Um Al-Khiran: Unsere Solidarität gegen ihre Lügen
Bei der Räumung einer palästinensischen Siedlung erschoss die israelische Polizei am Mittwoch einen Lehrer. Kurzerhand verbreitete sie die Lüge, der Erschossene sei Mitglied des ISIS (Islamischer Staat in Irak und Syrien) – und fast alle Medien glaubten ihr.
Es ist Mittwoch, früh morgens, in dem beduinischen Dorf Um Al-Khiran in der Naqab-Wüste im Süden Israel/Palästina. Eine Hundertschaft von Polizist*innen ist unterwegs in das Dorf hinein. Ein Polizeihubschrauber schwebt über der Wüste, filmt das Gelände mit einer Thermokamera. Im Dorf befinden sich schon mehrere Aktivist*innen, Palästinenser*innen und Israelis. Sie warten zusammen mit den Dorfbewohner*innen gespannt auf die Räumung.
Zweite Vertreibung
Für die Älteren davon wäre es schon die zweite Vertreibung: die kleine Gemeinde hat sich in das vom Staat nicht anerkannte Dorf angesiedelt, nachdem sie 1956 durch Israel von ihrem Land vertrieben und dort angesiedelt wurden. Nun sollten sie wieder verdrängt und umgesiedelt werden, da der Staat für das Gelände etwas anderes vorhat: Auf dem Land von Um Al-Khiran sollte eine rein jüdische Ansiedlung errichtet werden, mit dem hebräischen Namen „Khiran“. Die Pläne stehen schon fest, die neue Einwohner*innen sind schon bereit und werben schon ihre neue Nachbarschaft im Netz.
Die Räumung startet. Die Polizei stürmt herbei. Es kommt zur Gewalt, sogenannte „nichttödliche Waffen“ werden eingesetzt, „Schaumstoffkugeln“ und Tränengas. Unter den Aktivist*innen befindet sich auch Aymen Odeh, Vorsitzender der jüdisch-palästinensischen „Vereinten Liste“ im israelischen Parlament, der drittgrößte Partei des Landes. Er ist dort, um Solidarität mit dem Dorf zu zeigen. Plötzlich kippt er um und fällt zu Boden. Eine „Schaumstoffkugel“ traf ihm knapp über seinem Auge, seine Stirn blutet. Er kriecht auf dem Boden vor den bewaffneten Polizist*innen.
Der Propagandaapparat setzt ein
Im Dunklen fallen Schüsse. Eine Autohupe lärmt in der Dämmerung. Weitere Schüsse. Das sind keine Schaumstoffkugeln – das ist scharfe Munition. Die Fotografin Keren Manor, Mitglied des Fotokollektives „Activestills“, eilt herbei. Die Polizei sperrt den Weg. Ein Auto rammt gegen die Polizeiabsperrung. Anscheinend liegt der Fahrer darin schon erschossen, im Sterben. Es dauert nicht lange, bis die Polizei, die Regierung und die Medien von einem „Überfahren-Anschlag“ berichten. So wie in Berlin oder Nizza – ein Auto wurde als Waffe benutzt, um Unschuldige zu töten.
Nach wenigen Stunden äußern sich der Polizeisprecher und der Sicherheitsminister – die Tat lasse auf einen Bezug zum ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) schließen. Kurze Zeit später kommt der eindeutige Beweis, als die Polizei das Haus des Fahrers durchsucht, Yaqub Musa Abu al-Qi’an, ein Mathelehrer im benachbarten Ort. Sie findet eine Ausgabe der kostenlosen hebräischen regierungsnahen Tageszeitung „Israel Heute“, in der sich ein Artikel über ISIS befindet. Es bedarf keiner weiteren Beweise – die Polizei behält die Leiche des Fahrers, die Familie wird sie nur unter Bedingungen zurückbekommen. Eine davon ist ein Bekennerschreiben: Demnach gehörte Abu Al-Qi´an dem ISIS an. Die Familie weigert sich. Abu Al-Qi´an wollte nur den Krawallen entkommen, sagt sie. Er habe nur die benoteten Matheklausuren seiner Schüler*innen mitgenommen und sie zu seiner Mutter im anderen Dorf gefahren. Aber die Polizei beharrt darauf. ISIS. Terroranschlag. Die meisten Zeitungen plappern diese Meldung einfach papageienhaft nach.
Unabhängige Berichterstattung gegen Staatspropaganda
Aber Augenzeuge vor Ort bestätigen die Version der Familie. Michal Haramti und Kobi Snitz, zwei israelische Aktivist*innen, die gegen die Räumung protestierten, haben das Geschehen gesehen und gehört. Das Auto fuhr langsam aus dem Ort heraus, berichten sie, wo es dann von der Polizei angeschossen wurde. Nach den Schüssen fing das Auto an, den Hügel herunter zu rollen und schneller zu werden. Dann ist es gegen die Polizist*innen gerammt und überfuhr den Polizisten Erez Levi, der ums Leben kam. Die Aussagen der Aktivist*innen auf Video zirkulieren in den sozialen Netzwerken.
An diesem Punkt schaltet sich auch unabhängige Medien ein. Die hebräischsprachige Nachrichtenseite „Local Call“ und ihre englischsprachige Schwesterseite „+972Mag“, die mit dem Fotokollektiv „Activestills“ eng zusammenarbeiten, bringen die Aussagen in Umlauf. „Activestills“-Fotograf Oren Ziv, der auch Mitglied der britischen forensischen Organisation „Forensic Architecture“ ist, bekommt die Aufnahmen seiner Genoss*innen und baut sie zusammen mit veröffentlichten Aufnahmen aus dem Polizeihubschrauber, Luftaufnahmen und Karten des Geländes. Aus der unabhängigen Untersuchung geht deutlich hervor, dass die Polizei Abu al-Qi’an ohne Provokation erschossen hatte und den Unfall dadurch selbst verursacht hat.
Als „Local Call“ die Untersuchung veröffentlichen, hat die Polizei ihre Version schon geändert: Die Polizist*innen schossen nicht mehr in die Luft, sondern auf die Reifen des Autos. Inzwischen hat die Obduktion ergeben, dass durch die Schüsse der Polizei das Knie von Abu Al-Qi´an getroffen wurde, somit das Gaspedal des Autos eingeklemmt und der Unfall verursacht wurde. Mittlerweile reden auch die meisten Zeitungen nicht mehr von „Terror“, obwohl sie wenige Stunden vorhin die offizielle Version des Staates einfach geschluckt hatten. „Dieser Fall zeigt uns genau, wie wichtig unabhängige Berichterstattung ist“, sagt Ziv zu Klasse Gegen Klasse: „Das ist unser Mittel, um der Propaganda und Manipulation des Staates die Wahrheit entgegenzusetzen“.
Jüdisch und demokratisch
Der Fall in Um Al-Khiran zeigt nicht nur, wie schnell der israelische Staat Propaganda verbreitet, seine Verbrechen vertuscht und den globale Terror für seine Zwecke instrumentalisiert. Er zeigt auch,wie wichtig unabhängige linke Berichterstattung ist; und er entlarvt auch wieder die Lüge der Möglichkeit eines jüdischen und demokratischen Staates in Palästina. Denn sogar wer von den Verbrechen Israels in Westjordanland und Gaza die Augen verschließen möchte, kann in diesem Fall nicht vorgeben, nichts zu wissen: Die Bewohner*innen Um Al-Khirans sind israelische Staatsbürger*innen, die schon zum zweiten Mal seit der Kolonisierung Palästinas für die Interessen der jüdischen Gesellschaft von ihrem Wohnort vertrieben wurden. Während die Regierung endlose Verhandlungen über jede jüdische Siedlung im Westjordanland betreibt, werden palästinensische Nachbarschaft einfach dem Boden gleichgemacht.
Der Mord an Abu al-Qi’an überschattet auch die Tatsache, dass ein Mitglied des israelischen Parlaments, Vorsitzender einer demokratisch gewählten Partei, von der Polizei fast getötet wurde. Die Reaktion der Polizei darauf, übrigens, war ganz nach ihrem Stil: MdK Ayman Odeh wurde das Steinewerfen vorgeworfen. Wenn es um Palästinenser*innen geht, ist jede Lüge erlaubt. Mittlerweile zweifelt sogar der Drohnenkönig, Barack Obama, an der Möglichkeit eines jüdischen und demokratischen Staats. Aber hier in Deutschland wird weiterhin jede Kritik mundtot gemacht. Hauptsache Solidarität mit Israel, um an Opa nicht denken zu müssen.