Vom Niedergang der „Kritischen“ Theorie am Beispiel Palästinas
Unter dem Titel „Grundsätze der Solidarität“ veröffentlichten die Überbleibsel der einst prominenten Kritischen Theorie vor Kurzem ihre Stellungnahme zur aktuellen Situation im Nahostkonflikt. Einseitig, realitätsfern und wohl kaum dialektisch vollenden sie damit die Degeneration ihrer Theorieströmung.
Die derzeitige Situation, die durch den an Grausamkeit nicht zu überbietenden Angriff der Hamas und Israels Reaktion darauf geschaffen wurde, hat zu einer Kaskade von moralisch-politischen Stellungnahmen und Demonstrationen geführt. Wir sind der Auffassung, dass bei all den widerstreitenden Sichtweisen, die geäußert werden, einige Grundsätze festzuhalten sind, die nicht bestritten werden sollten. Sie liegen der recht verstandenen Solidarität mit Israel und Jüdinnen und Juden in Deutschland zugrunde.
Mit diesem Absatz beginnen die Autor:innen des am 13. November veröffentlichten Statements ihre Intervention in den deutschen Nahost-Diskurs im Kontext der derzeit stattfindenden Kriegsverbrechen des israelischen Staates gegen die Bevölkerung Gazas. Eine Einleitung, die durchaus eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik erwarten lässt – doch weit gefehlt. Was wir im Folgenden zu lesen bekommen, ist nur die nächste Anpassungsstufe der selbsternannten „kritischen“ Theoretiker:innen an die deutsche Staatsräson und damit einhergehend die nächste Stufe im Niedergang der einst so radikal anmutenden Frankfurter Schule.
Die ursprüngliche Kritische Theorie gründete sich 1924 am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Ihre im Laufe der nächsten Jahrzehnte an akademischen und gesellschaftlichen Ruhm gewinnenden Vertreter:innen waren, unter anderen, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm, Walter Benjamin und Herbert Marcuse, später Jürgen Habermas, und letztlich Axel Honneth, Rahel Jaeggi und Robin Celikates. Werke wie Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung oder Marcuses Der Eindimensionale Mensch gehören zum Basiswissen jeder sich als links verstehenden Person, wie auch zur Pflichtlektüre eines jeden Philosophiestudiums. Freilich, wie „kritisch“ und letztendlich revolutionär-überwindend die Ausarbeitungen der Frankfurter Schule schon damals waren, ist sicher von Person zu Person unterschiedlich zu beurteilen und auch insgesamt in Frage zu stellen. Schon damals machte zum Beispiel die Figur Adorno Schlagzeilen mit seinem Elitismus und seiner Feindschaft gegenüber linken Bewegungen, und auch Horkheimer ließ bekanntlich verlauten: „Denn ich wollte nicht, dass man meine Schriften als revolutionäre Propaganda benutzt. Kritik der Gesellschaft, ja. Aber Aufforderung zur Revolution, keineswegs!“. Und doch ist nicht zu leugnen, dass die hier genannten Denker ihr theoretisches Fundament im Marxismus gefunden haben, wenn auch in einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem.
Dass sich eine Degeneration jener Theorie-Richtung vollzogen hat, so der heutige Konsens, ist klar ersichtlich an der Person Jürgen Habermas, dem prominentesten Unterzeichner der Stellungnahme. Habermas, der mit seiner Theorie des Kommunikativen Handelns zwar ein beachtliches Werk geschrieben hat, lässt sich wohl kaum noch als Marxist bezeichnen, nicht mal im entferntesten Sinne. Später gewissermaßen zu einem öffentlichen Intellektuellen entwickelt, ist er wohl heute nur noch als der ulkige Opa der deutschen Philosophie bekannt. Bei den restlichen Unterzeichner:innen des Textes handelt es sich um die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, den politischen Theoretiker Rainer Forst und den Juristen Klaus Günther – allesamt an der Goethe-Universität Frankfurt angestellt.
Eine „kritische“ Theorie „gerechtfertigter Gegenschläge“ von Kolonialstaaten?
Im Text liest sich weiter:
Das Massaker der Hamas in der erklärten Absicht, jüdisches Leben generell zu vernichten, hat Israel zu einem Gegenschlag veranlasst. Wie dieser prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag geführt wird, wird kontrovers diskutiert; Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Vermeidung ziviler Opfer und der Führung eines Krieges mit der Aussicht auf künftigen Frieden müssen dabei leitend sein.
Immerhin: Verhältnismäßigkeit und das Nicht-Töten von Zivilist:innen sollen Teil „kontroverser Debatte“ bleiben dürfen. Ansonsten lässt sich diesem Musterbeispiel kommunikativen Handelns nicht viel abgewinnen. An erster Stelle stehen hier, dem zionistischen und bürgerlichen Narrativ folgend, die schrecklichen Verbrechen der Hamas vom 7. Oktober – eine Vorgeschichte israelischer Besatzung, Apartheid und Siedlerkolonialismus scheint es nicht zu geben. Stattdessen wird der Blick einseitig auf die Untaten der Hamas gelenkt, die einen Gegenschlag Israels „prinzipiell“ – also im Grundsatz undiskutierbar – rechtfertigen. Dass es sich hierbei um den „Gegenschlag“ einer vom westlichen Imperialismus unterstützten Kolonialmacht handelt, bleibt unerwähnt. Wie die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Territorien und Menschenrechtsanwältin Francesca Albanese klarstellt: Israel „kann nicht das Recht auf Selbstverteidigung gegen eine Bedrohung beanspruchen, die von dem von ihm besetzten Gebiet ausgeht – von einem Gebiet, das unter kriegerischer Besetzung gehalten wird.“
Wir dürfen also über Proportionalität (im Rahmen eines prinzipiell gerechtfertigten „Gegenschlages“) diskutieren, aber: „Bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung verrutschen die Maßstäbe der Beurteilung jedoch vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden.“ In anderen Worten: Sorge um ermordete Kinder (5.500 an der Zahl, Stand 22. November) hin oder her, wenn wir das Handeln des israelischen Staates (in ihren Augen) falsch kategorisieren – da ziehen die „kritischen“ Theoretiker:innen eine Grenze. Der Universalismus kommunikativen Handelns hat scheinbar das Spezifikum zur Vorbedingung, dass der israelische Staat zum Völkermord grundsätzlich nicht fähig ist – jede solche Anschuldigung disqualifiziert die Diskutant:innen.
Was schon lächerlich klingt, wird noch aberwitziger, wenn wir überlegen, gegen wen sich dieser Satz richtet. Denn nicht nur verblendete Linksradikale oder Islamist:innen bezeichnen das Vorgehen Israels als (potentiellen) Genozid, sondern auch die Vereinten Nationen, unter vielen anderen. In einer Pressemitteilung lassen diese verlauten:
Wir schlagen Alarm: Es gibt eine laufende Kampagne Israels, die zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza führt. In Anbetracht der Äußerungen führender israelischer Politiker und ihrer Verbündeten, die von Militäraktionen im Gazastreifen und einer Eskalation der Verhaftungen und Tötungen im Westjordanland begleitet werden, besteht auch die Gefahr eines Völkermords am palästinensischen Volk. [eigene Übersetzung]
Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Lage in Palästina seit Langem, so auch in der derzeitigen Eskalation. Die Menschenrechtsorganisationen Al-Haq, Al Mezan, und das Palestinian Centre for Human Rights stellten am 9. November Anzeige vor dem Internationalen Strafgerichtshof, in der sie die israelischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nämlich Apartheid und Genozid, anprangern. Am 13. November verklagte das US-amerikanische Center for Constitutional Rights den US-Präsidenten Joe Biden wegen Duldung und Beihilfe zum Genozid. Auch unzählige Akademiker:innen schließen sich diesen Warnungen an, so etwa der israelische Historiker Omer Bartov, weltweit anerkannt für seine Studien zum Holocaust und zu Genozid. Der israelische Historiker Raz Segal spricht von einem „textbook case of genocide“ („Lehrbuchbeispiel von Genozid“). Doch diese Stimmen haben keinen Platz im Kommunikationsideal von Habermas und Co.
„Diejenigen in unserem Land”
Aber noch nicht genug. Der letzte Teil der Stellungnahme liest sich wie eine Seite aus dem Textbuch der deutschen Staatsräson. Zu Recht weisen die Autor:innen auf die Gefahren eines steigenden Antisemitismus hin, der sich zuletzt beispielsweise in Schmierereien in Berlin offenbarte. Natürlich, Antisemitismus ist in voller Härte zu verurteilen und zu bekämpfen. Antisemitismus ist und bleibt ein ur-deutsches Phänomen: Straftaten gegen Jüd:innen werden zu 84 Prozent von Rechtsradikalen begangen. Doch auf diesen Antisemitismus haben die „kritischen“ Denker:innen es wohl nicht primär abgesehen.
Was darüber hinaus unerwähnt bleibt: Was ist mit den palästinensisch, arabisch oder muslimisch-gelesenen Menschen, die ebenso eine Zunahme an Hass, Rassismus und Gewalt fürchten müssen? Um nur ein Extrembeispiel zu nennen: Vor kurzem wurde der sechsjährige Sohn palästinensischer Migrant:innen im US-Bundesstaat Illinois vom Vermieter der Familie erstochen. Das Motiv der Tat lag laut den Sicherheitsbehörden selbst klar begründet im Angriff der Hamas und eines daraus resultierenden Rassismus. Der Täter soll gebrüllt haben: „You Muslims must die!“ („Ihr Muslime müsst sterben!“). Erst vor wenigen Tagen wurden drei Palästinenser im US-Bundestaat Vermont angeschossen. Auch in Deutschland müssen so gelesene Personen aktuell mit einer beispiellosen Welle von polizeilicher Repression, medialer Hetze und rassistischen Anfeindungen leben: Etwa, wenn sich Betroffene und solidarische Menschen auf Palästina-Demos zusammenfinden und dort festgenommen und nachträglich diffamiert werden; etwa, wenn Moscheen Hassnachrichten und Hundekot per Brief erhalten; etwa, wenn ein Schüler des Berliner Ernst-Abbe-Gymnasiums von einem Lehrer geschlagen wird, weil er auf dem Schulhof mit einer Palästinafahne herumläuft, oder aber wenn ein Mädchen von mehreren Mitschüler:innen krankenhausreif geprügelt wird, weil sie eine Kette mit arabischen Schriftzug trägt. Doch diese Fakten auszulassen, um ein einseitiges Narrativ zu befeuern, ist inzwischen nichts Neues. Aber dass die „kritische“ Theorie nur auf bestimmte Menschengruppen anwendbar ist, ist zumindest in dieser Form ein Novum.
Nachdem die Unterzeichner:innen nun die Verbrechen der NS-Zeit ins Spiel bringen, um für das Existenzrecht Israels zu argumentieren, lassen sie verlauten:
Die elementaren Rechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit sowie auf Schutz vor rassistischer Diffamierung sind unteilbar und gelten gleichermaßen für alle. Daran müssen sich auchdiejenigen in unserem Landhalten, die antisemitische Affekte und Überzeugungen hinter allerlei Vorwänden kultiviert haben und jetzt eine willkommene Gelegenheit sehen, sie ungehemmt auszusprechen. [eigene Hervorhebung]
Wer „diejenigen in unserem Land“ wohl sein könnten, ist im derzeitigen Diskurs nicht schwer zu erraten: Hier wird auf den Mythos des „importierten Antisemitismus“ angespielt, der besagt, dass der Antisemitismus ein aus muslimischen Ländern zugewandertes Phänomen sei. Oder warum würde man sonst eine solche, nach rechts offene Formulierung wählen, wenn man alternativ auch einfach von „allen“ sprechen könnte. Die „unteilbaren“ Rechte auf Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Schutz vor Rassismus scheinen, so die Konsequenz der Andeutung, nicht für palästinensische, arabische und muslimische Menschen zu gelten.
Als jene Linke, die wir den tatsächlichen Sinn des Wortes „kritisch“ noch nicht vergessen haben, stehen wir ganz klar auf Seite der Unterdrückten und Kolonisierten, hierzulande wie in Palästina und Israel. Wir stellen uns gegen die falschen, rassistischen Erzählungen vom „importierten Antisemitismus“ und gegen die Mobilisierung der deutschen NS-Vergangenheit zur Rechtfertigung genozidaler Bestrebungen jeglicher Art. Und natürlich stellen wir uns gegen das Existenzrecht Israels: Nicht gegen das Existenzrecht des israelischen Volkes, an dessen Seite wir gegen Unterdrückung, Kapitalismus und Krieg kämpfen; sondern gegen die Existenz des bürgerlichen Staates Israel, wie er aktuell unterdrückt, ausbeutet und mordet. Unsere Perspektive ist die eines freien, laizistischen und sozialistischen Palästinas.
Die hoffentlich letzte Generation der „kritischen“ Theorie
Das, was Marxist:innen unter dem Begriff der Dialektik kennen, war einst das – selbsternannte – Steckenpferd der frühen Frankfurt Schule. Horkheimer schreibt in Traditionelle und Kritische Theorie: „Das Wort ist nicht so sehr im Sinne der idealistischen Kritik der reinen Vernunft als in dem der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie gemeint. Es bezeichnet eine wesentliche Eigenschaft der dialektischen Theorie der Gesellschaft.“1 Man muss allerdings nicht in die Tiefen der Dialektik abtauchen, um zu erkennen: Was die „kritischen“ Denker:innen dieser Stellungnahme hier fabriziert haben, ist wohl so weit vom dialektischen Denken entfernt, wie etwas nur sein kann. Dialektik bedeutet, einzelne Momente immer im Kontext ihres Prozesses zu verstehen. Dialektik bedeutet, das Konkrete immer mit dem Allgemeinen in Verbindung zu bringen. Werden hingegen, unter Ausschluss der Gesamtzusammenhänge, nur diejenigen Momente fokussiert, die der Ausbeutung und Unterdrückung zuträglich sind, so haben wir es mit einer ideologischen, d.h. verkürzten und herrschaftstragenden Darstellung zu tun. Stuart Hall beschreibt das folgendermaßen:
Wenn wir bei unserer Erklärung nur ein Moment bevorzugen und das differenzierte Ganze oder ‚Ensemble‘, von dem es ein Teil ist, nicht berücksichtigen; oder wenn wir Kategorien des Denkens verwenden, die nur einem solchen Moment angemessen sind, um den gesamten Prozess zu erklären, dann laufen wir Gefahr, eine ‚einseitige‘ Erklärung abzugeben, wie Marx es (nach Hegel) genannt hätte. Einseitige Erklärungen sind immer eine Verzerrung. Nicht in dem Sinne, dass sie eine Lüge über das System wären, sondern in dem Sinne, dass eine ‚Halbwahrheit‘ nicht die ganze Wahrheit über irgendetwas sein kann.2
Der russische Revolutionär Leo Trotzki veranschaulicht:
Dialektisches Denken steht zum üblichen Denken im gleichen Verhältnis wie der Film zur bewegungslosen Fotografie. Der Film macht nicht die bewegungslose Fotografie wertlos, sondern verbindet eine Reihe von ihnen gemäß den Gesetzen der Bewegung.
Selbstverständlich sind solche simplen Einsichten relevant für jeden kritischen Geist, ob er sich nun marxistisch nennt oder nicht. Doch selbst dieser grundlegenden Dimension kritischen Denkens verschließt sich die Stellungnahme von Habermas und Co. Völlig einseitig und in kompletter Ausblendung größerer Zusammenhänge, seien es die Vorgeschichte der seit nunmehr 75 Jahren andauernden Landnahme und Vertreibung, die imperialistischen Interessen westlicher Großmächte in der Region, oder der bloße Klassencharakter des israelischen Staates, sprechen die Unterzeichner:innen eine Bekundung zum Kolonialstaat Israel aus, dessen „Gegenwehr“ in ihren Augen „prinzipiell gerechtfertigt“ ist – egal, was der Kontext ist.
Diese Unfähigkeit, strukturelle Zusammenhänge und ihre historische Komplexität ausreichend zu greifen; stattdessen eine Momentaufnahme als Grundlage für jegliche weitere Argumentation anzunehmen, das wäre vom herrschenden Diskurs durchaus zu erwarten. Dass nun diese selbsternannten „kritischen“ Theoretiker:innen in die gleiche Kerbe schlagen, ist ein eindeutiger Ausdruck des Niedergangs ihrer Theorieströmung. Denn durch die Demonstration, dass sie selbst dialektische Grundlagen nicht mehr anwenden können, dass sie grundlegende Zusammenhänge nicht mehr zu greifen vermögen, wird auch fraglich, inwiefern sich die „kritische“ Theorie überhaupt noch von jenen Mainstream-Wissenschaften abhebt, in dessen Opposition sie sich einst gegründet hatten. Was bei Horkheimer schon „Kritik ja, Revolution nein“ war, ist heute vermutlich zu „Forschungsgelder ja, Kritik nein, Revolution auf gar keinen Fall“ verkommen. So können wir heute wohl nur noch hoffen, dass es sich bei der aktuellen Generation um die letzte Generation der „kritischen“ Theorie handeln wird.
Fußnoten
1. Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 4, Schriften 1936–1941, Fischer, Frankfurt am Main 1988, S. 162–216, hier: S. 180.
2. Stuart Hall: Selected Writings on the Question of Marxism, Duke University Press, Durham 2021, S. 147, eigene Übersetzung.