Vier Tage der Selbstermächtigung

04.02.2025, Lesezeit 8 Min.
Gastbeitrag

In Buenos Aires kämpfen Kolleg:innen und Patient:innen gegen die Schließung ihres Krankenhauses

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Kundgebung zum Jahrestag des Aufstands von 2001, am 20. Dezember 2024 in Buenos Aires. Foto: Alix Arnold

Das Hospital Laura Bonaparte ist ein Modellprojekt der Psychiatriereform, mit ambulanter Versorgung und Außenstellen in Armenvierteln. Die Milei-Regierung will das Krankenhaus schließen. Aber die Kolleg:innen wehren sich. Im Oktober besetzten sie ihr Krankenhaus, organisierten sich in Versammlungen, bildeten Kommissionen und erhielten den Betrieb aufrecht. Patient:innen kamen zur Unterstützung. Nach vier ereignisreichen Tagen war die Schließung erstmal vom Tisch. Aber der nächste Angriff folgte im Januar 2025, mit 200 Entlassungen. Das Krankenhaus ist zurzeit wieder bedroht.

Am Nachmittag des 4. Oktober 2024, einem Freitag, ist Javier Ríos wie viele andere Kolleg:innen bereits auf dem Weg nach Hause, als er eine WhatsApp-Nachricht erhält. Die Gewerkschaft ATE beruft eine Versammlung in der Klinik ein, sofort! Es sei dringend. Schnell sickert die Nachricht durch: Diesmal geht es nicht nur um Entlassungen; das ganze Krankenhaus mit mehr als 500 Beschäftigten soll am Montag geschlossen werden. Javier arbeitet seit zehn Jahren in der Abteilung Kommunikation. Er fährt wieder zurück zum Bonaparte und geht in den Versammlungsraum im ersten Stock. Kolleg:innen kommen ihm weinend und schimpfend entgegen. Sie wurden von der Versammlung ausgeschlossen, da sie nicht in der Gewerkschaft ATE sind, sondern in der UPCN, die in der Klinik ähnlich viele Mitglieder hat. Javier berichtet über diesen entscheidenden Moment: „Ich war total verärgert und sagte, dass das so nicht gehe, wir müssten alle zusammen über die Schließung reden, egal ob wir in der einen oder der anderen oder in gar keiner Gewerkschaft sind. ATE wollte das nicht, also haben wir mit ein paar Kolleg:innen vorgeschlagen, in die Halle runterzugehen und eine Versammlung mit allen zu machen. Dann gab ATE dem Klinikdirektor das Wort! Er ließ eine Schimpftirade los und sagte, dass ein Erlass des Ministeriums nicht diskutiert, sondern befolgt werden müsse. Da stand die Gewerkschaft ziemlich schlecht da, was dazu geführt hat, dass wir uns unabhängig von deren Führung zusammengeschlossen haben. Wir sind aufgestanden, in die Halle runtergegangen. Auf dieser ersten Versammlung haben wir beschlossen, in der Klinik zu bleiben.“

Man konnte es kommen sehen

Die Arbeitsbedingungen wurden im letzten Jahr immer schlechter. Früher gab es Jahresverträge, jetzt laufen die Verträge nur noch drei Monate. „Du kannst dein Leben nur noch für drei Monate planen. Wir haben Kolleg:innen, die seit mehr als zehn Jahren hier arbeiten und immer noch keinen Festvertrag haben“, berichtet Sol Valverde. Sie ist Sozialarbeiterin und arbeitet seit zwei Jahren in einer Außenstelle des Krankenhauses in den Stadtteilen Villa 21-24 und Zavaleta, der größten Armensiedlung von Buenos Aires. Eine andere Außenstelle in Isla Maciel, einem armen Stadtteil am Hafen, wurde im August geschlossen, 30 Leute entlassen. Im Vorfeld war die Belegschaft bereits durch die schlechten Bedingungen dezimiert worden. Kolleg:innen kündigten und wanderten in den Privatsektor ab. Eine fatale Entwicklung in einer Zeit, in der wegen der ökonomischen Krise viele Menschen aus der Sozialversicherung herausfallen und auf das öffentliche Gesundheitssystem angewiesen sind. Dass nun ein ganzes Gesundheitszentrum von einem Tag auf den anderen geschlossen und Kolleg:innen entlassen wurden, war für Sol ein Alarmzeichen. Das Hospital Bonaparte untersteht dem Gesundheitsministerium. Es war also zu befürchten, dass Mileis Feldzug gegen den öffentlichen Dienst auch das Krankenhaus treffen würde.

Einige Kolleg:innen begannen, sich auf einen solchen Angriff vorzubereiten. Sie schlugen vor, mit einem Video die Situation des Krankenhauses bekannter zu machen. Die Gewerkschaft ATE erklärte sich damit einverstanden, wollte aber selbst den Zeitpunkt der Veröffentlichung bestimmen und zögerte ihn immer wieder hinaus. Der Zeitpunkt wurde dann durch die Schließungsandrohung von außen gesetzt. Nachdem die Kolleg:innen die Besetzung beschlossen hatten, eröffneten sie den Instagram-Account #enluchaelbonaparte und luden das fertige Video hoch. Der Account hatte schon bald 37 Tausend Follower:innen, die Videos wurden bis zu 400 Tausend mal angeklickt.

Unterstützung aus anderen Krankenhäusern und von Patient:innen

Als der Konflikt bekannt wird, kommen sofort Kolleg:innen aus anderen Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Um 16 Uhr ist das Bonaparte Thema in den TV-Nachrichten. Patient:innen sehen zu Hause, dass das Krankenhaus, wo sie kostenlose Medikamente und Behandlung bekommen, geschlossen werden soll, und machen sich auf den Weg dorthin. „Für mich ist das beispielhaft, dass auch Patient:innen gekommen sind, um ihr Hospital zu verteidigen“, meint Sol. „Sie sind zum Teil die ganzen vier Tage bei uns geblieben und haben sich an der Öffentlichkeitsarbeit beteiligt, indem sie den vielen Journalist:innen vor Ort erklärt haben, wie sie hier behandelt werden und warum sie sich solidarisieren.“

In Argentinien gab es in den 1990er-Jahren eine starke Bewegung für die Abschaffung der manicomios („Irrenhäuser“), die 2010 ein sehr fortschrittliches Gesetz erreichte. Statt der Internierung sollte es ambulante interdisziplinäre Versorgung in den Stadtteilen geben, die psychiatrischen Anstalten sollten geschlossen werden. Aus dem in der Diktatur gegründeten „Zentrum für Umerziehung“ wurde das Hospital Laura Bonaparte, benannt nach einer der Mütter der Plaza de Mayo, die Sozialpsychologin war. Als Grund für die Schließungsverfügung gibt das Ministerium nun ausgerechnet an, dass im Krankenhaus zu wenige stationäre Patient:innen seien. Die vielen ambulanten Behandlungen im Hospital und in den Außenstellen werden gar nicht erwähnt.

Gelebte Demokratie: Versammlungen und Kommissionen

Bei der ersten Versammlung an dem Freitag in der Halle wird beschlossen, im Hospital zu bleiben, um es zu verteidigen. Um sicherzugehen, dass die Besetzung wirklich dem Willen der Kolleg:innen entspricht und entsprechend von allen unterstützt würde, wird noch einmal mit Handzeichen darüber abgestimmt. „Das ist das erste Mal gewesen, dass bei einer Versammlung im Hospital abgestimmt wird“, erzählt Javier, „vorher wurde immer nur informiert, nichts wurde zur Abstimmung gestellt.“ Das Ergebnis ist einstimmig.

Die Kolleg:innen organisieren sich in Kommissionen für die verschiedenen Aufgaben: Sicherheit, Öffentlichkeitsarbeit, Versorgung der Patient:innen, Essen, Kultur. Viele Künstler:innen kommen zum Bonaparte und ziehen mit ihren Darbietungen noch mehr Aufmerksamkeit auf das Hospital.

Von Samstag bis Dienstag gibt es jeden Tag eine Ver­sammlung. Hier wird jetzt entschieden, nicht mehr im Betriebsrat. Javier berichtet: „Sie haben die Ent­scheidungs­macht verloren, weil es Versammlungen mit 150 oder 250 Kolleg:innen gegeben hat. Das war eine interessante Situation von kollektiver demokratischer Aktion. Am Sonntag haben sich über 250 Kolleg:innen im Hof versammelt, alle sind super angespannt gewesen, weil wir nicht wussten, was am Montag passieren würde, ob sie die Polizei schicken würden. Sie könnten uns ja auch aushungern. Was sollen wir machen, wenn nach 14 Tagen Medikamente und andere Dinge fehlen?“ An dieser Versammlung nehmen nur die Beschäftigten teil. Nach etlichem Diskutieren darf auch der Klinikdirektor dazukommen, der eine neue Sprachregelung aus dem Ministerium mitbringt: Es ginge nicht mehr um Schließung, sondern um Umstrukturierung. Alle sollten am Montag wieder arbeiten gehen.

Trotzdem beschließen die Kolleg:innen, für Montag, 7 Uhr, zum Bonaparte zu mobilisieren. Es gibt am Sonntag noch ein weiteres Treffen mit Vertreter:innen von 150 Organisationen. Bei der Kundgebung am Montagmorgen sprechen die Kolleg:innen, bei der Pressekonferenz um 11 Uhr nur noch die Delegierten der Gewerkschaft ATE. Mit einer letzten Versammlung am Dienstag wird die Aktion beendet.

Nur ein vorläufiger Sieg

In Zeiten, in denen die Arbeiter:innenklasse ständig neuen Angriffen der Milei-Regierung ausgesetzt ist und die Gewerkschaftsverbände kaum etwas entgegensetzen, war der selbstorganisierte und erfolgreiche Kampf der Kolleg:innen des Bonaparte ein Lichtblick. Gegen die Spaltungsmanöver der Gewerkschaft konnten sie Einheit herstellen und im Oktober die Schließung verhindern. Anschließend bereiteten sie sich auf weitere Auseinandersetzungen vor. Der Instagram-Account ist weiterbetrieben worden, es gibt noch Geld in der Streikkasse und die Aktivist:innen des Bonaparte haben sich weiterhin jeden Freitag getroffen.

Am 15. Januar kündigt das Gesundheitsministerium 1400 Entlassungen an, davon 200 im Hospital Bonaparte. Eine der Entlassenen ist Sol. Die Abteilungen und Außenstellen sind mit dem reduzierten Personal kaum noch funktionsfähig. Die Kolleg:innen betrachten das als den nächsten Versuch, das Bonaparte zu schließen. Sie haben sich erneut vor Ort versammelt, um ihr Hospital zu verteidigen. Der Konflikt dauert bei Redaktionsschluss noch an.

Das Gespräch mit Sol Valverde und Javier Ríos fand am 16. Dezember 2024 in Buenos Aires statt.

Der Artikel wurde ursprünglich hier veröffentlicht.

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