Türkische Verhältnisse in Brasilien

17.06.2013, Lesezeit 4 Min.
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// Proteste in zahlreichen Städten gegen Fahrpreiserhöhung //

In allen wichtigen Städten Brasiliens gehen seit Tagen Zehntausende Menschen gegen eine Fahrpreiserhöhung für Busse und U-Bahnen auf die Straße. Allein in der größten Stadt des Landes, São Paulo, demonstrierten am vergangenen Donnerstag rund 10.000 Menschen. Die Polizei ging mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Protestierenden vor. 230 Menschen wurden verhaftet und unzählige verletzt, darunter sieben JournalistInnen. In der Folge breiteten sich die Aktionen auf andere Städte aus, auch in Rio de Janeiro kam es dabei zu Auseinandersetzungen.

Der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, Geraldo Alckmin von der konservativen PSDB, hatte zuvor die DemonstrantInnen als „Chaoten“ beschimpft. Aber auch Bürgermeister Fernando Haddad, der der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT) von Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef angehört, verteidigte das Vorgehen der Polizei.

Europäische Medien kommentierten die Auseinandersetzungen mit dem Tenor „Straßenschlachten wegen sieben Cent“, und tatsächlich scheint die Fahrpreiserhöhung von bislang drei Reais auf 3,20 (von 1,05 auf 1,12 Euro) eher klein. Doch bei einem landesweiten Mindestlohn von 218 Euro im Monat würde die Erhöhung für viele arme Bewohner der 20-Millionen-Metropole erhebliche Einbußen bedeuten.

Bereits vor der jüngsten Steigerung forderte die „Bewegung für den Nulltarif“ (Movimento Passe Livre) die Senkung der Ticketpreise und die Finanzierung des Nahverkehrs durch Steuern. Erste Erfolge haben die Proteste schon erzielt. So wurden die Steigerungen in Porto Alegre im Süden, Goiania im Zentrum und Natal im Nordosten des Landes zurückgenommen.

Am Sonntag wurden Fußballspiele in der Haupstadt Brasilia und in Rio de Janiero gestört. Beim Confedera­tions Cup in Brasilia wurde Präsidentin Roussef von den Fans ausgebuht. Gegen mehrere hundert DemonstrantInnen vor dem Stadion ging die Polizei mit Pferden und Tränengas vor. Auch vor dem Stadion Maracanã in Rio de Janeiro demonstrierten bis zu 2.000 Menschen gegen steigende Lebenshaltungskosten. Die Protestierenden fordern Geld für Gesundheit und Bildung, statt für internationale Sportveranstaltungen wie die im kommenden Jahr anstehende Fußball-Weltmeisterschaft sowie die Olympischen Sommerspiele 2016.

Der Unmut wächst auch über den Wirtschaftsboom, von dem nur wenige profitieren. São Paulo hat neben seinen riesigen Slums auch die größte Zahl von Hubschraubern weltweit. Zum Bau neuer Stadien werden Favelas genannte Armenviertel abgerissen, die BewohnerInnen werden vertrieben und müssen sich an den Stadträndern niederlassen. Dadurch sind sie auf den immer teurer werdenden Nahverkehr angewiesen sind, der durch private Firmen betrieben wird. Die jüngste Fahrpreiserhöhung war deshalb der Funken, der die Proteste ausgelöst hat, in erster Linie von Studenten und Jugendlichen. Für Montag Abend waren weitere Demonstrationen angekündigt, zu denen erneut Zehntausende TeilnehmerInnen erwartet wurden.

In Berlin demonstrierten am Sonntag rund 500 junge BrasilianerInnen ihre Solidarität mit denjeniegen, die auf die Straße gehen. Aufgerufen hatte eine junge Brasilianerin via Facebook – dort gab es 3.000 Zusagen, aber die meisten davon waren Menschen, die in Brasilien wohnen. „Die Stadt gehört den Menschen – in Brasilien, in der Türkei“ stellten sie auf einem Plakat einen Zusammenhang zwischen den Protesten auf beiden Kontinenten her. Denn sowohl in São Paulo wie in Istanbul werden arme Menschen durch Riesenbauprojekte der Regierungen verdrängt. AktivistInnen, die die Proteste am Taksim-Platz mit einem Zelt am Kotti unterstützen, beteiligten sich an der Demonstration für Brasilien, bevor man anschließend zusammen zur Türkei-Solidaritätsdemonstration ging. Dort demonstrierten mehr als 5.000 Menschen, viele mit rot-weißen Fahnen der Türkei und einige mit grün-gelben Fahnen Brasiliens.

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