Uni-Bewerber vor Gericht: Streiks und Staatskritik verboten?

30.07.2024, Lesezeit 10 Min.
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Statue auf dem Justizpalast München. Foto: Wikimedia Commons

Muss die Technische Universität München (TUM) Benjamin Ruß als wissenschaftlichen Mitarbeiter einstellen? Dagegen wehrt sich der Freistaat Bayern mit einer Argumentation, die eine Herausforderung an alle Linken und Gewerkschafter:innen darstellt.

Wie weit darf Kritik am Staat gehen, wenn man im öffentlichen Dienst arbeiten will? Darüber wurde am Freitag am Arbeitsgericht München verhandelt – das Urteil soll am 7. August bekannt gegeben werden. Geklagt hatte Benjamin Ruß, dem vor zwei Jahren eine Stelle am Institut für Kartographie und visuelle Analytik an der TUM verweigert wurde. Grund hierfür waren Zweifel an dessen Verfassungstreue. TUM-Kanzler Albert Berger schrieb damals in einer Stellungnahme:

[Benjamin Ruß] bedient sich in der Gesamtheit seiner Äußerungen (die uns seitens Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz vorliegen und die verdeutlicht werden durch seine eigene Stellungnahme) klassischer Begriffe wie Faschismus, Rassismus, Kapitalismus, Polizeigewalt/-willkür, mittels derer auch die Gegnerschaft zur bestehenden Ordnung betont und begründet wird.

In einer umfangreichen Einordnung kritisierte die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, dass überhaupt die Bezugnahme auf solche Begriffe herangezogen wird, um Gründe für eine Nicht-Einstellung zu konstruieren. Die Meinungsfreiheit hat offenbar ihre Grenzen, wenn man Dinge beim Namen nennt. Auch der mehrmals herangezogenen Behauptung, als Marxist sei Ruß für einen Job in der Uni nicht geeignet, wird mit Verweis auf das Verfassungsgericht widersprochen. Das stellte fest, dass der Marxismus eine Weltanschauung sei, wegen der niemand benachteiligt werden dürfe.

Am Freitag sah sich nun der Freistaat Bayern, vertreten durch Gerhard Greiner von der Anwaltskanzlei arcum und einer Beamtin des Finanzministeriums, im zweiten Gerichtstermin dazu bemüßigt, die vermeintliche Verfassungsfeindlichkeit von Benjamin Ruß mit härteren Fakten zu untermauern. In grellen Farben versuchte Greiner im Namen des Staates ein Bild von Ruß als gefährlichen linken Extremisten zu zeichnen. Dabei stützte er sich vielfach auf Artikel, die Ruß vor einigen Jahren auf Klasse Gegen Klasse verfasst hatte. Damit schoss er nicht nur gegen Ruß und unsere Zeitung. Seine Argumente müssen auch als Ansage des Bayerischen Staates an Gewerkschafter:innen und Linke im Allgemeinen aufgefasst werden. Folgend wollen wir aufzeigen, wie dünn seine Argumentation und wie gefährlich sie für die Meinungs- und Gewerkschaftsfreiheit ist.

Darf man Militarisierung kritisieren?

Als vermeintlichen Beweis für die staatsfeindliche Haltung von Ruß zitierte Greiner einen Artikel von 2019 über die Proteste gegen das neue Bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG): „Besonders Bayern kann man als Brutstätte und Testlabor einer inneren Militarisierung bezeichnen.“ Benjamin Ruß wählt drastische Worte, aber mit seiner Kritik war er nicht allein. 40.000 Menschen beteiligten sich damals an der größten Demo gegen das PAG. Sind sie alle Staatsfeinde? Darunter auch Mitglieder und Abgeordnete von FDP, SPD und Grünen, die sich an den Protesten beteiligten?

In der Kritik stand vor allem, dass die Polizei schon bei „drohender Gefahr“, nicht erst bei „konkreter Gefahr“ einschreiten kann. Bis zu zwei Monate können Personen ohne Gerichtsverfahren in Präventivhaft genommen werden. Das Gesetz wurde auch schon einige Male angewandt, insbesondere gegen Aktivist:innen der Letzten Generation. Bayern ist damit bundesweit Spitzenreiter – oder auch „Testlabor“, um es in den Worten von Ruß zu sagen.

Vielleicht ist es auch der Begriff der Militarisierung, der Gerhard Greiner derart in Wallung brachte? Inwieweit sich dieses Wort für Deutschland anwenden lässt, diskutierte erst kürzlich Markus Bayer für die Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB): „Während Militarismus also das Ende eines Spektrums und damit einen Status bezeichnet, lässt sich Militarisierung als ein Prozess in Richtung dieses Zustandes verstehen. […] Eine Militarisierung ist also auch hier [in Deutschland] zu beobachten – sie fällt bisher aber noch moderat aus.“

Wie „moderat“ oder nicht die Militarisierung ausfällt, lässt sich anhand von 100 Milliarden Euro Bundeswehrsondervermögen sicherlich diskutieren. Aber anscheinend nicht, wenn es nach dem Freistaat Bayern geht. Nach der Logik seines Anwalts könnten auch die Aussagen des BPB, immerhin eine Behörde des Innenministeriums, staatsfeindlich sein. Nachdem der Bayerische Landtag nun kürzlich das Bundeswehr-Gesetz verabschiedete, das eine Militarisierung der Unis vorsieht, scheint die Auffassung von Greiner umso bedenklicher, Kritik an diesem Prozess als Grund heranzuziehen, einem Bewerber eine Anstellung zu verweigern.

Darf man streiken?

Nicht weniger streng argumentiert Greiner bezogen auf die Frage von Streiks. Dafür zitierte er wiederum einen Artikel von Ruß zu Arbeitskämpfen in der Pflege in Bayern: „Die Streiks müssen konsequent bis zum Ende geführt werden und nicht nach drei Warnstreiks in Verhandlungen mit dem Arbeitgeber enden“, so Ruß. Erst im April hatte an den Bayerischen Unikliniken die Mehrheit der Beschäftigten im Service in einer Urabstimmung für Erzwingungsstreiks gestimmt. Alles Staatsfeinde?

Besonders die Formulierung, man müsse den „Kampf in die Betriebe tragen“ stieß Greiner offenbar unangenehm auf. Er unterstellte Ruß mit „ganz persönlicher Meinung“, dass er im Falle einer Anstellung an der TUM diese Position nutzen werde, um gegen den Staat zu agitieren. Als Lehrkraft würde er Einfluss auf Studierende nehmen. Studierende stehen permanent unter verschiedensten ideologischen Einflüssen. Für Greiner hört die Legitimität aber anscheinend dort auf, wo Streiks begrüßt werden. Nun sind ausgerechnet im Grundgesetz, das Greiner gegen Ruß verteidigen möchte, die Rechte auf gewerkschaftliche Organisierung und Streiks festgehalten. Und natürlich gilt es, sich dann in den Betrieben zu organisieren, wo sonst sollte man streiken?

Die Gewerkschaftsfeindlichkeit von Greiner zeigte sich auch in einem Schriftsatz vom 2. Februar. Darin bezeichnet er die vor dem ersten Prozess angemeldete Kundgebung von Benjamin Ruß und ver.di sowie deren Art und Weise, in der Angelegenheit vorzugehen, als „bedrohlich“. Dabei handelte es sich um eine ganz legal angemeldete und abgehaltene Versammlung der Gewerkschaft. Es ist zudem keineswegs ungewöhnlich und vollkommen legitim, dass sich ein Betroffener von arbeitsrechtlichen Maßnahmen an Betriebsstrukturen und die zuständige Gewerkschaft wendet. Dagegen zu argumentieren, spricht den Gewerkschaften in einem ihrer zentralen Aufgabenbereiche ihre Existenzberechtigung ab.

Darf man Nazis kritisieren?

Als weiteres Beweisstück führte der Anwalt des Freistaates an, dass Benjamin Ruß bei einer Informationsveranstaltung der Gewerkschaft ver.di die TUM kritisiert hätte, dass nach wie vor Hörsäle nach Personen aus der Zeit des Nationalsozialismus benannt seien. Dieses Argument mutet in vielerlei Hinsicht skurril an. Nun war es zunächst nicht Benjamin Ruß selbst, der diese Aussage tätigte, sondern sie wurde aus dem Publikum von einem Mitglied der TUM-Betriebsgruppe geäußert. Ruß soll also anscheinend bereits in Haftung für die Aussagen anderer genommen werden. Abgesehen von der Falschbehauptung des Herrn Anwalts muss aber äußerst bedenklich stimmen, dass er schon eine Kritik an nicht aufgearbeiteter NS-Vergangenheit als Bedrohung einstuft. Blöd nur, dass die TUM sich auf studentische Initiative hin selbst mittlerweile um Aufarbeitung bemüht. Im März ließ sie Hörsäle und Gebäude mit Namen von NS-Unterstützer:innen umbenennen. Ist der TUM-Präsident damit womöglich auch ein Staatsfeind?

Nicht minder problematisch ist das nächste Argument, das Anwalt Greiner ins Spiel brachte. Er zitiert Ruß aus dem zuvor schon genannten Artikel zum PAG mit einer Kritik am „Staats- und Verfassungsschutz, der den NSU unterstützte und morden ließ“. Dies entspricht aber der Wahrheit. Um dem Herrn Anwalt auf die Sprünge zu helfen, zitieren wir aus einer Zusammenstellung der Tagesschau über die NSU-Morde:

Bei einer Sitzung des Geheimdienstausschusses des Bundestags wird bekannt, dass ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes an einem Tatort der Mordserie an Migranten war. […]

In der NPD sind nach einem Medienbericht weiterhin bis zu 100 V-Leute des Verfassungsschutzes aktiv. [Bericht von 2011 …]

Der Verfassungsschutz war angeblich noch weit besser über die Rechtsterroristen im Untergrund informiert, als bislang bekannt.  Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtete, bereits im Frühjahr 1999 hätten die Beamten verlässliche Hinweise vorliegen gehabt, wonach sich die gesuchten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im Raum Chemnitz aufgehalten hätten. […]

Die „Berliner Zeitung“ berichtet, nach dem Abtauchen des Thüringer Neonazi-Trios im Februar 1998 soll der Verfassungsschutz Thüringen einzelne Fahndungsmaßnahmen der Polizei sabotiert haben. […]

Der Thüringer Linksfraktionschef Bodo Ramelow erhebt schwere Vorwürfe gegen den Landes-Verfassungsschutz erhoben. Demnach wurden wichtige Informationen als geheim eingestuft, damit der Polizei vorenthalten und so möglicherweise eine Verhaftung verhindert. […]

Nach Informationen des MDR wurden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im November und Dezember 1997 durch den Thüringer Verfassungsschutz observiert. Die Beamten beobachteten dabei unter anderem, wie die Beiden in Baumärkten verschiedene Gegenstände für den Bau einer Bombe kauften, zum Beispiel Brennspiritus und Gummiringe. […]

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat bei den Ermittlungen zur NSU-Terrorserie Akten vernichtet, nachdem das Neonazi-Trio aufgeflogen war. […]

Bei der „Operation Rennsteig“ handelte es sich um eine Zusammenarbeit des Verfassungsschutzes mit der rechtsextremen Gruppe „Thüringer Heimatschutz“, aus der der NSU hervorgegangen ist.

Wenn es nach der Logik von Herrn Greiner ginge, darf man den Verfassungsschutz nicht diffamieren, demnach wäre also auch der Tagesschau-Journalist nicht für den öffentlichen Dienst geeignet. Allerdings diffamiert sich der Geheimdienst selbst schon genug durch sein Handeln. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Ohne den Verfassungsschutz wären die Morde des NSU in dieser Form und Größenordnung nicht möglich gewesen. Das auszusprechen, ist nicht nur von der Meinungsfreiheit gedeckt, sondern sollte selbstverständlich sein.

Fazit

In seinen Ausführungen versuchte Rechtsanwalt Greiner als Vertreter des Bayerischen Staates Benjamin Ruß als einen gefährlichen Extremisten darzustellen. Auch wenn es Greiner nicht wahrhaben möchte, sind die von ihm kritisierten Aussagen von Ruß allesamt Teil breiter gesellschaftlicher Debatten. Kritik an Militarisierung, Nazis und Verfassungsschutz sind vollkommen von der Meinungsfreiheit gedeckt. Es sind Themen, die täglich von großen Medien behandelt werden und auch in der Universität nicht totgeschwiegen werden sollten. Die Forderung nach Streiks ist ein elementares Grundrecht. Dagegen zu argumentieren, richtet sich gegen die Gewerkschaftsbewegung insgesamt. Es ist Teil einer gewerkschaftsfeindlichen Praxis von Freistaat und Unternehmen, die sich jüngst etwa auch am Münchner Flughafen zeigte, wo die Betriebsrätin Neli Birks gefeuert wurde.

In keiner einzigen von Rechtsanwalt Greiner aufgeführten Aussage ruft Ruß dazu auf, die Bundesrepublik Deutschland zu zerschlagen. Unabhängig davon müssen in einer Demokratie natürlich Diskussionen über den Charakter des Staates und alternative Ordnungsmodelle möglich sein, so wie es an soziologischen oder politikwissenschaftlichen Lehrstühlen auch getan wird. Der Marxismus ist Teil der Ideengeschichte und als solcher genauso zu diskutieren wie andere Weltanschauungen auch. Ein weiterer Vorwurf von Greiner an Ruß, dass dieser eine Partei der Arbeiter:innen aufbauen wolle, ist ebenso nichtig. Denn auch dabei handelt es sich um ein grundgesetzlich verankertes Recht. 

Die Argumentation, die Greiner vor Gericht vorgenommen hat, scheint detailliert mit Beamten des Freistaates Bayern abgesprochen zu sein. Dieser untergräbt derzeit mit dem Bundeswehr-Gesetz oder auch seiner Exmatrikulationsdrohung gegen palästina-solidarische Studierende die Wissenschaftsfreiheit. Offenbar möchte der Freistaat keine kritisch denkenden Persönlichkeiten in der Universität, sondern gehorsame Ja-Sager. Es ist ein Signal, das die gesamte Linke und Gewerkschaftsbewegung ernst nehmen muss: In einer Zeit der beschleunigten Aufrüstung soll Widerspruch gebremst werden, unliebsame Personen werden entfernt oder gar nicht erst zugelassen. 

Der Freistaat Bayern hofft, mit einem de facto Berufsverbot von Ruß kritische Stimmen aus dem Wissenschaftsbetrieb herauszuhalten. Langfristig wird er damit aber erst Recht die Ablehnung gegen seine Methoden vertiefen und die Notwendigkeit der Organisierung verdeutlichen. Uni-Betriebsgruppen und Gewerkschaften haben bereits zum Fall Ruß gearbeitet. Es gilt dies nun fortzusetzen und auszubauen. Denn ein Angriff auf einen von uns ist ein Angriff auf uns alle.

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