„Unser Kandidat verkörpert alles, was die extreme Rechte hasst“: Interview mit einer Revolutionärin, die bei den französischen Wahlen antritt

28.06.2024, Lesezeit 9 Min.
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Quelle: Révolution Permanente

Ein Interview mit Elsa Marcel, Kandidatin von Révolution Permanente (RP) bei den kommenden Parlamentswahlen in Frankreich.

Am 30. Juni wählt Frankreich ein neues Parlament. Präsident Emmanuel Macron hat nach den Europawahlen vom 9. Juni, bei denen seine Partei von der extrem rechten Opposition von Marine Le Pen vernichtend geschlagen wurde, vorgezogene Neuwahlen ausgerufen. Was ist sein Plan?

Macron geht ein sehr riskantes Spiel ein, und einige seiner politischen Verbündeten haben sich überrascht und besorgt gezeigt. Er hofft, dass die Wähler:innen durch die Auflösung der Nationalversammlung und das Entstehen einer Situation, in der die extreme Rechte tatsächlich an die Macht kommen könnte, von Angst ergriffen werden und sich um seine Partei scharen. Die Erlangung einer neuen Mehrheit nach seiner Niederlage bei den Europawahlen würde ihm neue Legitimität verleihen.

Macron hat darauf gesetzt, dass seine Konkurrenz gespalten sein würde. Aber die traditionelle Rechte ist in sich zusammen gefallen, ein Teil hat ein Bündnis mit Le Pens Rassemblement National (RN) angekündigt, der andere Teil könnte ganz verschwinden. Die linke Opposition war gespalten, und Macron dachte, sie sei nicht in der Lage, sich in nur drei Wochen zu einigen. Doch innerhalb weniger Stunden erzielten die verschiedenen linken Parteien eine Übereinkunft, die zwar nur oberflächlich ist, aber ausreicht, um die Situation für Macron zu verkomplizieren.

Die Regierung ist schon seit einiger Zeit geschwächt. Die Idee, die Nationalversammlung aufzulösen, war schon mehrfach geäußert worden, aber Macron wartete auf den richtigen Moment. Wir werden sehen, ob diese Wette für ihn aufgeht, aber im Moment deutet alles in die andere Richtung.

RN gibt sich zuversichtlich, den nächsten Premierminister zu stellen. Ist das realistisch? Und was würde RN im Amt tun?

Niemand kann mit Sicherheit sagen, was am 30. Juni und dann am 7. Juli, wenn die Stichwahlen stattfinden, geschehen wird. Sicher scheint, dass RN eine Reihe von Wahlbezirken gewinnen wird. Aller Voraussicht nach wird die Partei dann die größte Fraktion in der Nationalversammlung sein. Die Frage ist jedoch, wie groß ihr Sieg ausfallen wird.

Um den Premierminister zu stellen, braucht RN eine relative Mehrheit. Jordan Bardella, der Kandidat der RN, hat jedoch erklärt, dass die Partei nur dann eine Regierung bilden wird, wenn sie die absolute Mehrheit erreicht. Natürlich kann man solchen Aussagen nicht trauen, und die RN könnte trotzdem versuchen, eine Regierung zu bilden.

Die RN hat alle ihre „populistischen“ wirtschaftlichen Versprechen schnell aufgegeben. Sie fordert nicht mehr die Aufhebung der Rentenreformen vom letzten Jahr und hat den Vorschlag zur Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Güter des Grundbedarfs fallen gelassen. Die Wirtschaftspolitik der Partei ist unternehmensfreundlicher geworden und steht im Einklang mit den neoliberalen Regierungen der traditionellen Rechten.

In den letzten Tagen hat RN jedoch ihre rassistischen Angriffe auf Migrant:innen, einschließlich derjenigen mit doppelter Staatsbürgerschaft, verstärkt, die sie von strategischen Regierungsposten ausschließen will. Sie hat ihren Plan bekräftigt, das “ droit du sol“ („Recht des Bodens“, Staatsbürgerschaft auf der Grundlage der Geburt auf französischem Boden) abzuschaffen und durch das “ droit du sang “ (Recht des Blutes“, Staatsbürgerschaft auf der Grundlage der ethnischen Zugehörigkeit) zu ersetzen.

Eine RN-Regierung könnte ähnlich wie die von Giorgia Meloni in Italien aussehen. Der zutiefst bonapartistische Charakter des französischen politischen Systems könnte der RN jedoch mehr Spielraum für eine rassistische, repressive und arbeiter:innenfeindliche Politik geben. Mit anderen Worten: RN bleibt trotz ihrer Annäherung an die Mitte eine enorme Bedrohung für die Arbeiter:innen, insbesondere für die, die unter rassistischer Unterdrückung leiden.

Macron selbst steht nicht zur Wahl – er wurde im Jahr 2022 für eine fünfjährige Amtszeit gewählt. Aber die Nationalversammlung wählt den Premierminister aus. Kannst du erklären, wie die Fünfte Republik funktioniert?

In diesem bonapartistischen System ernennt der Präsident den Premierminister. Seit den 1980er Jahren ist es jedoch so, dass er es dem Parlament überlässt, den Premierminister zu wählen, falls die Mehrheit der Nationalversammlung einer anderen Partei angehört als der Präsident. In Frankreich wird eine solche geteilte Regierung als „Kohabitation“ bezeichnet: Ein Präsident einer Partei ernennt einen Premierminister einer anderen Partei.

Das Wahlsystem für die französische Legislative unterscheidet sich deutlich von dem der Europawahlen. Das Europäische Parlament wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt. Die Nationalversammlung hingegen wird in Einzelwahlkreisen mit zwei Wahlgängen für jeden Abgeordneten gewählt. In jedem Wahlkreis gehen die beiden (oder manchmal drei) beliebtesten Kandidat:innen des ersten Wahlgangs in die Stichwahl.

Im zweiten Wahlgang können Bündnisse geschlossen werden, um zu verhindern, dass ein bestimmter Kandidat gewählt wird. Macron setzt auf diesen Mechanismus, um die Stimmen für RN durch „republikanische Brandmauern“ gegen RN-Kandidat:innen im zweiten Wahlgang zu verringern. Um dies zu erreichen, müssten Macrons Kandidat:innen Bündnisse mit der Rechten, aber auch mit der Linken eingehen – es bleibt abzuwarten, ob dies geschehen wird.

Mitte-Links- und Linksparteien, darunter die Sozialistische Partei (PS), La France Insoumise (LFI), die Grünen und die poststalinistische Kommunistische Partei, haben die Bildung eines Bündnisses angekündigt. Was ist ihr Programm?

Sie nannten ihr Bündnis (aus Bequemlichkeit) die „Neue Volksfront“ (NFP), in Anlehnung an die Volksfront von 1936. In Anlehnung an Marx‘ klassische Formulierung war die frühere Front eine Tragödie, aber die heutige hat sich bereits jetzt als Farce erwiesen. Während die NFP als Front gegen die extreme Rechte oder gar den „Faschismus“ dargestellt wird, zeigt die tägliche Realität, dass es sich um eine Vereinbarung zwischen Apparatschiks handelt, um ihre Parlamentssitze zu retten.

Unter den Mitgliedsparteien der NFP herrscht kein kameradschaftlicher Geist, sondern eher ein Wettbewerb darum, wer die institutionelle Linke hegemonisieren kann. Der „rechte Flügel“ der NFP, der von Persönlichkeiten der sozialdemokratischen Sozialistischen Partei (PS) wie dem ehemaligen Präsidenten François Hollande angeführt wird, ist entschlossen, Jean-Luc Mélenchon (LFI) zu schwächen, und hat nicht gezögert, sich an einer Hetzkampagne zu beteiligen, in der Mélenchon und die Linke im Allgemeinen als antisemitisch dargestellt werden.

Mélenchon und die LFI sind ihrerseits in die Falle einer Wahlkampfstrategie geraten, die sie in Bündnisse mit bürgerlichen Formationen wie der PS zwingt. Aus diesem Grund haben sie einem sehr „gemäßigten“ Programm zugestimmt. Es macht Zugeständnisse an die Kriegstreiberei der PS in Bezug auf die Ukraine. Es macht einen Rückzieher in wirtschaftlichen Fragen wie der Senkung des Renteneintrittsalters. Es sagt nichts über den französischen Imperialismus, und es beschönigt die Frage der Polizeigewalt. Mit anderen Worten, es ist ein Programm, das völlig mit den Interessen der französischen Kapitalist:innenklasse und ihres imperialistischen Staates vereinbar ist.

Es besteht die geringe Möglichkeit, dass die NFP bei den Wahlen die Nase vorn haben könnte. Wir können das nicht ausschließen. Letztlich würde ein solches gemäßigtes Programm aber nur den Aufstieg der extremen Rechten beschleunigen.

Die trotzkistische Organisation Révolution Permanente, eine Schwestergruppe von Klasse Gegen Klasse, kandidiert im 93. Wahlbezirk. Warum kandidiert ihr? Und was schlagt ihr vor?

Wir haben uns entschieden, in Saint-Denis zu kandidieren, einer sehr proletarischen Gegend, gerade weil die Situation für die Arbeiter:innenklasse, die Jugend und alle Unterdrückten so alarmierend ist. Wir glauben, dass es wichtig ist, eine von allen bürgerlichen Kräften unabhängige Stimme zu präsentieren, um die Interessen der arbeitenden Menschen zu verteidigen. Die NFP hat ihnen nichts anzubieten – wie die Tatsache zeigt, dass sie Hollande als Kandidaten aufstellt.

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Unser Hauptkandidat ist der Eisenbahner Anasse Kazib – kein Berufspolitiker, aber jemand, der mit dem Leben von Millionen von Werktätigen sehr vertraut ist. Er ist der Sohn marokkanischer Einwanderer, der in der Pariser Banlieue, den ärmeren Vorstädten der Hauptstadt, aufgewachsen ist. Er verkörpert alles, was die RN hasst.

In einer Situation, in der die extreme Rechte auf dem Vormarsch ist, ist es wichtig, Stimmen zu haben, die die Kämpfe der Arbeiter:innenklasse unterstützen und den französischen Imperialismus anprangern, insbesondere seine Mitschuld am anhaltenden Völkermord in Gaza. Wir wollen die Stimme all derer sein, die sich gegen die neoliberalen Gegenreformen stellen, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Massen verschlechtern. Wir wollen die Stimme von queeren Aktivist:innen und jungen Menschen in den Armenvierteln sein, die mit Polizeirepression konfrontiert sind.

Wir glauben, dass es unmöglich ist, sich der extremen Rechten in einem Bündnis mit Kräften wie der PS entgegenzustellen, die den Weg für Le Pen und ihre Partei geebnet haben. Es ist unmöglich, die RN an der Seite von Leuten zu bekämpfen, die Polizeigewalt, die Kriminalisierung der Palästina-Solidarität und neue rassistische Gesetze zum Entzug der Staatsbürgerschaft unterstützen.

Bedauerlicherweise ist dies nicht die Politik aller Parteien, die sich antikapitalistisch nennen. Die Neue Antikapitalistische Partei – L’Anticapitaliste (NPA) von Philippe Poutou zum Beispiel hat beschlossen, sich der NPF anzuschließen und sich mit Parteien zu verbünden, die für die imperialistische Bourgeoisie Frankreichs regiert haben. Als Révolution Permanente haben wir versucht, die von der NPF unabhängigen Kräfte der radikalen Linken zu bündeln, aber leider haben sich sowohl Lutte Ouvriere als auch die NPA-Révolutionnaires geweigert, eine solche Front zu bilden und beschlossen, allein anzutreten.

Wie auch immer die Wahlen ausgehen werden, wir werden uns auf einige sehr harte Kämpfe in einer politischen Situation einstellen müssen, die sich stark nach rechts verschoben hat.

Dieser Artikel erschien zuerst am 27. Juni 2024 auf Englisch bei Left Voice.

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