten geprägt ist.
Ein reflektierter Blick auf ihre Arbeit im Jahr 2019 zeigte, dass in der Anfangsphase eine gewisse Distanz zur Lebensrealität ihrer Zielgruppe bestand. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, die eigene Organisationsstruktur breiter und inklusiver zu gestalten. Im Gegensatz zu den Stadtteilgewerkschaften spielen Arbeitskämpfe und die Verankerung lokaler Solidarität eine zentrale Rolle in ihrer Politik. Dies zeigt sich insbesondere in ihrem Engagement gegen Outsourcing und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Eine Besonderheit ist die produktive Verknüpfung von Viertel- und Betriebsarbeit mit dem Ziel, linksalternative Strukturen aufzubauen, die staatliche Funktionen – etwa durch Essens- und Kleiderausgaben – im Viertel ersetzen.
Durch kollektive statt individuelle Bildung arbeitet Hände weg vom Wedding an einer solidarischen Debattenkultur und einer breiteren Strategiebestimmung. Diese soll möglichst viele Teile der ausgebeuteten Klassen in den Kiezen einbeziehen.
Stadtteilarbeit muss in einer breiteren Strategie eingebettet werden
Allerdings greift die Konzentration vieler aktueller Ansätze auf einen rein lokalen Wirkungsbereich aus unserer Sicht zu kurz und verkennt größere gesellschaftliche Zusammenhänge. Insbesondere die autonome Bewegung hat aus einer Phase intensiver Politisierung – wie der Streikwelle des „heißen Herbstes“ in Italien zu Beginn der 1970er-Jahre – falsche Schlüsse gezogen. Die Überbewertung der Autonomie und die Vernachlässigung von Gewerkschaften und deren Einfluss, gepaart mit einer starken Fokussierung auf militante Gruppierungen, führten zu einer Isolation großer Teile der Arbeiterklasse und schwächten das revolutionäre Potenzial erheblich.
Dieselbe Tendenz zeigt sich beim Aufbau autonomer Strukturen im Viertel, die – wie im Fall der „Stadtteilgewerkschaften“ – völlig losgelöst von sozialen Bewegungen oder gewerkschaftlichen Kämpfen agieren. Letztlich kostet uns das die Massenbindung.
Auch die Black Panther Party (BPP) stand vor einem ähnlichen Problem. Ihre Strategie konzentrierte sich stark auf die Community-Organisation zur Vorbereitung von Ghetto-Aufständen und vernachlässigte dabei die immense potenzielle Gegenmacht der Arbeiter:innen, die durch ihre Stellung im Produktionsprozess und ihre Streikmöglichkeiten entsteht. Obwohl die BPP wichtige soziale Initiativen umsetzte, verlor sie letztendlich den Anschluss an die breite Arbeiterklasse.
Um eine breite Massenbindung innerhalb der Betriebe und der Arbeiterschaft zu erreichen, ist es daher unerlässlich, dass Stadtteilkomitees aktiv nach Verbindungen zu Arbeitskämpfen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen suchen.
Unser Kampf endet nicht an Ortsschildern!
Auch wir setzen uns für die Lösung lokaler Probleme wie Zwangsräumungen, Wohnungsnot und die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum ein. Unser Ziel ist jedoch nicht nur die Bewältigung einzelner Missstände, sondern eine revolutionäre Perspektive für politischen Wandel, die die gesamte Arbeiterklasse anspricht und eine gesellschaftsweite Strategie erfordert.
Es geht nicht darum, linke Strukturen zu schaffen, die lediglich staatliche Aufgaben imitieren, sondern darum, die Herrschaft der Arbeiter:innenklasse zu etablieren und unter einem eigenen Programm den Umsturz des bürgerlichen Staates vorzubereiten. Stadtteilkomitees können ein Bestandteil dieses Prozesses sein. Sie sollten jedoch nicht als isolierte Einheiten betrachtet werden, sondern als Verbindungsglieder zu anderen politischen Kämpfen dienen – insbesondere zur Betriebsarbeit. Nur so kann politisches Bewusstsein in der gesamten Gesellschaft gefördert werden, wobei die zentrale Rolle der Arbeiter:innen im Produktionsprozess stets im Mittelpunkt stehen muss. Entscheidend ist, die führende Rolle der Arbeiterklasse zu betonen, die das Fundament einer sozialistischen Gesellschaft bildet.
Wir arbeiten bewusst daran, eine Organisation aufzubauen, die den Sturz der politischen und ökonomischen Macht des Kapitalismus vorbereitet. Damit diese Partei wirkungsvoll agieren kann, muss sie über lokale Themen hinausdenken und die gesamte Arbeiterklasse in ihren Kampf einbeziehen. Sie soll als Instrument dienen, um Kräfte zu bündeln, Strategien zu klären und Aktionen zu organisieren – mit dem Ziel, den Sozialismus aufzubauen. Dieser bedeutet für uns eine Rätedemokratie, in der die Produktion demokratisch durch die Arbeiter:innen selbst geplant wird.
Dabei ist die Zusammenarbeit mit allen Organisationen und Gruppen der Arbeiterbewegung von zentraler Bedeutung. Unser Ziel ist die Bildung einer Einheitsfront, um den Widerstand gegen die Bedrohungen unserer Lebensbedingungen zu stärken und gleichzeitig in die Offensive zu kommen. Ein solcher umfassender Ansatz und die Einbeziehung aller Kräfte der Arbeiterbewegung sind entscheidend für bedeutende Fortschritte im Kampf für eine neue Gesellschaft.
Daher ist es essenziell, dass sich die Stadtteilgewerkschaften von ihrem territorial begrenzten Aktivismus und der Isolation von realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen lösen. In ihrer aktuellen Praxis bleiben sie sektiererisch und isolieren die organisierten Anwohner:innen von den dringend benötigten Kämpfen der breiteren Gesellschaft. Eine revolutionäre Bewegung kann nicht allein durch die Durchsetzung kleiner ökonomischer Reformen entstehen.
Menschen, die Hoffnung in die Arbeit der Stadtteilgewerkschaften setzen, müssen in Kontakt mit sozialen Bewegungen und den Kämpfen in den Betrieben treten. Stadtteilkomitees können dabei eine wichtige Rolle als Multiplikatoren in die Betriebe hinein übernehmen. In diesem Zusammenhang ist die Arbeit von Hände weg vom Wedding positiv hervorzuheben.
Für eine erfolgreiche gesellschaftliche Transformation ist jedoch eine Strategie erforderlich, die über die Grenzen einzelner Viertel hinausgeht. Sie muss lokale Kämpfe mit breiteren sozialen Bewegungen und der organisierten Arbeiter:innenklasse verknüpfen und gleichzeitig aus erfolgreichen internationalen Kämpfen lernen. Erst dann kann der Traum, vom Viertel aus das System zu stürzen, Realität werden.