Ukrainischer Soziologe: „Die Bereitschaft, sich für den Staat zu opfern, ist sehr gering“

27.11.2024, Lesezeit 25 Min.
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Interview mit dem ukrainischen Soziologen Volodymyr Ishchenko über den Krieg, der das Land verwüstet. Er schildert seine Sicht auf den Krieg, die Konflikte innerhalb der ukrainischen Bourgeoisie und die Rolle der Arbeiter:innenklasse.

Unsere französische Schwesterzeitung RP interviewte Volodymyr Ishchenko, einen Soziologen, der in der Ukraine aktiv war und sich an verschiedenen linken Initiativen beteiligt hat, bevor er 2019 nach Deutschland ging. Ishchenko arbeitet derzeit an der Freien Universität Berlin und setzt seine Forschung über die ukrainischen Revolutionen, die Linke und die politische Gewalt der extremen Rechten fort.

Seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs hat er viel in internationalen Medien über verschiedene Aspekte des Krieges geschrieben. Hier schildert er seine Sicht auf den Kriegsverlauf, die Entwicklung der Gefühle der ukrainischen Bevölkerung gegenüber dem Konflikt, die internen Kämpfe innerhalb der nationalen herrschenden Klassen, das Erstarken der extremen Rechten, das von den Mainstream-Medien im Westen oft relativiert wird, und schließlich die Situation der ukrainischen Arbeiter:innenklasse und der Linken.

Während wir der Ansicht sind, dass Ischenkos Analyse dazu neigt, die Entwicklungsmöglichkeiten der Arbeiter:innenbewegung und ihre Rolle in der Situation unterbewerteten, teilen wir seine allgemeine Analyse des Konflikts, der Dynamiken, die innerhalb der herrschenden Klassen am Werk sind, und der Folgen des Krieges für die ukrainische Bevölkerung.

Hier im Westen neigen viele Berichte dazu, über die Begeisterung der Ukrainer:innen für die Verteidigung ihres Landes zu berichten. Doch heute sehen wir Bilder von jungen Männern, die desertieren oder sich weigern, in der Armee zu dienen. Können Sie uns erklären, wie die ukrainische Bevölkerung heute angesichts der Situation des Krieges gegen Russland empfindet?

Es gibt keine Begeisterung oder zumindest ist diese Begeisterung auf eine viel kleinere Gruppe von Menschen beschränkt, als es 2022 der Fall war. Damals wurde die Begeisterung nicht nur durch eine Reaktion auf die russische Invasion ausgelöst, sondern auch durch die Tatsache, dass der ursprüngliche Invasionsplan innerhalb weniger Tage gescheitert war. Es gab nicht nur Empörung darüber, dass Russland unser Land angegriffen hatte, sondern auch riesige Hoffnungen auf einen Sieg im Frühjahr, und noch mehr nach der ukrainischen Gegenoffensive im September 2022 und den Erwartungen an einen größeren Erfolg der Gegenoffensive im Jahr 2023. Wie wir inzwischen wissen, ist die ukrainische Kampagne des letzten Jahres gescheitert und hat keines ihrer Ziele erreicht. Stattdessen erlebten wir einen relativ erfolgreichen Vormarsch der russischen Streitkräfte.

Dies hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie die Menschen den Krieg empfinden. Insbesondere in der öffentlichen Meinung gibt es klare Tendenzen: Als die Lage an der Frontlinie für die Ukraine gut war und Aussicht auf Besserung bestand, war die Unterstützung für Verhandlungen sehr gering; als sich die Lage jedoch verschlechterte und die Hoffnungen, dass die Ukraine den Krieg gewinnen könnte, schwanden, stieg die Unterstützung für Verhandlungen, während das Vertrauen in Selenskyj zurückging.

Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass der Enthusiasmus von 2022 ziemlich zerbrechlich war; es ist nicht das erste Mal, dass man eine solche Dynamik sieht. Nach der „Orangenen Revolution“ von 2004 und dem EuroMaidan 2014 hatten die Menschen hohe Erwartungen, die schnell der Enttäuschung wichen. Eine ähnliche Dynamik entstand nach der Wahl Selenskyjs im Jahr 2019 und dann im Jahr 2022. Eine der Interpretationslinien ist, dass diese Ereignisse eine Manifestation des Aufstiegs der ukrainischen Nation mit einer quasi-theologischen Dynamik waren, als ultimatives Ergebnis des nationalen Befreiungskampfes.

Sie haben von Desertion gesprochen. Die Zahl der Personen, die versuchen, über die Grenze zu fliehen, ist hoch. Eine noch aussagekräftigere Statistik ist, dass die Mehrheit der wehrpflichtigen Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren ihre Personalien beim Amt für militärische Rekrutierung nicht aktualisiert hat. Dies war verlangt worden, um die ukrainische Wehrpflicht etwas effizienter zu gestalten und nicht auf diese recht brutale Methode zurückzugreifen, bei der man die Leute auf der Straße einfängt, sondern zu versuchen, die Daten aller potenziellen Wehrpflichtigen zu sammeln, um dann mit einer effektiveren Mobilisierung zu beginnen. Wenn sie die Daten nicht aktualisieren, werden sie mit einer hohen Geldstrafe belegt, und wenn die Leute diese Geldstrafe nicht bezahlen, wird es noch mehr Komplikationen in ihrer Arbeit und ihrem Leben geben. Es handelt sich um eine sehr ernste Angelegenheit und trotzdem hat die Mehrheit der ukrainischen Männer diese Forderung ignoriert. Und was die ukrainischen Männer im Ausland betrifft, so haben Schätzungen zufolge nur wenige von ihnen ihre Daten aktualisiert, obwohl dies von allen gefordert wurde. Das bedeutet, dass die tatsächliche Bereitschaft, sich für den Staat zu opfern, sehr gering ist.

Die Wehrpflicht wird in der Ukraine immer brutaler. Es sind Videos von öffentlichen Verhaftungen von Wehrpflichtigen aufgetaucht und von Zusammenstößen zwischen Polizei und Militär auf der einen Seite und Bürger:innen, die die Szene beobachtet haben, auf der anderen Seite. Gibt es Parallelen zu der Situation in Russland in Bezug auf die Frage der Wehrpflicht? Und muss der Staat befürchten, dass er auf eine breite Einberufung drängt, die zu sozialer Unzufriedenheit wie in Russland führen könnte, wo es seit Jahren eine Bewegung der Familien von Wehrpflichtigen gibt, insbesondere von Ehefrauen und Müttern, die sich für ihre Männer und Söhne einsetzen? In Russland fürchtete das Regime, eine große Einberufungswelle zu starten, und versuchte, verschiedene Wege zu finden, um große Wellen der Einberufung von Soldaten zu verhindern. Ich habe jedoch das Gefühl, dass die Ukraine, insbesondere als die Lieferungen aus den USA gering waren, keine andere Wahl hatte und das Einberufungsalter herabsetzte, was mit großer Brutalität seitens der Polizei einherging. Gibt es potenzielle soziale Proteste, die sich aus dieser Situation ergeben könnten?

Zu diesem Thema gibt es viel zu sagen. Im Gegensatz zu Russland gab es in der Ukraine schon immer die Wehrpflicht. Es handelt sich also nicht um eine einzelne Einberufungswelle wie die, die Putin im September 2022 als Reaktion auf die ukrainische Gegenoffensive angekündigt hat. Die ukrainische Armee beschaffte sich ihre Soldaten hauptsächlich über die Wehrpflicht. Freiwillige stellten nicht die Mehrheit der ukrainischen Armee und ihre Zahl wurde ab 2022 vernachlässigbar. All diese brutalen Methoden der Mobilisierung sind das Ergebnis eines geringen Wunsches, sich freiwillig für die Armee zu melden.

Warum ist er so gering? Die für den ukrainischen Staat großzügigste Erklärung, und auch die, die in bestimmten Kreisen wiederholt wird, lautet, dass es einfach daran liegt, dass die USA nicht genügend Waffen geliefert haben. Dieses Argument setzt eine sehr genaue Vorstellung davon voraus, wie der Krieg gewonnen werden könnte. Es ist jedoch nicht sicher, dass, wenn alle Waffen bis 2022 geliefert worden wären, ein entscheidender Sieg über Russland errungen worden wäre. Ich werde mich nicht auf Spekulationen einlassen, aber ich glaube nicht, dass es sich hierbei um eine Konsensanalyse unter Militärexpert:innen handelt. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Entsendung von Waffen von der Effektivität der ukrainischen Mobilisierung abhängig gemacht wird. So war die Änderung des Wehrpflichtgesetzes in diesem Jahr an die Waffenlieferungen der USA geknüpft. Dies wurde von zahlreichen ukrainischen Politikern bestätigt. Die USA erwarteten von der Ukraine, dass sie die Wehrpflicht effizienter gestaltet. Heute besteht die dringendste Frage darin, das Alter der Wehrpflicht zu senken. Es wurde bereits von 27 auf 25 Jahre gesenkt, und nun gibt es starken Druck, es noch weiter zu senken, auf 22 oder sogar 18 Jahre.

Dagegen gibt es ein wichtiges Argument. Es handelt sich um die fruchtbarste demografische Kohorte der ukrainischen Bevölkerung, und sie ist auch eine der kleinsten. Wenn Sie diese jungen Menschen in einem Massaker sterben lassen, wird die Fähigkeit der ukrainischen Bevölkerung, sich nach dem Krieg zu regenerieren, sogar noch weiter sinken. Laut den jüngsten UN-Prognosen für die ukrainische Bevölkerung wird diese bis zum Ende des Jahrhunderts nur noch 15 Millionen Menschen umfassen, gegenüber 52 Millionen im Jahr 1992, nach dem Zerfall der UdSSR. Und dies ist nicht einmal das pessimistischste Szenario; es beruht auf der eher optimistischen Annahme, dass der Krieg im nächsten Jahr endet und Millionen von Flüchtlingen, insbesondere Frauen, zurückkehren und zur Reproduktion der ukrainischen Bevölkerung beitragen können, was gelinde gesagt nicht sicher ist.

Es handelt sich um eine unmögliche Wahl. Im Laufe der Geschichte haben viele Nationen lange Kriege gegen imperiale Eroberungen geführt – übrigens nicht nur gegen imperiale Eroberungen: Nehmen wir das revolutionäre Frankreich als Beispiel. Nach 1789 konnte Frankreich die Koalition der größten europäischen Mächte bis 1812, als Napoleon in Russland besiegt wurde, besiegen. Dies war die Macht der Revolution. Nach 1917 konnte das revolutionäre Russland die Koalition der stärksten imperialistischen Mächte besiegen, dank der Macht der Revolution und der Fähigkeit, eine effiziente, zahlreiche und siegreiche Rote Armee aufzubauen. Im Vietnamkrieg besiegten die Vietnamesen Frankreich und die USA über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten. Afghanistan besiegte die UdSSR und die USA in einem Krieg, der von 1979 bis 2021 dauerte. Theoretisch könnte man meinen, dass eine kleine Nation einen viel größeren Feind besiegen kann, aber dazu bedarf es einer anderen sozialen Statur und einer anderen Politik.

Alle diese Kriege wurden daher von Ländern geführt, die über eine große bäuerliche Bevölkerung verfügten, die in der Lage war, in großen revolutionären oder Guerillakriegen zu mobilisieren. So hielt sich in Vietnam die Demografie trotz der Völkermorde der USA in Vietnam über die Jahrzehnte, auch wenn das Kräftegleichgewicht unverhältnismäßig war. Aber genau das war die Macht der Revolution. Die postsowjetische Ukraine ist ein ganz anderes Land. Ihre demografische Struktur ist ganz anders, nicht wie in Vietnam, nicht wie in Afghanistan, nicht einmal wie in der Ukraine vor hundert Jahren, die ein überwiegend bäuerliches Land mit zahlreichen revolutionären Armeen war, der Roten Armee, Machnos Armee, den verschiedenen nationalistischen Warlords, die von der Demografie der Bauernschaft profitierten. Heute ist die Ukraine eine modernisierte städtische Gesellschaft mit einer schrumpfenden Demografie, sie wird nicht in der Lage sein, jahrzehntelang Krieg zu führen.

Darüber hinaus gibt es keine revolutionären Veränderungen. Paradoxerweise haben die drei ukrainischen Revolutionen von 1990, 2004 und 2014 keinen starken revolutionären Staat geschaffen, der einen effektiven Apparat zur Mobilisierung des Militärs und der Wirtschaft aufbauen könnte. Die Idee hinter diesen Revolutionen ist, dass sich die Ukraine als eine Art Peripherie in die Weltordnung der USA integrieren soll. Diese Art der Integration würde nur einer schmalen Mittelschicht, einigen opportunistischen Oligarch:innen und dem transnationalen Kapital zugutekommen.

Die Ukraine diskutiert nach zweieinhalb Jahren Krieg immer noch über eine recht moderate Steuererhöhung, was viel über das potenzielle Vertrauen der Ukrainer:innen in den Staat und ihren Wunsch, ihren Staat zu verteidigen, aussagt. Die Frage der sozialen Klassen war sehr wichtig, da die Wehrpflichtigen hauptsächlich aus den unteren Klassen, den Dörfern, kamen. Es handelte sich hauptsächlich um arme Menschen, die die Rekrutierungsoffiziere nicht bestechen konnten, damit sie sie gehen ließen, und um Menschen, die keinen Weg gefunden hatten, aus dem Land zu fliehen.

Zaluzhny, der Chef der ukrainischen Streitkräfte, und Kuleba, der Außenminister, wurden in diesem Jahr entlassen. Könnten Sie die Frage der politischen Kämpfe innerhalb der ukrainischen Bourgeoisie noch einmal aufgreifen?

Zalujny war ein potenzieller politischer Gegner Selenskyis. Für ihn war es gefährlich, dass sich ein populärer General in einen Politiker verwandelte. Dies war einer der Gründe, warum Zaloujny als Botschafter in das Vereinigte Königreich geschickt wurde. Bei Kuleba gab es auch ein Vertrauensproblem. Wir können dies als den Aufbau einer vertikalen Macht analysieren, eine informelle Art und Weise, die Elite zu konsolidieren und das Land zu regieren, indem sowohl formelle Institutionen wie die demokratische Verfassung und das Parlament als auch informelle Mechanismen genutzt werden.

Alle ukrainischen Präsidenten haben versucht, diese informelle Macht aufzubauen. Selenskyjs vertikale Macht begann sich bereits vor der Invasion aufzubauen, doch der Krieg hat die Möglichkeiten ausgeweitet. Sein Stabschef Andri Yermak gilt als die zweitmächtigste Person des Landes mit enormer informeller Macht und der Fähigkeit, eine effektive informelle Struktur aufzubauen, die die Macht um das Präsidentenamt herum konsolidiert.

Die Dynamik dieser Konflikte bleibt der Öffentlichkeit größtenteils verborgen. Sie ist vor allem mit den Ergebnissen der Frontlinie und den militärischen Entwicklungen verknüpft. Im Falle einer schlechten Entwicklung für die ukrainische Armee würden diese Konflikte eskalieren und einige radikale Nationalist:innen oder sogar Oligarch:innen könnten sich erheben.

Vieles hängt von der Position der USA und der EU und der Strategie ab, die Trump wählen wird. Es sei denn, Selenskyj ist in der Lage, diesen Krieg auf eine Weise zu beenden, die der ukrainischen Öffentlichkeit als Sieg präsentiert werden könnte, mit dem Erhalt der EU- oder NATO-Mitgliedschaft oder bestimmter großzügiger Finanzierungsprogramme für die Ukraine zum Beispiel, selbst wenn sie Territorium verliert. Mit einem Ausgang, der als Niederlage wahrgenommen würde, hätte Selenskyj nach dem Krieg wahrscheinlich nicht viele Perspektiven.

Welche Rolle spielt die extreme Rechte in der Ukraine? Dieses Thema wurde in den westlichen Medien während des gesamten Krieges heiß diskutiert. Einige liberale westliche Medien versuchen auch, die ukrainische extreme Rechte als weniger gefährlich als die westliche extreme Rechte darzustellen, weil sie auf der richtigen Seite der Geschichte kämpft, indem sie davon ausgeht, dass Russland der größte Feind ist. Das Selenskyj-Regime versuchte, diese Teile der extremen Rechten anzusprechen, indem es offizielle Zeremonien für das Asow-Bataillon veranstaltete oder den Geburtstag von Stepan Bandera, einem Nationalisten und Nazi-Kollaborateur, feierte. Es ist schwierig, von Frankreich aus zu verfolgen, wie sich diese Dynamik mit dem Fortschreiten des Krieges entwickelt. Ist die extreme Rechte ein kleines, aber aufgrund ihrer Verankerung in der Armee mächtiges Segment, oder gewinnt sie außerhalb der traditionellen rechtsextremen Sektoren an Popularität? Spielt die extreme Rechte eine wichtige Rolle in der politischen Landschaft der Ukraine oder wird sie von den Medien übertrieben dargestellt?

Wenn der Westen über die ukrainische extreme Rechte diskutiert, haben sie meiner Meinung nach den falschen Vergleichsmaßstab. Beispielsweise ist die extreme Rechte in Frankreich, hauptsächlich Le Pens Partei Rassemblement National, weit weniger extrem als die Bewegungen, über die wir in der Ukraine sprechen. Le Pens Partei verwendet wahrscheinlich keine Nazisymbole und hat eine ausgefeiltere Haltung gegenüber der Kollaboration mit Vichy während des Zweiten Weltkriegs. Sie versuchen, sich als gemäßigt darzustellen. In der Ukraine ist dies nicht der Fall.

Sie haben Stepan Bandera erwähnt, der offen verherrlicht wird, und noch mehr die Waffen-SS, insbesondere von den Mitgliedern des Asow-Bataillons. Der Grad des Extremismus der ukrainischen extremen Rechten ist viel höher als der der westlichen extremen Rechten. Vor kurzem fand in Lwiw, der größten Stadt der Westukraine, eine internationale Konferenz mit dem Titel „Nation Europa“ statt, zu der Gruppen wie der Dritte Weg aus Deutschland, CasaPound aus Italien und ähnliche Neonazigruppen aus vielen europäischen Ländern eingeladen wurden. In der Ukraine nahmen alle großen rechtsextremen Organisationen teil, darunter die Partei Swoboda und prominente Mitglieder von Asow/Nationalkorps. Übrigens haben die meisten ukrainischen Militäreinheiten, die an der Konferenz teilnahmen, Verbindungen zum ukrainischen Militärgeheimdienst (HUR).

Die ideologisch gebilligte Fähigkeit zur politischen Gewalt der ukrainischen „extremen Rechten“ ist weitaus größer als die der dominierenden rechtsextremen Parteien im Westen. Sie verfügen über viel mehr Waffen und paramilitärische Bewegungen, die um militärische Einheiten herum aufgebaut sind, die zu politischer Gewalt fähig sind. Im Gegensatz zu den führenden rechtsextremen Parteien im Westen, die einen parlamentarischen Status anstreben, beruhte die Macht der ukrainischen Rechtsextremen immer auf ihrer Fähigkeit, auf der Straße zu mobilisieren und mit Gewalt zu drohen. Sie waren nicht in der Lage, zu Volksvertretern zu werden, mit Ausnahme der Wahlen von 2012, als die rechtsextreme Partei Swoboda mehr als 10 Prozent der Stimmen gewann, außerdem stellen sie die größten Fraktionen in vielen Gemeinderäten in der Westukraine. Die wichtigste Machtquelle war jedoch ihre außerparlamentarische Mobilisierungsfähigkeit, im Gegensatz zu den oligarchischen Parteien oder den schwachen Liberalen.

Die ukrainischen Nationalist:innen können sich auf eine politische Tradition stützen, die auf die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) zurückgeht, die zu einer Familie faschistischer Bewegungen im Europa der Zwischenkriegszeit gehörte. Postsowjetische ukrainische Nationalist:innen haben sich oft direkt von der OUN inspirieren lassen. Diese Tradition wurde in der ukrainischen Diaspora, insbesondere in Nordamerika, fortgesetzt. Die kanadische Öffentlichkeit erfährt erst jetzt, wie viele ukrainische Faschisten ihre Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen hat. Andere postsowjetische ukrainische politische Segmente haben nicht diesen Vorteil einer bewahrten politischen Tradition.

Heute sind die Mitglieder von Asow als Kriegshelden sehr legitim geworden, sie genießen eine außerordentliche Aufmerksamkeit der Medien, sie präsentieren sich als Eliteeinheit, eine Behauptung, die von den Medien bestätigt wird. Viele Redner aus Asow sind zu Berühmtheiten geworden. Sie haben auch in den westlichen Medien, die sie vor 2022 als Neonazis bezeichneten, eine gewisse Rehabilitierung genossen. 

Schließlich müssen wir nicht nur über die extreme Rechte selbst nachdenken, sondern auch über die Komplizenschaft der ukrainischen und westlichen Eliten bei der Verharmlosung der ukrainischen extremen Rechten und des Ethnonationalismus. Nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Westen kann eine Diskussion über dieses Thema heute sofort zur Ächtung führen. Beispielsweise schreibt Marta Havryshko, eine ukrainische Historikerin, die in die USA gezogen ist, weiterhin kritische Artikel über ukrainische Nationalist:innen, die ukrainische ethnonationalistische Politik und die ukrainische extreme Rechte und erhält Tausende von Drohungen, Todesdrohungen und Vergewaltigungsdrohungen.

Ist Asow für Sie die wichtigste Kraft der ukrainischen extremen Rechten? Sie wurde durch den Kampf um Mariupol und Bakhmut stark geschwächt. Glauben Sie, dass sie in Zukunft noch eine wichtige Rolle bei der Neuformierung der extremen Rechten spielen wird?

Im Gegenteil, sie haben sich weiterentwickelt und bilden nun zwei Brigaden – die dritte Sturm-Brigade und die Asow-Brigade der Nationalgarde – sowie eine Spezialeinheit, die Krake, die der HUR unterstellt ist. Ihre politische Attraktivität und Öffentlichkeitswirksamkeit  haben erheblich zugenommen. Auch ihre Legitimität ist größer geworden, so dass sie nicht geschwächt, sondern gestärkt werden. Entgegen dem populären Mythos haben sie sich nicht deradikalisiert.

Befürchten Sie, dass nach dem Krieg nur die extreme Rechte, insbesondere jene, die an der Front gekämpft hat, ein ausreichend kohärentes ideologisches Projekt für die Nachkriegsukraine haben wird, wenn man bedenkt, dass das neoliberale Projekt für die Ukraine keine Ideologie hat und die Linke schwach ist?

Das hängt völlig vom Ausgang des Krieges ab, und die Bandbreite der Ergebnisse ist noch sehr groß. Ein Atomkrieg ist ein möglicher Ausgang, auch wenn wir hoffen, dass er nicht der wahrscheinlichste ist. In diesem Fall würde alles, worüber wir heute diskutieren, keine Rolle mehr spielen. Ein dauerhafter Waffenstillstand ist ebenfalls möglich, aber unwahrscheinlich. Die Radikalisierung der ukrainischen Rechtsextremen wird von der Stabilität der Regierung Selenskyj und der Stabilität der ukrainischen Wirtschaft abhängen. Im Falle eines Zerfalls der staatlichen Institutionen und einer gescheiterten Wirtschaft haben die Nationalisten gute Chancen, ihre Macht zu festigen, da sie eine legitime, bekannte und militarisierte politische Kraft darstellen.

Wie ist die Lage der Arbeiter:innenbewegung? Seit Beginn des Krieges gab es in der Ukraine einige kleinere Streiks, insbesondere im Gesundheitssektor. Aber es ist schwer zu sagen, wie die Situation der arbeitenden Klasse in der Ukraine wirklich ist. Wie steht es um ihre Fähigkeit, sich zu organisieren und zumindest ein Gegengewicht zum Aufstieg der extremen Rechten im Land zu bilden?

Die Arbeiter:innenklasse kann in der aktuellen Situation keine Rolle spielen. Die Arbeiter:innenbewegung in der Ukraine war schon lange vor dem Krieg schwach. Der letzte wirklich massive politische Streik fand 1993 unter den Bergarbeiter:innenn im Donbass statt. Sie forderten die Autonomie des Donbass und – ironischerweise – engere Beziehungen zu Russland. Aber selbst dieser Streik war mit den Interessen der „roten Direktoren“ der sowjetischen Unternehmen verbunden, die in den unmittelbaren postsowjetischen Jahren viel Macht besaßen. Sie nutzten den Streik, um bestimmte Zugeständnisse von der Regierung zu erhalten. Schließlich führte der Streik zu vorgezogenen Wahlen und einem Regierungswechsel. Seitdem gab es jedoch keine groß angelegten Streiks mehr.

Drei Jahrzehnte lang haben wir nur Streiks in kleinem Maßstab gesehen, die in der Regel auf bestimmte Unternehmen, bestenfalls auf bestimmte Wirtschaftssegmente beschränkt waren und nur sehr selten politisiert wurden. Übrigens war es gerade die Unfähigkeit, während der EuroMaidan-Revolution 2014 einen politischen Streik zu initiieren, die zur gewalttätigen Eskalation führte, weil man keinen Einfluss auf eine Regierung nehmen konnte, die den Demonstrant:innen keine Zugeständnisse machen wollte. Dies bot radikalen Nationalist:innen die Gelegenheit, die gewalttätige Strategie der Demonstrationen zu fördern. Und so ja, nach dieser groß angelegten Invasion wurden Streiks verboten. Die Streiks, die stattfanden, waren wahrscheinlich informelle Streiks.

Was in Zukunft passieren wird, hängt immer noch stark davon ab, wie der Krieg enden wird. Aber nach allem, was wir wissen, würde die Ermächtigung der Arbeiter:innenbewegung ein gewisses Wirtschaftswachstum erfordern, damit die Arbeiter:innen nicht entlassen werden. Dies erfordert einen erfolgreichen Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft. In einigen sehr optimistischen – aber nicht unbedingt wahrscheinlichen – Szenarien könnten die ukrainischen Soldaten, die in die ukrainische Wirtschaft zurückkehren würden, mehr von der Regierung verlangen, was nach einigen Kriegen, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, tatsächlich geschehen ist. Dies bleibt jedoch heute im Bereich der Spekulation. Viel düsterere Szenarien scheinen nun wahrscheinlicher zu sein.

Was die Situation und die Positionen der ukrainischen Linken betrifft; zu Beginn des Krieges stellten viele Artikel und Texte die Ansichten ukrainischer Linksaktivist:innen dar und erklärten, wie blind die westliche Linke ist, wenn sie die Waffenlieferungen der NATO nicht weiter unterstützt. In Ihren Artikeln versuchen Sie, eine differenziertere Sicht auf den Krieg einzunehmen. Wie haben sich die Positionen der ukrainischen organisierten Linken, aber auch der Intellektuellen, nach zwei Jahren Invasion verändert? Nimmt die Linke eine kritischere Haltung gegenüber der ukrainischen Regierung und der Rolle ein, die die NATO in dem Konflikt spielt?

Die ukrainische Linke war schon immer sehr vielfältig. Ironischerweise hat die größte linke Partei in der Ukraine, die Kommunistische Partei der Ukraine, die russische Invasion unterstützt. Die Kommunistische Partei der Ukraine war bis zur EuroMaidan-Revolution eine sehr wichtige Partei. In den 1990er Jahren war sie die populärste Partei des Landes. Der Kandidat der Kommunistischen Partei erhielt bei den Präsidentschaftswahlen 1999 37 Prozent der Stimmen. Selbst am Vorabend der EuroMaidan-Revolution erhielt die Kommunistische Partei 13 Prozent der Stimmen. Auch wenn ihre Unterstützung abnahm, verfügte sie über eine bedeutende Vertretung im Parlament und unterstützte die Regierung von Viktor Janukowytsch wirksam. Nach dem EuroMaidan verlor sie ihre Wahlhochburgen im Donbass und auf der Krim. Sie wurden auch Opfer von Repressionen aufgrund des staatlichen Antikommunismus, die Partei wurde suspendiert und 2022 endgültig verboten, ebenso wie eine Reihe anderer sogenannter pro-russischer Parteien. Petro Symonenko, der Parteiführer, der seit 1993, seit der Gründung der Partei, unverändert geblieben war, floh im März 2022 nach Weißrussland. Von Weißrussland aus unterstützte er die russische Invasion als antifaschistische Operation gegen das „Kiewer Regime“. Die kommunistischen Organisationen in den besetzten Gebieten fusionierten mit der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation und nahmen an den von Russland organisierten Kommunalwahlen im Jahr 2023 teil, wobei sie sogar in einige Kommunalräte einzogen. Die gleiche Fusion fand mit den offiziellen ukrainischen Gewerkschaften in den besetzten Gebieten statt.

Das ist also der Löwenanteil dessen, was man in der Ukraine als links bezeichnet hat. Gleichzeitig gab es viel kleinere und jüngere linke Gruppen. Sie kritisierten stets die Kommunistische Partei und passten sich an die Sozialdemokratie und die liberale Linke im Westen an. Sie hatten auch eine ganz andere soziale Basis als die Kommunistische Partei – näher an der prowestlichen NGO-geführten „Zivilgesellschaft“ der Mittelschicht in der Ukraine. Nach dem Beginn der Invasion konnten sie ihre Position durch eine Art Identitätspolitik viel effektiver an den Westen kommunizieren: „Wir sind die ukrainische Linke. Die dumme und arrogante westliche Linke versteht nichts von dem, was in unserem Land passiert“. Natürlich war diese Position, gelinde gesagt, von Anfang an sehr problematisch. Zum Vergleich: Die Kommunistische Partei hatte 2014 100 000 Mitglieder, die ein Parteibuch besaßen. Das junge linke Milieu hatte selbst in den besten Jahren seiner Entwicklung landesweit nicht mehr als 1.000 Aktivist:innen und Sympathisant:innen, und ihre Zahl ist seither, nach dem Euromaidan, zurückgegangen. Von den Linken unterstützten die meisten die Kriegsanstrengung, viele meldeten sich freiwillig zum Militär, waren aber nicht in der Lage, eine linke Militäreinheit zu schaffen, die mit den rechtsextremen Einheiten vergleichbar wäre, nicht einmal in einem viel kleineren Maßstab. Viele beteiligten sich auch an humanitären Initiativen.

Heute neigen einige von ihnen dazu, ihre Haltung zum Krieg zu überdenken, insbesondere als Reaktion auf die brutale Einberufung zum Militär. Es ist wirklich schwierig zu behaupten, dass der Krieg immer noch eine Art „Volkskrieg“ ist, wenn die Mehrheit der Ukrainer:innen nicht kämpfen will. Inwieweit sie bereit sind, diese Position zum Ausdruck zu bringen, hängt auch von ihrer Angst vor Repressionen ab. Es ist schwierig, dies in der ukrainischen Öffentlichkeit zu sagen, diese Art von Kritik existiert vor allem in privaten Gesprächen, „nur für Freunde“-Facebook-Konten und so weiter und wird in der Öffentlichkeit nur sehr vorsichtig artikuliert.

Es gibt auch Kritik am Ethno-Nationalismus, die aus diesem Umfeld kommt, weil es zu schwierig geworden ist, zu ignorieren, wie sich die Ukraine in zwei Jahren mit der Ausweitung der Diskriminierung von Russischsprachigen und der Politik der ethnischen Assimilation verändert hat. Beispielsweise wird Russisch in ukrainischen Schulen nicht einmal mehr als Wahlfach unterrichtet, selbst in massiv russischsprachigen Städten wie Odessa, wo wahrscheinlich 80-90 Prozent der Kinder mit ihren Eltern Russisch sprechen. Ein kürzlich vorgelegter Gesetzentwurf könnte das Russischsprechen in Schulen verbieten, nicht nur im Unterricht mit den Lehrer:innen, sondern auch in den Pausen, in privaten Gesprächen der Schüler:innen untereinander. Der Gesetzentwurf wurde bereits vom Bildungsminister gebilligt.

Das dritte Segment der ukrainischen Linken ist marxistisch und gehört zu dem, was ich als „neosowjetische Erneuerung“ bezeichne, die in vielen postsowjetischen Ländern stattfindet. Sie sind in der Regel in Krushki organisiert – was wörtlich übersetzt „Zirkel“ bedeutet, die aber protopolitische Organisationen sind, etwas mehr als nur marxistisch-leninistische Lesegruppen. Sie sind in Russland viel beliebter, wo sie in der Lage sind, YouTube-Kanäle mit hunderttausenden Abonnent:inneen zu erstellen. In Russland, Weißrussland und Zentralasien können Krushki Tausende junger Menschen einbeziehen, die keinen einzigen Tag in der UdSSR gelebt haben, aber die soziale und politische Realität ihres Landes kritisieren und im orthodoxen marxistischen Leninismus Instrumente finden, um sich mit dieser Realität auseinanderzusetzen. Auch in der Ukraine existieren sie und sind sogar gewachsen, trotz der Entkommunisierung und des Anstiegs von antirussischem Nationalismus und antikommunistischen Haltungen. Fast von Anfang an haben sich diese Gruppen gegen beide Regierungen gestellt und eine revolutionär-defätistische Haltung eingenommen. In dieser Situation ist es fraglich, ob eine soziale Revolution überhaupt möglich ist, wie es vor hundert Jahren auch in der Ukraine im zusammenbrechenden Russischen Reich der Fall war. Dennoch kritisierten diese Gruppen von Anfang an die Zwangsrekrutierung, riefen zum Internationalismus auf und versuchten nicht, die Handlungen des ukrainischen Staates zu legitimieren.

Dieser Artikel erschien zunächst am 25. November in Révolution Permanente.

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