Venezuela nach den Wahlen: Ein Land am Rande des Abgrunds

02.08.2017, Lesezeit 10 Min.
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Die bürgerliche Presse hat eine einhellige Meinung zu den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung am vergangenen Sonntag in Venezuela: Sie waren ein blutiger Schritt hin zur Verfestigung der Diktatur Nicolás Maduros. Eine marxistische Analyse muss die sich unter der Oberfläche befindenden Tendenzen erkennen, um die wirklich entscheidende Frage zu beantworten: Was bedeuten die Wahlen für den Machtkampf zwischen Opposition und Regierung und was sind die Perspektiven für die venezolanische Arbeiter*innenklasse?

Das Panorama vor den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung in Venezuela war äußerst aufgeladen: Eine schreckliche wirtschaftliche Situation traf mit einem angespannten politischen Lagerkampf und einer gesellschaftlichen Polarisierung zusammen. Präsident Nicolás Maduro wollte mit den Wahlen einen Ausweg aus der Krise finden, die sich seit dem Tod Hugo Chávez‘ vor fünf Jahren immer mehr vertieft und in den letzten Monaten immer neue Höhepunkte erreicht hatte. Die internationale Presse, von der New York Times über El País und die Frankfurter Allgemeine Zeitung, schäumte: Die Wahlen zur Nationalen Verfassungsgebenden Versammlung (ANC) seien ein weiterer, bedeutsamer Schritt hin zur Errichtung einer Diktatur in Venezuela.

Imperialistische Einmischung

Auch die Aussagen wichtiger Vertreter*innen der imperialistischen „internationalen Gemeinschaft“ klingen ähnlich. US-Finanzminister bezeichnete den venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro als „Diktator“ und kündigte an, seine Konten in den USA einzufrieren. Damit ist Maduro gemeinsam mit Baschar al-Assad und Kim Jong-un einer der wenigen Staatsoberhäupter, gegen das eine solche Strafe verhängt wurde. Schon in der Vorwoche hatte das US-amerikanische Finanzministerium Strafen gegen 13 aktuelle und ehemalige Regierungsmitglieder aufgrund ihrer Position bezüglich der Verfassungsgebenden Versammlung verhängt.

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini verurteilte den „übermäßigen“ Einsatz von Gewalt durch die Regierung und kritisierte die Durchführung der Wahlen. In einem ähnlichen Ton griff auch Angela Merkels Regierungssprecher Stefan Seibert Maduro dafür an, mit der Wahl „das Land weiter zu spalten“. Die Regierung des Spanischen Staates rief die anderen EU-Staaten dazu auf, Sanktionen gegen die venezolanische Regierung zu verhängen.

Ähnliche Reaktionen kamen auch von zahlreichen rechten Regierungen Lateinamerikas. Bedeutende Länder wie Mexiko, Kolumbien, Brasilien und Argentinien erkannten die Wahlen nicht an und bereiten reaktionäre Antworten vor. Die peruanische Regierung rief elf lateinamerikanische Länder zu einem gemeinsamen Treffen auf, um auf die Situation in Venezuela zu reagieren, und die argentinische Regierung kündigte an, neue Maßnahmen durch das Staatenbündnis Mercosur treffen zu wollen. All diese Reaktionen werden unterstützt von der venezolanischen Opposition, vereinigt in der MUD.

Die imperialistische Heuchelei ist offensichtlich: Während in Deutschland zur Durchführung des G20-Gipfels demokratische Rechte beschnitten wurden und die Polizei brutal gegen „Linksterrorist*innen“ vorging, werden in Venezuela die Proteste der Rechten unterstützt und die Regierung für die Repression verantwortlich gemacht. Vor nicht einmal einem Jahr putschte sich der brasilianische Präsident Michel Temer mithilfe des korrupten Parlaments an die Macht, doch keine die Regierungen erhoben damals ihre „demokratischen Einsprüche“. Es ist klar, dass es sich um eine geopolitisch motivierte „Hexenjagd“ gegen eine der letzten Regierungen, die von der „rosa Welle“ postneoliberaler links-gerichteter Regierungen übrig geblieben ist, handelt. Weder Trump noch Merkel oder die bürgerliche Opposition in Venezuela wollen die „WIedereinführung der Demokratie“, sondern die Durchführung eines neoliberalen Privatisierungs- und Sparprogramms und die Etablierung einer pro-imperialistischen Regierung.

Ziel der Wahlen

Waren also die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung eine fortschrittliche Maßnahme der Maduro-Regierung, um sich durch die Legitimierung durch die Bevölkerung vor der imperialistischen Agenda zu schützen? Ganz im Gegenteil. Tatsächlich handelt es sich um eine neue Eskalation im Machtkampf zwischen Regierung und Opposition, der nun schon seit mehr als drei Monaten in verschärfter Form anhält. Mit der „Konstituante“ wollte Maduro die Initiative zurückgewinnen und gleichzeitig die Macht des von der Opposition beherrschten Parlaments einschränken.

Dazu nutzte er vollkommen undemokratische Methoden, um sich schon a priori eine Mehrheit zu sichern. Deshalb wurde der Wahlmechanismus so angepasst, um den von der Regierung dominierten Gebieten eine überproportionale Repräsentation zu verschaffen. Außerdem griff die Regierung zur direkten Einschüchterung und Bedrohung: Den Bewohner*innen der Armenviertel, die auf die Verteilung von Essensrationen durch die lokalen Komitees (CLAP) angewiesen sind, wurde damit gedroht, sie von den Listen zu streichen, sollten sie nicht zur Wahl gehen. Den Beschäftigten des großen Staatssektors wurde direkt mit der Entlassung gedroht, falls sie sich nicht an der Wahl beteiligen sollten. Zur Überprüfung der Beteiligung wurden zusätzlich zur Erfassung der Wähler*innen durch das Nationale Wahlkomitee (CNE) direkt von der Regierung extra Geräte aufgestellt, mit der die Personalausweise aller Beteiligten gespeichert wurden.

Kampf um die Bilder…

Trotz all dieser repressiven Methoden waren die Straßen vor den Wahllokalen nicht wie bei anderen Wahlen üblich von langen Schlangen bevölkert, die sich zur Stimmabgabe bildeten. Wie zu erwarten war, waren die Wahllokale in den von der Opposition kontrollierten Bezirken im Osten der Hauptstadt Caracas, wo die urbane Mittelklasse wohnt, vollkommen leer. In den Tagen zuvor hatten Anwohner*innen in verschiedenen Städten das CNE sogar an der Einrichtung von Wahllokalen gehindert.

Doch auch in den ärmeren Vierteln, die einst als Bastionen des Chavismus galten, war die Beteiligung nicht mit anderen Wahlen zu vergleichen. Einige im Internet und dem venezolanischen Fernsehen verbreitete Bilder zeugen von enormen Menschenansammlungen an einigen Orten. Dafür wurden jedoch mehrere Wahllokale aus besonders einwohnerstarken Bezirken zusammengelegt und andere Lokale dafür geschlossen.

… und um die Zahlen

Die durch das CNE veröffentlichten Zahlen sprechen eine eigene Sprache. Angeblich lag die Wahlbeteiligung bei 41,5 Prozent, was bei einer Gesamtzahl von 19,5 Millionen wahlberechtigten Venezolaner*innen 8,089 Millionen Stimmen ergibt. Tatsächlich ist schon die veröffentlichte relative Wahlbeteiligung extrem gering und liegt weit unter den Prozentzahlen, die Hugo Chávez zu seinen Glanzzeiten erreichte. Trotzdem wäre es in absoluten Zahlen gesprochen das beste Ergebnis für den Chavismus in den gesamten 18 Jahren seines Bestehens, wenn man davon ausgeht, dass nur Anhänger*innen des Chavismus zur Wahl gingen, da sowohl die Opposition als auch die „kritischen Chavist*innen“ die Wahl boykottierten. Demzufolge hätte Maduro durch die Wahlen zur Konstituante 2,5 Millionen Stimmen mehr erreicht als noch bei den Parlamentswahlen 2015. Und dies inmitten eines Ausnahmezustandes, der demokratische Freiheiten einschränkt, und einer katastrophalen Wirtschaftslage, welche die Zustimmung für die Regierung immer weiter sinken lässt, und angesichts der Tatsache, dass die Zustimmung zur Konstituante kurz vor den Wahlen bei geringen 20 bis 30 Prozent lag.

Die angeblich acht Millionen Stimmen lägen auch über der Beteiligung an dem „Plebiszit“, den die MUD zwei Wochen zuvor abgehalten hatte. Damals sprach sie von sieben Millionen Menschen, die sich an ihrer Abstimmung beteiligten. Doch auch diese Zahlen waren geschönt und man kann von einer wesentlich geringeren Beteiligung an beiden Abstimmungen ausgehen.

Geprägt wurde der Wahltag nicht durch die angeblich enorme Beteiligung, sondern vielmehr durch die erneute brutale Polizeigewalt, die allein am vergangenen Wochenende zwölf Menschen das Leben kostete und hunderte Verletzte hinterließ. Auch die Regierung vermeldete 14 verletzte Polizist*innen, die mit selbstgebauten Bomben durch militärische Gruppen der Opposition angegriffen wurden. Die von der Opposition gegen das Versammlungsverbot, das die Regierung verhängte, organisierten Demonstrationen waren indes über das gesamte Wochenende hinweg nicht besonders groß und brachten selten mehr als einige Hunderte zusammen. Die Proteste wurden viel stärker durch kleine Gruppen getragen, die wichtige Straßen blockierten und Auseinandersetzungen mit der Polizei eingingen.

Agenda der Eskalation

Seit dem „Plebiszit“ der Opposition hatte sie die Situation in den vergangenen zwei Wochen weiter eskaliert. Die MUD ernannte nicht nur „oppositionelle“ Verfassungsrichter, da sie die aktuellen chavistischen Mitglieder des Obersten Gerichtshofs (TSJ) als nicht legitim erachtet. Sie organisierte außerdem eine Reihe von Großdemonstrationen und einen 24-stündigen „Bürgerstreik“ sowie einen weiteren 48-stündigen am Mittwoch und Donnerstag vor der Wahl. Damit wollte die MUD die Regierung davon abhalten, die Wahlen durchzuführen und die Situation soweit zuspitzen, dass sich ein Teil der Armee zu einer Intervention hinreißen ließe.

Doch bei all diesen Aktionen zeigte sich, dass die Mobilisierungskraft der MUD nach mehr als 115 Tagen kontinuierlicher Proteste deutlich nachgelassen hatte. Führte der erste „Bürgerstreik“ – die nichts weiter waren als landesweite Aussperrungen durch die Unternehmer*innen – noch zu deutlichen Einschränkungen im Alltag in wichtigen Städten des Landes, nahm die Beteiligung danach immer weiter ab, bis sie sich nur noch auf die von der Opposition kontrollierten Viertel beschränkte.

Was hinterlassen die Wahlen für ein Szenario?

Die Wahlen hinterlassen ein Szenario, indem sich keine der beiden im Machtkampf befindenden bürgerlichen Fraktionen entscheidend gegen die andere durchsetzen kann. Weder monatelange Demonstrationen von der MUD mit Unterstützung der Unternehmer*innen, der städtischen Mittelschicht und der studentischen Jugend und dem Imperialismus noch die Aufrufe zum Militärputsch konnten Maduro aus dem Amt entfernen. Andererseits schafft es auch Maduro trotz des mächtigen Staatsapparats und der Armee im Rücken mit keiner seiner Initiativen – wie zuletzt der Wahl zur Konstituante –, die Unterstützung zurückzugewinnen und die Opposition vernichtend zu schlagen.

Die Opposition befand sich seit dem Sieg in den Parlamentswahlen im Dezember 2015 in der Offensive. Mit großen landesweiten Demonstrationen und Aussperrungen, dem Aufruf an Militär und Imperialismus zur Intervention und verfassungskonformer Initiativen wie dem Amtsenthebungsreferendum, versuchten sie seitdem, die Regierung zu stürzen.

Doch Maduro konnte alle Initiativen der Opposition blockieren und den Chavismus geschlossen halten. Zwar hatte auch er einige Initiativen, um die Unterstützung in der ärmeren Bevölkerung zurückzugewinnen: So kann die Einführung der bereits erwähnten „lokalen Komitees zur Bevölkerungsversorgung“ (CLAP) als ein Mechanismus sozialer Kontrolle gewertet werden, der die wirtschaftlichen Konsequenzen der Krise abmildert. Insgesamt blieb der Chavismus jedoch in der Defensive: Die von ihm einberufenen Demonstrationen waren lange nicht mehr so groß wie früher, demokratische Rechte wurden mit dem Ausnahmezustand einkassiert, jede Demonstration mit Repression beantwortet, gewerkschaftliche und regionale und kommunale Wahlen aus Angst vor Niederlagen verhindert, das Militär erhielt mehr Einfluss in Wirtschaft und Politik und jede Initiative der MUD wurde mit autoritären Maßnahmen blockiert.

Der Gewaltenkonflikt zwischen Legislative auf der einen und Judikative und Exekutive auf der anderen weitete sich aus, sodass es aktuell mehrere Ämter gibt, die sowohl von der Regierung als auch der Opposition mit ihren Unterstützer*innen besetzt wurden. Aber keine Seite konnte sich durchsetzen, weshalb sich eine „katastrophale Patt-Situation“ ergab. Anfang April wollte der Chavismus jedoch das Parlament komplett entmachten und tat dies durch zwei Beschlüsse des Verfassungsgerichts. Diese Maßnahme kam nicht direkt von Maduro, und sie musste wenige Tage danach unter enormen Druck zurückgenommen werden. Doch sie hatte den Stein ins Rollen gebracht und die Schwäche des Chavismus offengelegt. Die daraufhin folgende Welle von Protesten verschärfte den Machtkampf aufs Extreme, wobei sich geheime Verhandlungen mit Aufrufen zur Militärinterventionen und Demonstrationen mit blutiger Repression kombinierten.

Um in dieser Situation wieder in die Offensive zu kommen und sich sowohl als demokratische Kraft zu verkaufen, aber gleichzeitig dem Parlament die Macht zu entziehen, startete Maduro die Konstituante. Daraufhin zeigten sich erste ernsthafte Risse im Chavismus, wie mit der Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Diaz, die sich gegen die Wahlen aussprach. Die MUD verschärfte erneut ihren Druck mit dem Plebiszit und den Generalstreiks, unterstützt durch die „internationale Gemeinschaft“. Doch die Mobilisierungskraft hatte in den vergangenen Monaten deutlich nachgelassen.

Die Regierung konnte jedoch mit der Konstituante die Situation nicht zu ihren Gunsten entscheiden: In Umfragen lehnte die Mehrheit der Bevölkerung die Wahl ab und es beteiligte sich nur der Chavismus und die mit ihm verbundenen Organisationen. Trotz massiver Kampagne blieb die Wahlbeteiligung so gering, dass die Zahlen geschönt werden mussten.

Der „Madurismus“ hat nicht mehr dieselbe Machtbasis des Chavismus. Das drückt sich auch in der Herrschaftsform aus, die immer mehr auf Zwang als auf Konsens basiert ist. Chávez konnte seine Machtkompetenzen, die er in der Verfassung der „Bolivarianischen Republik“ mit einem stark ausgeprägten Präsidialsystem absicherte, durch häufige Volksabstimmungen legitimieren. Rechte Putschversuche wie 2002 wurden durch Massenmobilisierungen zurückgeschlagen. Das nannten Marxist*innen einen Bonapartismus sui generis, also einen autoritären Regierungsstil „eigener Art“, der sich vom klassischen Bonapartismus dadurch unterschied, dass er sich durch die besondere Klassenkonstellationen in halbkolonialen Ländern weniger auf die nationale Bourgeoisie stützen konnte, die tendentiell pro-imperialistisch ist, sondern auf die Massen. Chávez schuf so eine gewisse Unabhängigkeit vom Imperialismus, indem er den Massen Zugeständnisse in Form von wirtschaftlichen Verbesserungen gab. Maduros Bonapartismus ist nicht „eigener Art“ – es handelt sich um eine klassische Form der Ausschaltung demokratischer Freiheiten zugunsten einer der beiden sich im Machtkampf befindlichen bürgerlichen Fraktionen.

Marxist*innen verteidigen die letzten Überbleibsel dieser Zugeständnisse an die Massenbewegung, fordern jedoch ihre Ausweitung in Form von echten Preiskontrollen und der Übertragung der verstaatlichten Betriebe in die Verwaltung der Arbeiter*innen selbst und nicht einer abgehobenen Bürokratie, die sich in den Jahren des Chavismus bereicherte. Gleichzeitig nehmen sie eine vollkommen unabhängige Position zum Chavismus ein, da er selbst die Macht der rechten Opposition und der Bourgeoisie intakt ließ und damit den Weg für die aktuelle Stärke der Rechten bereitete. Die Liga der Arbeiter*innen für den Sozialismus (LTS) organisierte vor den Wahlen am Sonntag eine Kampagne zur aktiven Wahlenthaltung, um zum Aufbau einer unabhängigen Position der Arbeiter*innen, Jugendlichen, Frauen und LGBTI beizutragen.

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