Vom Pariser Mai 68 zur heutigen Staatskrise in Brasilien: Ein historischer Vergleich

01.06.2017, Lesezeit 15 Min.
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Inmitten großer Mobilisierungen der Arbeiter*innenklasse kommen stabil gehaltene Regime schneller ins Wanken als gedacht. Während heute Michel Temer um sein Amt bangt, brachte der Pariser Mai 68 den General Charles de Gaulle an den Rande des Sturzes. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier enorm wichtiger Kapitel der revolutionären Arbeiter*innenbewegung.

Selbst die allergrößten Patriot*innen ziehen im Falle revolutionärer Eruptionen das sichere Ausland der eigenen Heimat vor. So auch der Held der französischen Bourgeoisie, der General Charles de Gaulle, der am 29. Mai 1968 fluchtartig das Land gen Baden-Baden verließ, ohne das zunächst das französische Volk wusste, wo sein Staatspräsident war. De Gaulle war seit seinem militärisch-bonapartistischen Putsch 1958 zehn Jahren das Staatsoberhaupt der neu gegründeten V. Republik. Auch heute noch besteht die Verfassung von 1958 mit seinen quasi-diktatorischen Befugnissen fort: Die Ausrufung des immer noch geltenden Ausnahmezustandes am 14. November 2015 sowie die Durchsetzung der Arbeitsrechtsreform mittels Dekret über den Verfassungsartikel 49 Absatz 3 zeugen davon.

Obzwar die bürgerliche Demokratie die beste Herrschaftsform für die Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie ist, kommt nicht selten vor, dass das Recht des bürgerlichen Staates gebrochen wird. Besonders in Krisenzeiten greift die Bourgeoisie immer mehr zu undemokratischen Formen, wie auch das Beispiel des institutionellen Staatsstreiches in Brasilien zeigt. Zwar wurde die frühere Präsidentin Dilma Roussef sowohl vom Kongress als auch vom Senat des Amtes enthoben, der heutige Präsident Michel Temer jedoch gewann mangels Wahlen keine einzige Stimme des brasilianischen Volkes. Dennoch bestimmte dieser ein Kabinett, das ausschließlich aus männlichen und weißen Ministern besteht, die unter anderem die Einfrierung der Sozialausgaben des Staates für die nächsten 20 Jahre beschlossen. Dabei wird gegen 60 Prozent der Abgeordneten des Kongresses und Senats, die für ihn stimmten, aufgrund des Verdachtes der Korruption ermittelt.

Während de Gaulle sich nach dem Putsch in Form eines Referendums (eine typische Form der bonapartistischen Herrschaft) im September 1958 bestätigen ließ, hielt Temer nicht einmal das für nötig (oder möglich). Die Ursachen für beide Krisen, die nach ihrer Amtsübernahme folgen sollten, sind sehr unterschiedlich, doch die Formen der institutionellen Staatskrisen – Frankreich im Mai 1968 und Brasilien heute – gleichen sich mit der Zeit an. Hier eine Regierung, die an den Rand gedrängt zu immer größeren Repressionsmitteln greift; dort eine Arbeiter*innenklasse, die mit der Zeit ein immer größeres Selbstvertrauen gewinnt und durch um sich greifende Streiks das ganze Land lahmlegt. Es ist ebenso nur natürlich, dass sich beide Proteste gegen den Präsidenten konzentrierten und jeweils den Rücktritt forderten (mit Parolen wie #ForaTemer oder „Dix ans, ça suffit”, zehn Jahre sind genug, eine Anspielung auf die damalige Herrschaftszeit de Gaulles).

Doch die Formen des militanten Widerstandes und besonders die Generalstreiks wirken dergestalt, dass die Massen sich nicht mehr auf einzelne Forderungen beschränken, sondern den gesamten Staat und damit auch die in ihm herrschenden Verhältnisse in Frage stellen. Was im Pariser Mai 68 der Fall war und eine revolutionäre Situation heraufbeschwor, ist in Brasilien im Mai 2017 noch nicht der Fall. Gleichwohl bleibt die schwelende Staatskrise ungelöst und ein Blick in den Mai 68 zeugt von wichtigen Lehren.

Der Geist des Mai 68

Was passierte im Pariser Mai 68 und warum ist diese Periode immer noch tief im Gedächtnis der französischen Gesellschaft verankert?

Am 19. November 1964 beginnt die Zeitung Le Nouvel Observateur ein Interview mit dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre mit folgenden Worten:

Die Presse verkündet es, die Regierenden beglückwünschen sich dazu: Frankreich „entpolitisiert” sich. Die französische Jugend wendet sich angeblich nicht nur von den Parteien und den Ideologien ab, sondern von Ideen ganz allgemein. Es heißt, sie habe nur noch einen Gott, die Technik, und träume nur noch vom Wohlstand.

Was für eine Ouvertüre, nicht einmal vier Jahre vor dem großen Ausbruch! Der Mai 68 kam für die meisten Zeitgenoss*innen unerwartet und überraschte sowohl mit seiner Radikalität als auch mit seiner Imagination. Gemeinhin wird der Beginn des „Mai 68” auf den 22. März datiert, als die Studierenden in einem Pariser Vorort namens Nanterre gegen die schlechten und autoritären Studienbedingungen sowie den imperialistischen Vietnam-Krieg protestierten und sich Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. Auf dieses Datum bezogen entstand die „Bewegung 22. März”, die einen deutsch-französischen Studenten der Soziologie namens Daniel Cohn-Bendit („Ich bin ein marxistischer Anarchist”) zum Anführer haben sollte.

Doch es wäre vermessen und falsch, die daraus folgende Bewegung, die Ende Mai über zehn Millionen Streikende erfassen sollte, als einen plötzlichen Donnerschlag in das verfaulte gaullistische System zu betrachten. Schon im Jahr zuvor gab es Streiks der Arbeiter*innen in der Textilbranche in Lyon oder gar Barrikaden von Metallarbeiter*innen in Caen. Die französische Arbeiter*innenklasse, gestählt durch die Erfahrungen der Résistance, ging also keineswegs unerfahren in den Mai 68.

Gleichwohl bildeten die Studierenden Anfang des Monats die Avantgarde der Proteste, die am 3. Mai mit der Besetzung der Sorbonne durch die Polizei eskalierte. Von da an verging kaum ein Tag ohne Straßenschlachten im Quartier Latin, wo sich die Universität im Herzen der Stadt befand. Das Charakteristikum an diesen Tagen war, dass sich die Studierenden nicht von der Repression einschüchtern ließen, sondern im Gegenteil mit immer weiteren Mobilisierungen letztlich erreichten, dass am 13. Mai seitens der Gewerkschaften der Generalstreik ausgerufen wurde. Was sodann folgte, war kein Abebben der Proteste, sondern eine stetige Vergrößerung hin zu anderen Betrieben, die nach und nach sogar besetzt wurden.

Die andauernde brutale Polizeirepression führte auch dazu, dass sich die Bevölkerung (besonders im umkämpften Quartier Latin) mit den Protestierenden verbündete. Der heutige Philosoph und das damalige Mitglied der studentischen Aktionskomitees, Arno Münster, schilderte die dramatischen Vorfälle in der Nacht der Barrikaden am 10. Mai wie folgt:

Um 2.15 Uhr erhält die Polizei über Funk („von höchster Stelle“) den Befehl zum Angriff. Etwa 10.000 mit Gasmasken, langen „matraques“ (Schlagstöcken), stählernen Schilden, Helmen und Schutzbrillen ausgerüstete CRS-Polizisten stehen rund 20.000 kampftechnisch völlig unterlegenen und schlecht ausgerüsteten Studenten gegenüber. […] Die Polizei setzt massiv Tränengas und Offensivgranaten ein, die bei den Demonstranten Erstickungszustände und Verbrennungen im Lungengewebe verursachen. Unter dem Schutz der Gasmasken dringen die CRS-Kompanien weiter vor. […] Gegen 5 Uhr bricht der Widerstand der Studenten, die inzwischen zahlreiche Schwerverletzte zu beklagen haben, allmählich zusammen. […] Alle Krankenhäuser sind überfüllt. Blutkonserven beginnen knapp zu werden. Die meisten der Eingelieferten leiden an Verbrennungen, Vergiftungen, Schädelbrüchen und sonstigen Frakturen. Polizei verfolgt und schlägt erbarmungslos auf alles, was sich auf der Straße aufhält, ein.

Zwischen der Jugend und der Arbeiter*innenklasse entstand ein kraftvolles Bündnis, das selbst die Kommunistische Partei Frankreichs und die unter ihrem Einfluss stehende Gewerkschaft CGT nicht verhindern konnte. Die Streikbewegung wuchs und wuchs, die Proletarier*innen stellten die zentrale Frage, wer das Sagen im Betrieb habe: die Besitzer*innen oder die Arbeiter*innen?

Es gab nahezu keinen Sektor, der nicht im Streik war: Eisenbahnen, Raffinerien, Autoindustrie, Müllentsorgung, Telekommunikation, Post etc. – es war ein Bild, wie wir es fast im Frühjahr 2016 ebenfalls sehen konnten, nur auf einer höheren Ebene, da mehr Bereiche umfasst und die Streiks intensiver waren. In der zweiten Maihälfte war es, als die Streikbewegung ihren Höhepunkt erreichte, als das ganze Land paralysiert war und Einwohner*innen Hamsterkäufe tätigten. Es war, wie der brillante Zeitzeuge Daniel Singer schrieb, als würde sich Frankreich mental auf einen gewaltigen Aufstand vorbereiten.

Verpasste Tage

Die Zeit ist ein wichtiges Element in der Politik, vor allem in einer revolutionären Epoche. Um verlorene Monate einzuholen, braucht man manchmal Jahre und Jahrzehnte. – Leo Trotzki

Der Pariser Mai 68 mündete nicht in eine Revolution, obwohl am 24. Mai selbst die Börse in Brand gelegt wurde. Denn zur gleichen Zeit trafen sich die Regierung samt der wichtigsten Arbeitgeber*innenverbände mit den Gewerkschaftsspitzen, um das Grenelle-Abkommen zu vereinbaren: Erhöhung des Mindestlohns um 35 Prozent, allgemeine Lohnerhöhung um zehn Prozent (die schnell von der Inflation absorbiert wurde) sowie eine Festlegung der 40-Stunden-Woche waren das Ergebnis. Ein lächerliches Ergebnis (das auch zunächst von den besonders kämpferischen Renault-Arbeiter*innen abgelehnt wurde), da im Gegenzug seitens der Gewerkschaften die Demobilisierung der Bewegung versprochen wurde – und auch vom Gewerkschaftssekretär der CGT, Georges Seguy, auch lakaienhaft befolgt wurde.

Die Geschichte wiederholte sich hier nicht als Tragödie, wie es der Fall gewesen wäre, wenn die Vereinbarungen wenigstens das Niveau des Matignon-Abkommens gehabt hätten – jener Vereinbarungen, die im Zuge der revolutionären Situation vom Juni 1936 festgelegt wurde. War für revolutionäre Sozialist*innen das Matignon-Abkommen eine Farce, so waren die Grenelle-Vereinbarungen die Parodie einer Farce, wie es Daniel Singer treffend feststellte.

Charles de Gaulle selbst, der nach einer Absprache mit General Massu, dem Kommandanten der in Deutschland stationierten Einsatzkräfte, wieder nach Frankreich zurückgekehrt war, ging nun zur Offensive über. In einer Fernsehansprache erklärte er die Nationalversammlung für aufgelöst und kündigte Neuwahlen an. Viel wichtiger jedoch: Er erklärte den Streikenden den Kampf an und machte unmissverständlich klar, dass er nicht aufgeben würde.

Am folgenden Tag organisierten die Gaullist*innen einen nationalen Demonstrationszug mit anderen (extrem-)rechten Gruppen, die rund 500.000 Menschen mobilisieren konnte. Es wäre oberflächlich, die Wende im Mai 68 in der Fernsehansprache de Gaulles zu sehen, entscheidend war vielmehr, dass die Gewerkschaften und besonders die KPF mit ihrer Politik eine derart bremsende Wirkung entfalteten, dass die Streiks Mitte Juni vorbei waren. Sie bildeten gleichzeitig den Schlusspunkt der letzten revolutionären Situation in Frankreich, zu der es auch fast nach einem halben Jahrhundert nicht wieder gekommen ist. Gleichwohl, der Pariser Mai blieb ein Schreckgespenst für die Bourgeoisie, ein Alptraum, zu dem es nie wieder kommen sollte.

Der Antritt der brasilianischen Arbeiter*innenklasse

Über die Jahre hinweg zeigte sich in Brasilien eine Jugendbewegung, die es durchaus mit jener 68er-Bewegung aufnehmen kann. Sicher, der Mai 68 betraf nicht nur die Studierenden, sondern auch die Schüler*innen; sie war jedoch nicht so langanhaltend wie die Jugendbewegung in Brasilien, die 2013 zur Zeit des Confederation Cups gegen die Preiserhöhung der Metro in São Paulo begann. Kombiniert mit den kommenden Großereignissen (Fussball-Weltmeisterschaft der Männer 2014, Olympia 2016 in Rio de Janeiro) wirken die Jugendproteste bis heute nach und Ende 2016 waren über 1.000 Schulen und über 100 Universitäten besetzt. Ein nationales Phänomen, das von denjenigen organisiert wurde, deren Zukunft von der Temer-Regierung zerstört werden soll.

Ähnlich wie im Mai 68 wies die Jugend Brasiliens den Weg voran, den die Arbeiter*innenklasse am 28. April mit über 40 Millionen Streikenden bei einem Generalstreik bestritt. Wenn in Brasilien von einer Mediensperre seitens der kapitalistischen Medienkonzerne gesprochen werden konnte, so erinnert das stark an die ersten Tage im Mai 68, als das Staatsfernsehen unter Kontrolle der Gaullist*innen die Proteste der Studierenden ebenfalls mit Ignoranz begegnete. Es ist aber die Tragödie beider Erfahrungen, dass der Mangel einer revolutionären Führung die Bewegungen daran hindert, weitergehende Schritte etwa in Richtung eines unbefristeten Generalstreiks zu tätigen.

Ähnlich wie die KP vor fast 50 Jahren spielt heute die ehemalige Regierungspartei PT eine klassenversöhnlerische Rolle, die sogar auf große Mobilisierungen während des Amtsenthebungsverfahrens gegen ihre eigene Präsidentin verzichtete. Obgleich es große, vor allem historische Unterschiede zwischen beiden Parteien gibt, eint beide, dass sie sich um die Rolle der besseren Verwaltung der kapitalistischen Ordnung bewerben. Während damals wie heute der Kampfgeist und die Entschlossenheit des Proletariats zum Kampf so groß wie eh und je sind, sind es die Führungen, die eher darauf hinarbeiten, die Bewegung zu demobilisieren als die Kontrolle über sie zu verlieren.

Ein Ausgangspunkt für revolutionäre Politik kann allerdings die Tatsache sein, dass sowohl im heutigen Brasilien als auch in Frankreich die Arbeiter*innenklasse bereits über Kampferfahrungen gegen eine „linke” Regierung verfügt. Der Kampf gegen das Loi Travail führte zu einer völligen Abkehr der Arbeiter*innen und Jugendlichen von der Sozialistischen Partei, was sich ein Jahr später in ihrer krachenden Wahlniederlage widerspiegelte, das ein Ende dieser Partei in ihrer alten Form darstellte. In Brasilien drückte sich dieser Protest 2014-15 gegen die Präsidentin Dilma Roussef aus, die mehr oder weniger das Amt vom (heute immer noch) populären Ex-Gewerkschafter Lula geerbt hatte. In wichtigen Sektoren wie bei der Müllentsorgung von Rio de Janeiro, der Metro in São Paulo oder den Universitätsbeschäftigten der Universität von São Paulo konnten durch beispielhafte Streiks wichtige Siege errungen werden.

Der Bruch speziell der fortgeschrittensten Arbeiter*innen mit den „linken” Regierungen ist das eine – ein anderes und mindestens genauso wichtiges Element ist der Bruch mit den Gewerkschaftsbürokratien. Ein Schritt, der heute in beiden Ländern viel schwerer fällt (und damit die akute Notwendigkeit revolutionärer-antibürokratischer Arbeit in den Gewerkschaften signalisiert) und eine weitere Analogie zum Mai 68 aufzeigt. In jenen Tagen fiel nicht nur der Bruch mit der KPF (von einigen Sektoren in der Jugend abgesehen) aus, sondern auch mit der Gewerkschaftsbürokratie, die eine konterrevolutionäre Rolle gespielt hatte. Es ist hierfür eine politische Intervention notwendig, welche die Forderungen der Arbeiter*innen bei Streiks aufnimmt und sie über das ökonomische Maß hinaus ausweitet. Die Streiks im Mai 68 zogen sich selbst bis zum 10. Juni mit neun Millionen Streikenden hin, sie zielten zwar auch auf reale materielle Verbesserungen hin, beinhalteten aber auch den Sturz des antidemokratischen gaullistischen Systems in ihren Forderungen.

Eine radikale Forderung und der Beweis, in welche Höhen das Klassenbewußtsein der Arbeiter*innen erhoben worden war infolge der Mobilisierungen und Kämpfe. Denn es war keineswegs so, dass die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse vorher de Gaulle ablehnte. Jean-Paul Sartre bemerkte dazu im Interview unter dem Titel „Der neue Gedanke des Mai 68”:

Man darf den Bürger, der für de Gaulle stimmt, weil er in ihm seinen Beschützer sieht, nicht in einen Topf werfen mit dem Arbeiter, der vom „Vater de Gaulle” spricht und ihm seine Stimme gibt, weil er das „Gemauschel” der Parteien aller Richtungen nicht leiden kann und er auf jede Politik pfeift. Die Welt der Arbeiter ist die Arbeit. An dem Tag, an dem der Generalstreik ausgerufen wird, wird er streiken, aber mit seinen eigenen Anführern, das heißt seinen Gewerkschaftsführern. Und wenn das Regime dabei fallen sollte – um so besser. Doch bis dahin interessiert ihn das politische Spiel nicht.

Michel Temer auf der anderen Seite hat längst nicht das Prestige eines de Gaulle. Die Enthüllungen des Fleischfabrikanten Joesley Batista in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft stärken den Eindruck, dass er vielmehr eine auswechselbare Figur ist. Es ist bezeichnend, dass sich Batista mit dieser Enthüllung von der Justiz freikaufte… und sich sodann nach New York absetzte.

Im Gegenzug zu de Gaulle verkörpert er nicht die Figur, hinter der sich ein bonapartistisches Regime etablieren könnte. Gleichwohl; ein Bonaparte in Brasilien müsste im Gegensatz zu Frankreich den Interessen des Imperialismus dienen und dessen Absatzmärkte garantieren. Nicht unwahrscheinlich also, dass dieser in klassischer Manier als Schiedsrichter aus dem Justizwesen kommen wird.

Ein schleichender Mai?

Die Lage in Brasilien hat sich jedoch noch nicht so zugespitzt wie im Mai 68 in Frankreich. Sie ist auch noch nicht mit dem sogenannten schleichenden Mai ein Jahr später in Italien gleichzustellen, der ebenfalls in einer langen Streikwelle seine Stärke demonstrieren konnte. Ebenso fehlt der internationale Charakter dieser Mobilisierung, von der die 68er-Bewegung profitieren konnte. Vielmehr hat besonders der Generalstreik eine Bresche geschlagen in ein Situation, die nicht nur auf dem lateinamerikanischen Kontinent von einem Rechtsruck gekennzeichnet war. Der Putsch Temers war der beste Ausdruck dessen, was schon in Argentinien begonnen hatte und was sich seit mehreren Monaten in Venezuela vollzieht. Können die verschiedenen Bewegungen der Jugend, der Frauen sowie der Arbeiter*innenklasse derart vereinigt werden, dass sie den Rechtsruck und damit weitere Angriffe auf die Ausgebeuteten und Unterdrückten stoppen?

Wie im Mai 68 muss sich der Widerstand nicht nur gegen den Putsch von Temer, sondern auch gegen das kapitalistische System richten, die eine historische Krise mit 14 Millionen Arbeitslosen im Land verursacht hat. Die Entwicklung in Brasilien vollzieht sich zwar nicht so rasant wie damals in Frankreich, jedoch fängt sie immer mehr an, ihre Schritte zu vervollständigen und zu beschleunigen: Die landesweite Demonstration in der Hauptstadt Brasilia war der Ausdruck dessen und der Angriff auf das Landwirtschaftsministerium samt dem Militäreinsatz stellen die nächste Stufe der Eskalation dar.

Michel Temer und seine korrupte Clique sind aber ebenso bereit, die Lage zu eskalieren und keinerlei Zugeständnisse zu machen. Schwer vorstellbar derzeit, dass sie selbst zu Zugeständnissen nach Muster des Grenelle-Abkommens machen würden. Eine andere Frage allerdings, ob die brasilianische Bourgeoisie dies in Zeiten der wirtschaftlichen Krise überhaupt tun könnte.

Die Widersprüche innerhalb der Führung des Landes zeugen jedoch von immer offeneren Rissen: Am 28. Mai wechselte Temer den Justizminister aus. Sicherlich ein Schachzug, um die kommende Entscheidung des Wahlgerichtshofes über die Annullierung der Wahl Temers 2014 zum Vizepräsidenten, zu beeinflussen – schließlich war der neue Justizminister Torquato Jardim selbst Richter an diesem Wahlgericht. Ebenso ist er der Vorsitzende der Bundespolizei, die im Verbund mit der Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen Temer wegen Korruptionsverdacht aufnehmen soll. Eine absurde Konstellation, nach der quasi Temer über Umwege gegen sich selbst ermittelt – gleichzeitig typisch für die bürgerliche Klassenjustiz, von der sich übrigens auch das Rechtssystem in Deutschland nicht wesentlich unterscheidet.

Das Überleben der Bewegung in Brasilien hängt davon ab, ob eine ähnliche Streikbewegung wie im Frankreich 68 entstehen kann. Der unbefristete Generalstreik wird der Weg sein, auf dem die Arbeiter*innen nicht nur das öffentliche Leben lahm legen, sondern auch die Fabriken besetzen und damit gleichzeitig die Machtfrage im Betrieb stellen. Eine Parallele, die zum Mai 68 gezogen werden sollte und die sodann unweigerlich die Machtfrage im Staate selbst stellen wird.

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