Verletzungen am Rücken haben alle von uns – Interview mit einem Gorillas-Rider

13.06.2021, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Anai Paz (Dieses Bild zeigt nicht die interviewte Person)

Im Laufe ihres Streiks enthüllen die Gorilla-Riders die prekären Arbeitsbedingungen und stellen weitergehende Forderungen aufgestellt. Interview über alle Hintergründe.

Was sind deine Kritikpunkte an den Arbeitsbedingungen bei Gorillas?

Mein Hauptkritikpunkt ist das Geld, das wir bekommen, es ist völlig unzureichend, es ist ein Job, der viel besser entlohnt werden sollte. Ich verstehe Geld als ein Äquivalent unserer Zeit. Die Tatsache, dass wir 10 Euro pro Stunde bekommen, impliziert, dass unsere Zeit sehr wenig wert ist als die Zeit derjenigen, die die Firma leitet. Um das bildlich zu machen, möchte ich aufzeigen, wie ein Lager aufgebaut ist: Es gibt die Riders, die Lieferleute. Sie sind die Basis der Pyramide von Gorillas. In den Lagerhäusern gibt es Kollegen, die den Einkauf zusammenstellen, die Pickers. Dann gibt es Leute, die die Inventur machen, und es gibt Vorgesetzte für jeden dieser drei Bereiche und von dort aufwärts. Die unterste Ebene des Managements, diejenigen, die exekutive Entscheidungen treffen können, sind unsere direkten Vorgesetzten: Rider-Ups, Warehouse Managers, Pickers-Koordinator. Ich weiß nicht, wie viel diese Leute verdienen. Was ich weiß, ist, dass wir Riders am wenigsten verdienen. Sogar in den Reihen von Riders gibt es eine Lohnspaltung, weil die ersten 100 oder 200 Riders, die Gorillas eingestellt hat, mehr verdienen als andere.

Das Bonussystem ist spalterisch und fördert Konkurrenz unter Arbeiter:innen. Es lautet wie folgt: Je mehr Aufträge Sie erteilen, desto mehr werden Sie bezahlt. Jeder würde sagen: Das klingt toll. Aber es ist etwas, das nur den Wettbewerb unter den Arbeiter:innen fördert und Spannungen erzeugt, um zu sehen, wer mehr Befehle ausführt, um zu sehen, wer gehorsam ist. Oft wird uns gesagt, wir sollen das hier putzen, das Bad reinigen, den Müll aufsammeln und so weiter. All dies geschieht mit der Mentalität, dass wir ein Team beziehungsweise eine Familie sind und wir uns daher umeinander kümmern müssen. In den Lagern herrscht eine Atmosphäre der Geschwisterlichkeit und Solidarität, aber sie ist überhaupt nicht politisiert. Der Wettbewerb ist etwas, das die Dinge immer schneller werden lässt, und am Ende des Tages sind es die Beschäftigte, die unter den Folgen leiden.

Wie sieht euer Arbeitsalltag aus?

Neben der schlechten Bezahlung gibt es einen weiteren Punkt, der die Psyche, den Geist und den Körper der Arbeiter betrifft. Diese Sache, die ganze Zeit sehr schnell zu sein, hindert uns daran, Pausen zu machen, Wasser zu trinken oder uns für einen Moment zu entspannen. Wir haben zwar formell eine halbe Stunde Pause, wenn wir eine volle Schicht arbeiten. Aber oft werden die Beschäftigte zu „Arschlöchern“, wenn sie Pausen machen. In den Lagern gibt es Spitzen, wo sich viele Aufträge in 3-4 Stunden konzentrieren und das sind sehr anstrengende Zeiträume. Im Lager in Friedrichshain gibt es die Spitzenzeiten von fünf Stunden, in denen es keine Zeit oder Möglichkeit gibt, eine kurze Pause zu machen oder auf die Toilette zu gehen. Die Leute, die sich darum kümmern, sind die Vorgesetzten, die Rider Ups. Es ist mir schon mehrmals passiert: ich komme von einer Bestellung, ich will auf die Toilette gehen und man sagt mir, dass ich jetzt nicht gehen kann. Bei vielen Gelegenheiten habe ich es in Kauf genommen, nicht auf die Toilette zu gehen, nicht zu essen oder eine kurze Pause zu machen.

Die Regelung der Schichten ist willkürlich. Eigentlich bietet Gorillas den Arbeiter:innen die Möglichkeit, die Arbeitszeit selbst zu bestimmen. Doch teilt dir die Firma Schichten zu, die du selbst nicht aussuchen darfst. Dementsprechend wurde ich für eine Doppelschicht eingeteilt, weshalb ich Freitag und Samstag 16 Stunden zu arbeiten hatte. Das war ermüdend. Ein Kollege hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass diese Regelung illegal sei, da zwischen den Schichten eine Arbeitspause von mindestens elf Stunden liegen müsse.

Ein weiterer Punkt zum Thema körperliches Wohlbefinden ist, dass es eine Menge Anforderungen gibt, die das Gewicht übersteigen. Es gibt ein empfohlenes Gewicht, aber es gibt kein gesetzliches festgelegtes Maximum. Es gibt einen Vorschlag, dass das Höchstgewicht 10 kg betragen sollte, aber das wurde in keinem Lager durchgesetzt. Ich habe deutlich mehr als 10 Kilo tragen müssen. Da ich etwas größer bin als die anderen, sagen sie mir: „Nimm diese 15 Flaschen, der Rucksack reicht! Tu es!“ Nicht alle Arbeiter haben einen Körper wie ich, daher gibt es viele Menschen, die Gewichte tragen müssen, die überhaupt nicht für ihren Körper und ihre Größe geeignet sind. Im Laufe der Zeit hat sich dies auf unsere Gesundheit ausgewirkt. Ich würde sagen, dass die meisten Menschen chronische Rückenschmerzen haben. Ich habe es. Das habe ich schon vorher gehabt, aber das hat es nur noch verschlimmert. Alle meine Kollege:innen im Kollektiv haben es auch, es ist eine Konstante.

Die Position, in der wir mit einem Rucksack radeln müssen, ist überhaupt nicht angenehm oder gesund. Es gab schon viele Vorgesetzte, die darauf bestanden, dass wir die Rucksäcke auf dem Rücken tragen, anstatt Dinge in den Korb zu legen, der vor dem Fahrrad steht. Sie haben sogar den Korb entfernt. In einigen Fällen habe ich gesehen, wie sie Arbeiter:innen verhöhnt haben. Viele sagen, dass ein Auftrag zu schwer ist und sie ihn nicht tragen wollen. Die Vorgesetzten machen sich über sie lustig und sagen: „Ich trage ihn, wenn es sich so viel kostet“. Das sollte niemals passieren. Wenn sich jemand weigert, einen Auftrag mitzuführen, wird diese Person ihre Gründe haben. Diese Gründe sollten unstrittig sein.

Wie habt ihr euch organisiert, um das Kollektiv zu gründen?

Nach den inoffiziellen Streiks, die im Februar in einigen Lagern stattfanden, begannen sich einige Kolleg:innen zu organisieren. Sie trafen sich zwei oder drei Mal, bevor ich dazukam. Ich habe in Kreuzberg angefangen zu arbeiten. Zwei Wochen nach meinem Arbeitsbeginn luden sie mich ein. Beim ersten Treffen waren nur sehr wenige Leute da und ich war sehr pessimistisch, was die Organisierung angeht. Ich dachte, es würde ein weiterer vergeblicher Versuch der Organisation werden. Beim zweiten Treffen waren es sogar noch weniger Leute. Ich glaube, wir waren ungefähr zu dritt. Kurz darauf versuchten sie, einen Kollegen zu feuern, und wir konnten den Entlassungsprozess rückgängig machen, weil er auf nicht legale Weise durchgeführt wurde. Sie hatte nicht die rechtlichen Voraussetzungen, um eine offizielle Entlassung zu sein. Infolge dieser Entlassung und zum Schutz des Arbeitnehmers haben wir das Verfahren eingeleitet. Die Personen, die diese Wahl ausrufen, haben Rechtsschutz und können nicht entlassen werden. Sobald es rückgängig gemacht wurde, begannen wir mit dem Prozess, die Wahl auszurufen. Heute ist der Erste der Brustkaninchen, die hoffentlich in den folgenden Monaten zur Bildung des Betriebsrats führen werden. Der Betriebsrat war die juristische Figur, die wir als am besten geeignet für uns ansahen. Wir sehen es als ein Werkzeug. Als etwas, das im Gesetz verankert ist, das unser Recht ist und das wir als Arbeitnehmer nutzen können. Parallel dazu haben wir Tag für Tag den Rest der Arbeiter aufgefordert, den Gewerkschaften beizutreten, weil dies ein weiteres Werkzeug ist, um sich zu organisieren. Der Betriebsrat ist der direkteste, der das Unternehmen unmittelbar betrifft, er ist das interne Organisationsorgan.

Nach der Entlassung begannen wir uns jedes Wochenende zu treffen, um diesen Prozess zu organisieren. Jeden Sonntag haben wir ein Plenum mit 10-20 Personen. Einige Leute sind am Anfang dazugekommen, andere sind gegangen, wieder andere sind erst kürzlich dazugekommen. Ich würde sagen, es waren 7 oder 8 Leute, die von Anfang an dabei waren.

Wie hat dein Arbeitgeber reagiert, als er hörte, dass ihr einen Betriebsrat gründet und ihr euch selbst organisieren wollt?

Ich glaube, sie wussten nicht, was sie tun sollten. Sie haben mitgespielt und wollten ein wirklich freundliches Gesicht zeigen. Wir haben irgendwie gehört, dass sie nach unserer Aktion ein juristisches Team angeheuert haben. Sie schickten sofort eine teilnahmslose E-Mail, in der stand: „Oh, wir unterstützen euch“. Aber selbst in dieser E-Mail waren Dinge falsch geschrieben und sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Die erste E-Mail bezüglich des Prozesses sagte so etwas wie, dass sie wirklich begeistert sind, dass einige Arbeiter:innen die Initiative ergriffen haben, den Betriebsrat zu gründen, und dass sie 100 Prozent dahinter stehen. Aber das taten sie nicht. Sie waren zwar bereit, die E-Mails zu beantworten, aber nicht, das zu liefern, worum wir gebeten haben. Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Dingen. Die Fassade der Kommunikation mit ihnen ist auf eine oberflächliche Art und Weise. Wir haben es heute in der Versammlung gesagt, auch sie scheinen sich mit uns vertragen zu wollen, sie haben eine Menge Dinge getan, die genau das Gegenteil davon waren und wir haben alle Beweise: E-Mails, die ausgetauscht wurden. Es war nicht nur von einer Person, sondern von der ganzen Firma. Aber sie wussten, dass sie es vermasselt hatten.

Ihr habt von Anfang an mit der Gründung des Betriebsrats eine Politik nach außen gemacht…

Ja. Wir haben versucht, ein Gleichgewicht zwischen dem zu finden, was wir intern und extern tun. Der bisherige Prozess war nicht geheim, sondern anonym. Mit Ausnahme der drei Personen, die zur heutigen Versammlung aufgerufen haben. Alle anderen Personen, die Teil des Kollektivs sind, mussten anonym bleiben, um sich vor Vergeltungsmaßnahmen oder Entlassungen zu schützen.

Uns war von Anfang an klar, dass wir ein Netzwerk aus Allianzen und Beratung aufbauen müssen. Wir haben durch Kampf über unsere Möglichkeiten gelernt. Vor fünf Monaten wusste ich nichts über das deutsche Arbeitsrecht und jetzt weiß ich viel mehr, was heute passiert, was wir vorbereiten, was ein Betriebsrat ist, was die Technik und die Abläufe dieser Veranstaltung sind. Der Rest meiner Kolleg:innen auch. Dies sind dank der Hilfe vieler Menschen möglich gewesen. Von Anfang an haben uns die Leute von der FAU geholfen. Das erste Treffen, an dem ich teilnahm, fand in ihren Büros statt. Kurz darauf kamen wir mit Leuten von NGG in Kontakt. Der Anwalt, der uns gegen den Kündigungsversuch einer unserer Kollegen beraten hat, gehört zu dieser Anwaltsvereinigung „Aktion Arbeitsunrecht“. Als wir uns mit diesen Gruppen vernetzten, meldeten sich immer mehr Menschen. Jetzt unterstützen uns Kolleg:innen von der „Technical Workers Coalition“. Wir haben sogar an der 1. Mai-Protestaktion teilgenommen und eine Rede gehalten. An dieser Stelle möchte ich auch Migrantifa Berlin und und dem Klassenkampfblock danken, dass wir eingeladen wurden eine Rede zu halten.

Welche Erwartungen habt ihr von heute an?

Der Hauptzweck ist das Treffen und das Organisieren an sich. Dazu noch das Zusammenkommen an jedem Wochenende war die Hauptsache. Das hat uns alle auf Trab gehalten. Der Betriebsrat ist etwas, das in der Zukunft kommen wird. Ich sehe ihn wieder einmal als ein Werkzeug. Wenn alles gut läuft, wird er uns helfen, hoffentlich bessere Arbeitsbedingungen zu haben. Warum gehe ich zu den Treffen? Um meine Kolleg:innen zu sehen und uns zu organisieren. Gerade in Zeiten der Pandemie wurde die Isolation und Entfremdung noch größer und tiefer, als sie ohnehin schon war. Wir alle brauchten es, wir alle brauchten Menschen um uns herum für eine Sache. Das Wichtigste für uns ist, dass wir uns treffen und aktiv werden. Wir haben ein gemeinsames Interesse an einigen Dingen und wir wollen eine Veränderung. Wir wollen die Dinge besser machen. Wir wissen, dass wir gemeinsam für eine Veränderung kämpfen müssen. Gorillas Workers Collective ist so viel mehr als nur ein Kollektiv. Es gibt genderqueere Vertreter:innen und wir kämpfen gemeinsam gegen diese Machtunterschiede, Sexismus und Unterdrückung. Wir wollen diese ganzen Konstruktionen auflösen. Wir wollen es auf unsere Art und Weise machen und auf unsere Art arbeiten.

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