Vom Müllwagen ins Parlament – Interview mit Alejandro Vilca
Alejandro Vilca (41) arbeitete zehn Jahre lang als Müllarbeiter in der Stadt Jujuy im äußersten Nordwesten Argentiniens. Bei den letzten Wahlen trat er als Spitzenkandidat für die Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) an. Die FIT bekam 18 Prozent der Stimmen, und nun sitzt mit Vilca ein indigener Arbeiter im Provinzparlament.
Wie war dein Alltag vor ein paar Monaten?
Ich hatte den normalen Alltag eines Arbeiters. Jeden Tag um 4.30 Uhr traf ich mich mit meiner Kolonne aus drei bis vier Kolleg*innen. Wir fuhren mit dem Müllwagen durch Alto Comadero, ein armes Viertel außerhalb der Stadt Jujuy mit 90.000 Einwohner*innen. Um 13 oder 14 Uhr hatten wir eine Mittagspause, und danach mussten wir meistens bis 18 oder 19 Uhr weiterarbeiten.
Das klingt furchtbar.
Es ist sehr harte, körperlich anstrengende Arbeit. Die Müllsäcke stapeln wir auf dem Wagen, es ist wie Tetris. Manchmal stürzt so einen Mullsack-Berg auf einen Kollegen. Die Stadt besitzt moderne Müllwagen, aber sie bleiben auf den unbefestigten Straßen stecken und wir müssen normale LKWs nehmen. Wir haben mit Giften und Krankheitserregern zu tun. Besonders schlimm sind Glasscherben. Es ist die niedrigste Arbeit und niemand will sie machen. Einige meiner Kolleg*innen zum Beispiel können nicht lesen oder schreiben.
Warum hast du diese Arbeit gemacht?
Ich hatte Architektur studiert, aber nicht abgeschlossen. Ich arbeitete als Bauzeichner für die Stadt Jujuy. Aber ich arbeitete schwarz. Outgesourcte Arbeiter*innen aus dem öffentlichen Dienst und aus privaten Firmen haben eine Koordinierung gegründet, um Festanstellungen zu fordern.
Nach vielen Kämpfen wurden wir dann fest angestellt – aber dafür wollten uns die Chefs bestrafen. Etwa zehn von uns aus der Koordinierung wurden in den Mülltransport abkommandiert. Besonders am frühen Morgen kann Alto Comadero gefährlich sein. Wir bekamen weder Schutzkleidung noch Handschuhe für diese Arbeit.
Wie war das für dich?
Nach den ersten Arbeitstagen war ich tot. Zu Hause angekommen konnte ich nicht duschen, nicht mal sprechen. Aber man wird stärker – und bildet auch Antikörper. Nach keinen zwei Wochen hatten wir unseren ersten Streik organisiert. So konnten wir über die letzten zehn Jahre viele Verbesserungen erreichen.
Wie ging die Gewerkschaft mit diesen Streiks um?
Die Führung fand diese Kämpfe nicht gut. „Warum streikt ihr? Ihr habt doch gerade erst angefangen.“ 2015 wurde ich sogar aus der Gewerkschaft ausgeschlossen.
Und was verdiente man für diese Arbeit?
Mein Leben war sehr bescheiden. Ich verdiente etwa 20.000 Pesos im Monat (800 Euro), was in Jujuy kein schlechter Lohn ist. Aber dafür musste ich mich tot arbeiten. Immerhin entwickelten wir gute Beziehungen zu den Nachbar*innen. Sogar die Hunde kannten uns und haben morgens auf uns gewartet, um Müll zu bekommen.
Wie bist du Abgeordneter geworden?
Im Oktober letzten Jahres haben wir als Front der Linken und Arbeiter (FIT) 18 Prozent der Stimmen in Jujuy erhalten. Landesweit bekam die FIT etwas mehr als fünf Prozent. Jujuy war besonders. Hier lagen wir nur einen Prozent hinter den Peronist*innen, die jahrzehntelang an der Regierung waren. Jetzt stellen wir vier von den 48 Abgeordneten im Provinzparlament. Aber unsere Anerkennung in der Stadt kam nicht aus einem Wahlkampf – wir waren bereits aus dem Klassenkampf bekannt.
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Wie sieht jetzt dein Alltag als Abgeordneter aus?
Die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien erscheinen meistens nur zu den Sitzungen – einmal alle zwei Wochen. Wir sind immer hier, wenn die Büroangestellten hier sind, also werktags von 7-13 Uhr. Arbeiter*innen oder indigene Bauern*Bäuerinnen kommen zu uns und erzählen von ihren Problemen und Kämpfen. Es gibt immer Konflikte. Bei jedem Streik stehe ich am Fronttransparent.
Zum Beispiel jetzt an der Zuckerraffinerie „Esperenza“ sind 338 Kolleg*innen entlassen worden. (Zucker gehört zu den wichtigsten Produkten des Nordwestens.) Die Regierung ist direkt verantwortlich, denn die Firma steht seit letztem Jahr unter staatlicher Insolvenzverwaltung. Der Staat hat diese Entlassungen verordnet, angeblich um das Unternehmen rentabel zu machen. Dazu haben wir im Parlament eine Anfrage gemacht – und gleichzeitig haben wir aus unseren Diäten 200.000 Pesos (8.000 Euro) für den Streikfonds gespendet.
Wie hoch sind die Diäten?
Der Einstiegsgehalt für einen Abgeordneten liegt bei rund 100.000 Pesos (4.000 Euro) im Monat. In Argentinien herrscht momentan Austeritätspolitik: Die Renten werden gekürzt, weil es ein Defizit gibt. Wir von der FIT nehmen nur den Lohn, den wir vorher als Arbeiter*innen verdient haben, also etwa ein Fünftel. Der Rest geht in den Kampffonds.
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Du gehörst zum indigenen Volk der Kolla. Welche Bedeutung hat das in der Politik?
Bis zu 80 Prozent der Menschen in Jujuy haben indigene Wurzeln. Aber die Mehrheit der Abgeordneten sind Weiße. Die Provinz gehört einigen wenigen Familien. Die Regierung und das Oberste Gericht funktionieren wie eine Monarchie. Indigene Arbeiter wie ich waren bisher nie im Parlament zu sehen. Deswegen waren arbeitende Menschen auch begeistert, dass „einer von uns“ gewählt wird. Eine lokale Sängerin hat ein Lied für die Kampagne gedichtet: „Trabajadores al poder“ (Arbeiter an die Macht). Manchmal wird behauptet, wir Trotzkist*innen wären alle Student*innen. Aber hier zeigen wir, dass wir die ärmsten Schichten der Arbeiter*innenklasse anführen können.
Die FIT ist ein Wahlbündnis aus drei trotzkistischen Parteien. Wie würdest du denn Trotzkismus erklären?
Trotzkismus ist die extreme Linke. Wir kämpfen für die Selbstorganisierung der Arbeiter*innen. Die Perspektive ist eine Arbeiter*innen-Regierung. So lässt sich das zusammenfassen.
dieses Interview im neuen Deutschland
Alejandro Vilca ist ein führendes Mitglied der Partei Sozialistischer Arbeiter*innen (PTS), der argentinischen Schwesterorganisation von RIO, der Revolutionären Internationalistischen Organisation.