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[Video] Pariser Schüler*innen sprechen über die aktuelle Jugendbewegung in Frankreich

01.05.2016, Lesezeit 9 Min.
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Nathan und Kenza, zwei Schüler*innen aus Paris, sprechen über die aktuelle Jugendbewegung gegen die Arbeitsmarktreform der Hollande-Regierung. Beide sind Mitglied der Revolutionär-Kommunistischen Strömung (CCR) der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA). Ihre Videobotschaft, aufgenommen am vergangenen Montag, wurde am Freitag bei der Veranstaltung "Französische Verhältnisse jetzt!" in Berlin abgespielt.

Kenza: Hallo, wir sind Kenza und Nathan, wir sind zwei Schüler*innen aus Paris. Wir sind sehr froh, euch diese Videobotschaft übermitteln zu können. Wir freuen uns auch sehr darüber, dass auch an den Schulen in Deutschland einiges passiert. Und weil wir auch gerade in Paris Mobilisierungen erleben, dachten wir, dass es interessant wäre, darüber zu reden, was gerade in Frankreich geschieht. Vor allem weil wir denken, dass es gut ist, dass die Jugendlichen der verschiedenen Länder sich über ihre Erfahrungen über die verschiedenen Kämpfe austauschen.

Es ist euch bestimmt nicht entgangen, dass es in Frankreich gerade eine große Mobilisierung gibt. Seit anderthalb Monaten gibt es Blockaden von Schulen, Instituten und Universitäten usw. Gerade streiken auch die Eisenbahner*innen, die ihren Streik wohl um drei Tage verlängern werden. In drei Tagen [also am 28. April A. d. Ü.] gibt es auch eine größere Mobilisierung mit Streiks in mehreren Sektoren. Darüber hinaus gibt es in mehreren Städten eine weitere Bewegung, die sogenannte Nuit Debout [aufrechte Nacht]. Vielleicht habt ihr in den Zeitungen schon davon gelesen, dort versammeln sich Leute auf großen öffentlichen Plätzen.

Nathan: Dort denken die Leute über breite und tiefgehende Fragen nach, in der Art wie: Was ist Demokratie? Welche Welt wollen wir aufbauen? Usw. Diese Bewegung fußt auf der Ablehnung, nach den Versammlungen nach Hause zu gehen. Wie zum Beispiel nach der großen Demonstration am 31. März, als 1,2 Millionen Leute auf den Straßen waren, und die Leute sagten, wir werden nicht nach Hause gehen, sondern wir werden weitermachen und diskutieren. Das ist ein sehr fortschrittliches Phänomen.

Kenza: Genau, aber wir wollen keine chronologische Abhandlung der Geschehnisse vornehmen, sondern wir dachten, dass euch vor allem interessiert, was wir als revolutionäre Aktivist*innen interessant finden und anzuregen versucht haben. Das erste, was wir anregen wollen, ist der Gedanke der Verbindung der Kämpfe der Arbeiter*innen und der Studierenden. Wie ihr vielleicht wisst, ist die Arbeiter*innenbewegung in Frankreich in den letzten zehn Jahren sehr geschwächt. Sie erfuhr große Niederlagen, vor allem mit der Rentenreform. Und wir fanden eine Jugend vor, die an den Unis und Schulen sehr isoliert war. Aber heute gibt es immer mehr Verbindungen zwischen den Studierenden, den Schüler*innen und den Arbeiter*innen – zu einem „alle zusammen“. Nicht nur die Jugendlichen beklagen sich, sondern es gibt auch Arbeiter*innen, die um ihre Arbeitsplätze kämpfen, für bessere Arbeits- und bessere Lebensbedingungen. Und dieses „alle zusammen“ ist aus dem selben objektiven Interesse entstanden. Denn auch von einem strategischen Standpunkt aus, können wir nur gemeinsam gewinnen. Das kann die Regierung zurückdrängen.

Nathan: Dieses „alle zusammen“ ist schließlich nur möglich, weil es durch diese Bewegung eine Ausdrucksmöglichkeit gibt gegen Dinge, die tiefer gehen als gegen das Gesetz „El Khomri“. Wir haben eine gigantische soziale Misere und eine angebliche linke Regierung, die alle ihre Versprechen seit ihrem Mandatsbeginn gebrochen hat. Deshalb gelangen wir gerade ans Ende des Mandats der Regierung Hollande und der Parti Socialiste. Es gibt sehr gewaltsame Angriffe auf unsere sozialen Errungenschaften und auf die Zukunft der Jugend. Und dieses Gesetz ist somit nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Dahinter steht eine viel stärkere „soziale Explosion“. Und in diesem Zusammenhang können wir auf das „alle zusammen“ zurückgreifen, das potenziell existiert. Denn die soziale Misere und der Hass auf diese Situation sind nicht mehr zu leugnen. Und es geht weit über die Schüler*innen hinaus. Das ist überall in der Gesellschaft. Und so war es möglich, die Forderung der Verbindung der Kämpfe stark in den Vordergrund zu stellen.

Kenza: Genau. Was wir auch versucht haben anzuregen, sind Orte der Selbstorganisierung an den Schulen. Seit dem 9. März, der der erste Tag der Mobilisierung war, und schon einige Tage davor, begannen die Schüler*innen Vollversammlungen zu organisieren. Und die Schüler*innen, die mehr politisiert waren und mehr über das Gesetz wussten, wollten Vollversammlungen machen und den Eingang der Schulen blockieren. Alleine schon deshalb, um allen zu erklären, dass es eine Vergrößerung des Protests braucht. Oft ist es nämlich so, dass sich die Proteste nur an schon bereits anpolitisierte Menschen richten, oder Leute, die uns politisch schon nahe stehen. So haben wir es geschafft, viel mehr Leute zu erreichen. Zunächst ging es darum, die Schüler*innen zu informieren, warum dieses Gesetz zum Kotzen ist. Aber ein Ziel war auch, die Schüler*innen zu organisieren. Das heißt, dass auf diesen Vollversammlungen nicht nur diskutiert wurde, sondern auch Dinge beschlossen wurden. Das war sehr wichtig, weil die Schüler*innen so selbst entscheiden konnten, wie sie die Bewegung gestalten.

Nathan: Aber es war auch einfach nötig wegen der Schüler*innengewerkschaften. Diese sind im Grunde politische Apparate, die von der regierenden Parti Socialiste gegründet wurden und ihr sehr nahe stehen. Und deshalb spielen sie eine Rolle, einerseits das Gesetz und ihre eigene Kapitulation zu verhandeln, und auf der anderen Seite die Bewegung zu zerstören – und das auch noch im Namen der Schüler*innen. Sie wollen alle Schüler*innen vertreten, obwohl sie nur ein paar hundert in ganz Frankreich sind. Sie nehmen den ganzen medialen Raum ein und wollen verhandeln. Und das, obwohl eine der Grundbedingungen der Bewegung die vollständige nicht zu verhandelnde Rücknahme des Gesetzes „El Khomri“ ist. Zu verhandeln ist ein unglaublicher Verrat und das auch noch in unserem Namen. Und deshalb war es notwendig, zu reagieren. Wir mussten das bekräftigen, was die Schüler*innen davor selbst beschlossen hatten. Und dieser Prozess ging weit über die einzelnen Schulen hinaus. Aus den Vollversammlungen der einzelnen Schulen wurden Vollversammlungen der Schüler*innen ganzer Städte und Regionen. Dazu gab es zwei nationale Koordinierungen. Dort waren Delegierte der verschiedenen Städte und Regionen, um auf nationaler Ebene den Fortgang der Bewegung zu diskutieren.

Kenza: Das ist etwas, was es in Frankreich seit einem Jahrzehnt nicht hatten. Eine nationale Koordinierung gab es sonst nicht.

Nathan: Ja, seit der Bewegung gegen den Erstanstellungsvertrag im Jahr 2006, die die Regierung stürzte. Es ist interessant zu beobachten, wie diese Tradition nun wieder auflebt. Das haben wir stark in den Vordergrund gestellt, weil wir denken, dass es notwendig ist. Um andere Schüler*innen in den Kampf zu holen, genügt es nicht, einzelne passive Leute auf Demonstrationen anzusprechen, sondern auch ein Angebot zu machen, selbst die Bewegung zu sein und selbst über sie nachzudenken. Die einzige Antwort, die die Regierung hat, ist Repression. Mit Festnahmen, Schlägen, Pfefferspray und Tränengas, das ist krass gewalttätig. Das Niveau der Repression ist unglaublich hoch. Jede Woche sehen wir neue Waffen, die gegen die Demonstrierenden eingesetzt werden. Die Festnahmen werden immer systematischer usw. Und dadurch wird die Ausnahme zur Regel. Dazu kam noch die administrative Repression. Schulen und Unis wurden geschlossen, um zu verhindern, dass die Vollversammlungen stattfinden. Und auch das Zählen von Fehltagen oder Noten und anderen administrative Sanktionen usw. Sie machen das, um die Schüler*innen zu terrorisieren.

Kenza: Alle Repression gegen die Schüler*innen und Studierenden ist dazu da, um die Bewegung zu schwächen. Und andererseits lädt der Regierungschef die Jugendgewerkschaften zu sich ein. Das ist ein Versuch der Spaltung der Jugend. Unsere Stärke folgt aus unserer Entschlossenheit und unserem Willen weiter zu kämpfen und noch mehr Leute zu erreichen. Sie gehen nicht mehr nur gegen dieses Gesetz auf die Straße, sondern gegen ein System, das uns unterdrückt. Ob das Gesetz „El Khomri“ durchkommt, ist nicht unbedingt die entscheidende Frage, weil es andere Gesetze mit ähnlichem Inhalt geben wird, die unsere Lebensbedingungen massiv verschlechtern. Und unsere Stärke folgt aus unserem Willen, zahlreich dagegen anzukämpfen. Das ist etwas, was in Frankreich passiert, aber das muss auf weltweiter Ebene geschehen.

Nathan: Genau. Die Unternehmer*innen haben eine Sache gut verstanden: Unser Kampf hört nicht dort auf, wo die französische Grenze endet und andere Länder liegen. Eine prekarisierte Jugend, die die Schnauze voll hat, gibt es nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Und deshalb wollen sie, dass wir nicht nur in Frankreich die Krise zahlen, sondern auch in Deutschland und allen anderen europäischen Ländern. Solange die Kapitalist*innen eine internationale Politik haben, brauchen wir auch eine.

Unseren Kampf möchten wir euch mit diesem Video vorstellen. Wir wollen euch zeigen, was hier passiert, weil wir zusammen Schulter an Schulter zwischen Frankreich und Deutschland, aber auch auf der ganzen Welt, eine Front aufbauen wollen, die sich den Kapitalist*innen entgegenstellt. Und deshalb: Internationale Grüße und bis bald, wie wir hoffen!

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