Ukraine: Die Sackgasse des Humanitarismus im Fahrwasser der NATO

25.02.2022, Lesezeit 9 Min.
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Um die Antwort der NATO auf den russischen Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen, werden auch humanitäre Argumente vorgebracht. Doch das führt in die Irre. Das Potenzial, den Krieg zu stoppen, liegt stattdessen bei der internationalen Arbeiter:innenklasse.

Der Imperialismus tarnt seine ihm eigenen Ziele – Besitzergreifung von Kolonien, Märkten, Rohstoffquellen, Einflusssphären mit solchen Ideen wie der „Sicherung des Friedens gegen die Aggressoren“, der „Verteidigung des Vaterlandes“, der „Verteidigung der Demokratie“ usw. Diese Ideen sind durch und durch falsch. Es ist die Pflicht eines jeden Sozialisten, sie nicht nur nicht zu unterstützen, sondern im Gegenteil sie vor dem Volke zu demaskieren.

– Leo Trotzki, Lenin und der imperialistische Krieg

Angesichts des russischen Einmarsches in die Ukraine stellen sich viele Menschen die Frage, wie ein größerer Krieg verhindert und Putin Einhalt geboten werden kann. Während die bürgerlichen Medien und die Regierungen der NATO-Staaten sich in eskalativer Rhetorik üben, Sanktionen verhängen und Truppen an die russische Grenze verlegen, stehen Kriegsgegner:innen vor einem augenscheinlichen Dilemma: Ist angesichts des russischen Einmarsches nicht eine Reaktion von Seiten der NATO, der EU oder Deutschlands notwendig?

Gegenüber dem reaktionären, repressiven, bonapartistischen Putin-Regime, das nicht nur im Inland Arbeiter:innen und soziale Bewegungen unterdrückt, sondern auch in Ländern wie Kasachstan Aufstände der Massen militärisch niederschlägt, ist eindeutig Widerstand nötig. Für die Massen in der Ukraine bietet Russland keinen positiven Ausweg, sondern nur weitere Unterwerfung. Putins oligarchische Clique und ihr Staatsapparat im Interesse des russischen Kapitals müssen gestürzt werden.

Doch sollten wir uns dafür auf die NATO stützen? Auf die kriegerische Allianz der imperialistischen Mächte, die in Afghanistan einmarschiert ist, Atomraketen in ganz Europa stationiert hat und Osteuropa als ihren eigenen Hinterhof betrachtet, der ausgeplündert werden kann?

Geopolitische Konflikte spitzen politische Positionen zu. Die Grünen haben das schon 1999 bewiesen, als sie als Teil der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder mit Joschka Fischer den Außenminister stellten. Die Abkehr vom Pazifismus und die Unterwerfung unter die Interessen des deutschen Imperialismus kam im Kosovo-Einsatz der Bundeswehr zum Ausdruck, die Fischer mit einem Argument rechtfertigte, das im Rückblick praktisch Holocaust-Verharmlosung war: „Wir haben immer gesagt: Nie wieder Krieg. Aber wir haben auch gesagt: Nie wieder Auschwitz!“

Auch heute nutzen die Grünen mit Annalena Baerbock im Außenministerium Argumente der Verteidigung der Menschenrechte, der Demokratie, ja sogar des Feminismus, um die Kriegstrommel gegenüber Russland zu rühren.

Gegen den heuchlerischen Humanitarismus!

Schon lange werden imperialistische Kriegseinsätze mit der Verteidigung von Menschenrechten, der Durchsetzung demokratischer Reformen oder der Gefahr humanitärer Krisen gerechtfertigt. Um nur drei Beispiele zu erwähnen: Der Afghanistan-Einsatz ab 2001, der erst nach 20 Jahren beendet wurde und ein zerstörtes Land und wiedererstarkte Taliban hinterließ; der Irakkrieg ab 2003, der hunderttausende Todesopfer forderte und zahllose Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen mit sich brachte; oder der schon erwähnte Kosovokrieg, bei dem Bombardements mit Beteiligung der Bundeswehr zur Flucht von Hunderttausenden führten.

Besonders heuchlerisch ist die Rede von Menschenrechten angesichts des Schicksals von Geflüchteten. Während das europäische Grenz- und Lagersystem zum Tod von Zehntausenden an den EU-Außengrenzen führt und in Lagern regelmäßig humanitäre Katastrophen stattfinden, werden auch in der aktuellen Krise Geflüchtete dem politischen Kalkül der Mächte geopfert. Während beispielsweise die polnische Regierung an der polnisch-belarussischen Grenze aktuell einen Grenzzaun errichten lässt, um Migrant:innen und Geflüchtete aus dem Nahen Osten aufzuhalten, verspricht sie ihre volle Unterstützung für Flüchtende aus der Ukraine. Im Ukraine-Konflikt ist die polnische Regierung williger NATO-Partner, weshalb die sonst beanstandeten Menschenrechtsverletzungen plötzlich keine Rolle mehr spielen. Ganz zu schweigen vom NATO-Partner Türkei, der im Austausch für Milliardenzahlungen Geflüchtete am Weg nach Europa hindert und mit deutschen Waffen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führt.

Wird DIE LINKE zum NATO-Verteidiger?

Während DIE LINKE entgegen abstrakter Bekenntnisse schon länger ihre grundsätzliche Opposition zur NATO aufweicht, ist auch die aktuelle Ukraine-Krise ein Prüfstein für die Partei. Und hier zeigt sich, dass sich ein abstraktes Bekenntnis zum Frieden schnell in eine Unterstützung für die NATO und ihre Agenda verwandelt. Denn unter dem Deckmantel der Verteidigung des „Völkerrechts“ oder der Abwendung einer humanitären Krise wird auch von ihnen der Eingriff der NATO-Staaten gerechtfertigt – in seinen reaktionärsten Varianten die militärische Intervention, aber zumindest die Verhängung von Sanktionen. Dabei sind Sanktionen nur eine andere Spielart imperialistischer Interessenpolitik.

Konkret zeigt sich das beispielsweise an der Reaktion der Linkspartei-Spitze auf einen Tweet des Berliner Landesverbandes der Linksjugend [‘solid]. Dieser wandte sich nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen die NATO und jegliche Sanktionen und forderte die Zerschlagung der NATO. Die Berliner Linkspartei-Führung und die Spitze des Linksjugend-Bundesverbandes reagierten mit scharfer Kritik an dieser Position, die unter Linken doch eigentlich grundlegend sein sollte. Die Spitze des Jugendverbandes verstieg sich zu der Aussage, dass solche Positionen wie die des Berliner Landesverbandes eine „blinde Antihaltung“ gegen die NATO darstellten, obwohl diese doch „Möglichkeiten von Auswirkungen […] auf die Situation“ habe. Eine verklausulierte Hoffnung, dass die NATO mit ihren imperialistischen Mitteln doch eine progressive Perspektive für den Konflikt geben könne. Die aktuell brennende Frage von Sanktionen wird mit keinem Wort erwähnt. Schärfer argumentiert ein kleinerer Ortsverband der Linksjugend aus Brandenburg: „Dass die EU Sanktionen angekündigt hat und diese umgesetzt werden, ist richtig. Dabei darf es aber nicht bleiben! […] die EU ist nicht strikt genug. Die NATO greift so gut wie nicht ein!“

Hier zeigt sich, dass von der Unterstützung von Sanktionen nur ein kurzer Weg bis zur Unterstützung einer militärischen Intervention liegt.

Doch auch ohne militärische Intervention ist der „humanitäre“ Imperialismus keine Lösung für die arbeitenden Massen und die unterdrückten Völker. Die kapitalistische Restauration in Osteuropa hat korrupte Regierungen an die Macht gebracht, die von den imperialistischen europäischen Ländern, allen voran Deutschland, abhängig sind. Im Namen von Demokratie und Freiheit wurde in diesen Ländern eine beispiellose Deindustrialisierung und Privatisierung vorangetrieben, die zu sinkender Lebenserwartung, explodierender Armut und dem Aufstieg nationalistischer bis faschistischer Kräfte geführt haben. Unter der EU und der NATO ist keine Unabhängigkeit der osteuropäischen Völker möglich.

Als antiimperialistische Sozialist:innen stellen wir uns eindeutig gegen jedwede Sanktionen und Intervention der NATO, während wir zugleich den russischen Einmarsch und jede russische Einmischung in die Ukraine ablehnen. Die NATO ist ein Kriegsbündnis, kein Friedens- oder Verteidigungsbündnis. Sie muss aufgelöst, ihre Basen geschlossen und ihre Kriegslogistik gestoppt werden. Unsere einzige Option gegen den Krieg heißt internationale Solidarität und Klassenkampf.

Das Potenzial der Arbeiter:innenklasse

Teil der Unterwerfung unter die heuchlerische Logik der humanitären Intervention ist die Skepsis über oder die direkte Ablehnung der Perspektive, dass die Arbeiter:innenklasse in der Ukraine, in Russland und in Deutschland nicht nur ein Interesse gegen den Krieg hat, sondern durch ihre selbsttätige Aktion auch den Krieg stoppen kann.

Dabei ist klar, dass der Westen keinerlei Interesse an einer unabhängigen Ukraine hat und das Land im Konflikt mit Russland reine Verhandlungsmasse darstellt. Wenn es eine progressive Antwort auf den Krieg geben soll, dann kann er weder in Sanktionen, Waffenlieferungen oder militärischen Interventionen, sondern nur in der internationalen Solidarität der Arbeiter:innen mit Streiks gegen jede militärische Aggression und gegen die Ausplünderung des Landes liegen.

Die Arbeiter:innenklasse, insbesondere im Transportsektor wie Hafenarbeiter:innen und Eisenbahnarbeiter:innen sowie in der Metallindustrie, besetzt die strategischen Positionen, um die Kriegslogistik zu stoppen – und zwar in Russland, in der Ukraine und in den imperialistischen NATO-Staaten wie Deutschland. Die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiter:innenbewegung muss sich diese strategischen Positionen zu Nutze machen, um den Krieg zu stoppen und mit einem eigenen Programm zu intervenieren.

Ansonsten bleibt nur die Unterordnung unter die NATO und der reaktionäre Schulterschluss der „nationalen Einheit“ mit der Regierung und dem Großkapital. Jedes Zugeständnis an eine angeblich progressive Rolle der NATO (zur „Verteidigung der Demokratie“ oder als weniger schlimme Alternative zu Putin) ist eine Rechtfertigung für vergangene und zukünftige imperialistische Kriegseinsätze. Es ist ein Aufgeben der Perspektive, dass die Arbeiter:innenklasse mit ihrer eigenen Kraft die Welt verändern kann.

Im Gegensatz zu denjenigen, die die imperialistische Durchdringung und Halbkolonisierung des Landes vertiefen wollen, besteht für uns die einzige realistische Perspektive für die Unabhängigkeit der Ukraine darin, die Oligarchien zu enteignen und die Unterwerfung durch den Westen zu brechen. Alle Vereinbarungen mit dem IWF und die Vormundschaft der Finanzorganisationen müssen gebrochen werden, um zu verhindern, dass die natürlichen Ressourcen den multinationalen Konzernen überlassen werden. Mit anderen Worten: Kampf gegen die Kapitalist:innen, in der Perspektive einer unabhängigen sozialistischen Ukraine der Arbeiter:innen.

Nur ein solcher von der Arbeiter:innenklasse angeführter Ausweg auf dem Weg zu einer sozialistischen Ukraine der Arbeiter:innen könnte die demokratischen und nationalen Rechte sowie ein Ende der systematischen Ausplünderung durch ausländische Unternehmen und lokale Oligarchien garantieren. Außerdem wäre dies zweifellos eine große Inspiration für die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückte Jugend in Russland, die heute unter einer großen sozialen Krise und der autoritären Politik der bonapartistischen Regierung zu leiden haben. Vielleicht könnte dies den Weg für eine neue soziale Revolution in diesem Land ebnen.

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