Türkei-Wahl: Ein Kampf zwischen zwei Nationalisten
Am 14. Mai finden im türkischen Staat die Staatspräsidenten- und Parlamentswahlen statt. Es hat sich eine parlamentarische Volksfront formiert, um Erdoğans Alleinherrschaft abzuwählen, deren Kandidatur für das Staatspräsidentenamt von mehreren linken Parteien und der kurdischen Bewegung unterstützt wird. Die Opposition will zurück zum parlamentischen System und neoliberale Reformen umsetzen, um angeblich das Land aus der tiefen Wirtschaftskrise rauszuholen.
Als Opposition in der Präsidentschaftswahl tritt Kemal Kılıçdaroğlu an – der nationalistisch-kemalistische Vorsitzende der CHP. In der aktuellen Situation unterstützen auch außerhalb des sogenannten Sechser-Tisches1 auch das Bündnis Front für Arbeit und Freiheit die Kandidatur von Kılıçdaroğlu. Diese Bündnis besteht aus aus mehreren linkeren Parteien wie die TİP (Türkiye İşçi Partisi bzw. Arbeiterpartei der Türkei) und die HDP (Halkların Demokratik Partisi bzw. Demokratische Partei der Völker). Trotz der rassistischen Aussagen und Versprechungen Kılıçdaroğlus, wie beispielsweise der Deportation Millionen syrischer, pakistanischer und afghanischer Geflüchtete innerhalb der nächsten zwei Jahren, unterstützen sie seine Kandidatur. Ob und wie sehr sich die Repression, Presse- und Meinungsfreiheit ändern wird, ist nur zu mutmaßen, ebenso ob und wann politisch Inhaftierte freigelassen werden. Die Wähler:innen erhoffen sich mit einem Regierungswechsel ein geringeres Übel – die Rückkehr zum Parlamentsystem2 und der Anstieg von Kaufkraft und Lebensstandards. Ihre berechtigte Wut wird von der Volksfront kanalisiert, um die Abrechnung mit Erdoğans Bonapartismus zu kontrollieren und ihre Radikalisierung in Richtung sozialistischer Forderungen zu entkräften. Noch deutlicher ist die Haltung von Parteien wie der TİP und der HDP, die mit ihren Positionen zur Wahl deutlich machen, dass sie eine liberal- demokratische Politik verfolgen.
Wir stellen fest: Annäherungsversuche an die CHP, die sich bei Themen wie der Invasion Rojavas oder der Geflüchtetenfrage3 chauvinistisch positioniert, die nationale Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung beibehält, den Arbeiter:innen neoliberale Reformen als Antwort auf die Wirtschaftskrise anbietet und eine Beteiligung an einem Sechser-Tisch mit teilweise ultrarechten Parteien praktiziert, hat wenig mit Befreiungs- und Klassenkampf zu tun.
In diesem Artikel gehen wir nicht nur auf die innenpolitische, sondern auch außenpolitische Situation der Türkei ein und setzten uns im Weiteren damit auseinander, was das Ziel für eine wirklich linke Politik sein sollte: Was sind die Bedingungen dafür, die Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten für revolutionäre Kämpfe zu vereinen und vor allem- trotz der erhöhten Repressionsgefahr, die unter Erdoğans bonapartistischer Führung herrscht- zu motivieren.
Landschaft der Wahlbündnisse
Seit den letzten Wahlreformen in der Türkei treten die Parteien in Wahlbündnissen an. Aktuell existieren drei Wahlbündnisse: Zum einen gibt es die “Volksallianz”, die sich hinter Erdoğan als Präsidentschaftskandidat sammelt. Die AKP und MHP (Milliyetçi Hareket Partisi bzw. „Partei der Nationalistischen Bewegung“) haben bei den letzten Parlamentswahlen 2018 das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft, weil der Staatspräsident Erdoğan die Exekutive enorm verselbstständigt hat. Diese ultrarechte Einheit wurde mit konservativen und rassistischen Parteien ausgebaut. Sie wollen die ohnehin restriktiven Lebensbedingungen von Kurd:innen, Arbeiter:innen, Jugendliche und Frauen weiter verschärfen. Dabei verunglimpfen sie die Oppositionellen als Terrorist:innen, Verräter:innen etc. Seit der Verfassungsänderung im Jahr 2017 hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht nur weitreichende Machtbefugnisse erhalten, sondern diese auch voll ausgeschöpft. Im Rahmen des Ausnahmezustands hat Erdoğan eigenmächtig Entscheidungen getroffen und sich als letzte Instanz in allen Angelegenheiten des Staatsapparats etabliert. Seine Kontrolle reicht von der Ernennung der Universitätsrektoren bis hin zu den kleinsten Posten. Alle Wege führen in der Türkei zu Erdoğans Büro. Wir nennen das türkische Regime um Erdoğan deshalb “bonapartistisch”. Es ist eine Form der bürgerlichen Herrschaft, in der die Macht um die Exekutive des Präsidialamtes versammelt und das Parlament weitgehend entmachtet ist. Dieses Regime stützt sich auf den Polizei- und Militärapparat, der die demokratischen Freiheiten von Arbeiter:innen und politischen Oppositionellen massiv angreift.
Auf der anderen Seite ist der sogenannte “Sechser-Tisch” (eigentlich das “Bündnis der Nation”), der aus der nationalistisch-kemalistischen CHP, der ultra-rechten İYİ-Partei, sowie weiteren konservativ-wirtschaftsliberalen Parteien wie Deva und GP, die jeweils Abspaltungen, der regierenden AKP sind. Der “Sechser-Tisch” unterstützt den CHP-Kandidaten Kılıçdaroğlu für die Präsidentschaftswahlen gegen Erdoğan. In ihrem gemeinsamen Wahlprogramm heißt es: Das größte Projekt der bürgerlich-nationalistischen Opposition sei die Rückkehr zum parlamentarischen System. Diese Wandlung soll mit gewissen demokratischen Reformen, wie der Gewährleistung des Versammlungs- und Streikrechts, weniger Repression in kurdischen Städten, sowie einem neoliberalem Wirtschaftsprogramm einhergehen, die das Land aus der ökonomischen und politischen Krise rausbringen sollen.
Dazu kommt noch das linke Wahlbündnis “Emek ve Özgürlük İttifakı” bzw. “Arbeit und Freiheit”, welches hauptsächlich aus der pro-kurdischen Yeşil Sol Parti, also der “Grünen Linken Partei” (früher HDP)4 und 6 weiteren linken Organisationen gegründet wurde.5 Unter den linken Gruppen ist die TİP (Arbeiterpartei der Türkei) die prominenteste Kraft. Sie hat mit ihren vier Abgeordneten im Zuge der politischen Krise des Landes gewisse Aufmerksamkeit und Mitgliedszuwachs erhalten. Das linke Bündnis verzichtet auf eine:n eigene:n Kandidat:in und ruft ihre Basis dazu auf, bei der Präsidentschaftswahl für den nationalistisch-bürgerlichen Kandidat der CHP zu stimmen. Wir halten diese Haltung für einen Fehler und denken, dass für die Interessen der Arbeiter:innen und unterdrückten Völker die richtige Politik darin bestehen würde, eine:n von beiden bürgerlichen Blöcken unabhängigen Kandidat:in aufzustellen, welche:r den sozialistischen Kampf gegen die Wirtschaftskrise mit dem Kampf um demokratischen Forderungen des kurdischen Volkes und gegen staatliche Repression verbindet.
Die kurdischen und sozialistischen Organisationen, die in der Vergangenheit von beiden bürgerlichen Blöcke zutiefst angegriffen wurden, dürfen den Versprechen von Kılıçdaroğlu kein Vertrauen schenken. Was sind die Konsequenzen für den Klassenkampf, wenn der bürgerliche Block unterstützt wird?
Der Bonapartismus Erdoğans ist fragil wie noch nie
Seit 21 Jahren ist Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) an der Macht. Bei ihrem Amtsantritt versprach die neoliberale und islamistische Partei demokratische und wirtschaftliche Verbesserungen für die Massen, im Zuge eines möglichen EU-Beitritts. Sie verband sich mit unterschiedlichsten Interessensgruppen im Staats- und Militärapparat, um oppositionelle Bewegungen zu seiner Macht zu neutralisieren. Teile der türkischen Bourgeoisie, bspw. der Arbeitgeberverband TÜSIAD (bzw. Türkischer Verband der Industriellen und Geschäftsleute). Dieser repräsentiert vor allem die produzierenden Gewerbe Metall und Technologie und kontrolliert mehr als 50 Prozent der Wirtschaft. Der TÜSIAD positionierte sich gegen Erdoğan oder nahm eine abhaltende Haltung an, als er sich von der EU distanzierte. Der Grund dafür war, dass sie vorwiegend vom EU-Kapital abhängig waren und im Außenhandel vorwiegend in der EU Wirtschaftsbeziehungen pflegten. Die versprochenen Handels- und Kriegsgewinne aus den Nachbarländern im Osten und Süden reichten nicht aus, um die wichtigsten Sektoren zu befriedigen. Für die Massen ist die wirtschaftliche Lage ist mehr als dramatisch.
Im Jahr 2022 betrug die Inflation knapp 138%6 Prozent. Zum Vergleich: Der Dollar stieg in diesem Jahr um ca. 42%. Die Arbeitslosigkeit betrug über 10% und die Jugendarbeitslosigkeit über 19%, mit einem Rückgang im Vergleich zu einem vorangegangenen Jahr. Im Dezember 2022 verkündete die Regierung die Anhebung des Mindestlohns, um 94% zum Vorjahr. Bei einer reellen Inflation von 138 %, stellt dies allerding einen Reallohnverlust von 44% dar. Dieser Reallohnverlust in der Türkei kam einem Teil der Bourgeoisie zugute, die vor allem die Arbeitskräfte im Tourismus- und Textilsektor günstiger eisetzten.
Die ersten beiden Monate des Jahres 2022 waren von einer unerwarteten und beeindruckenden Streikwelle geprägt. Der Streik der Kuriere des Unternehmens Trendyol, das 2018 vom chinesischen Unternehmen Ali Baba übernommen wurde, ist einer der wichtigsten Fälle dieser Streikwelle. Tausende Kuriere legten drei Tage lang die Arbeit nieder, um eine Lohnerhöhung durchzusetzen. Die Gesellschaft für Arbeitsstudien registrierte 108 Streiks im Januar und Februar 2022, von denen nur der Streik im Istanbuler Büro der BBC legal war – alle anderen waren illegal. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 gab es mehr Streiks als im gesamten Jahr 2019 oder 2020. Das AKP-Regime griff die gewerkschaftliche Organisierung an. Zeitweise durften die Gewerkschaften im Jahr 2012 nur noch rund sechs Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft bei Tarifverhandlungen vertreten, während es im Jahr der Machtübernahme der AKP noch rund 13 Prozent waren. Im Jahr 2022 lag dieser Anteil bei ca. neun Prozent.
Im Laufe der Jahre finanzierte Erdoğan Sektoren wie die Immobilien- und Bauwirtschaft mit billigen staatlichen Krediten, um einerseits künstlicherweise ein Wirtschaftswachstum zu erzeugen, andererseits jedoch einen größeren Teil der Wirtschaft und der Bourgeoisie von seiner Herrschaft abhängig zu machen. Das ging mit Sanktionen für die TÜSIAD-Unternehmen einher, die sich, wie bereits erwähnt, kritisch zum Regime äußerten.
Doch der Bonapartismus regiert mit Zuckerbrot und Peitsche. Er ergreift Maßnahmen im Interesse der türkischen Bourgeoisie, um seine Stellung aufrechterhalten zu können. So verbot Erdoğan in den letzten 20 Jahren durch Präsidialdekrete mindestens 19 Streiks (Stand 2022), vorwiegend im Metallsektor. Insgesamt wurden fast 200.000 Arbeiter:innen daran gehindert, für höhere Löhne in den Streik zu treten. Einerseits zielte diese Maßnahme darauf ab, die Aktivität der Arbeiter:innenklasse und somit die Entstehung einer größeren sozialen Bewegung zu verhindern. Andererseits zeigt es den oppositionellen Teilen der türkischen Bourgeoisie, dass die bonapartistische Regierung von Erdoğan sich als Ziel nimmt, die Interessen der gesamten kapitalistischen Klasse zu verteidigen. In der Tat waren die verbotenen Streiks meistens in TÜSIAD-Unternehmen.
Nun verspricht sich die bürgerlich-nationalistische Opposition um CHP, dass sie keine Streikverbote erheben wird. Jedoch wird sie ebenfalls wie Erdoğan die Herausforderung haben, die Unterstützung der türkischen Bourgeoisie weiterhin zu genießen und wird somit gezwungen sein, Maßnahmen gegen die Arbeiter:innenklasse zu treffen – egal wie in populistischer Weise jetzt pseudo-soziale Forderungen erhoben werden. Nicht eine Stimme für Kılıçdaroğlu kann das Streikrecht versichern, sondern der gemeinsame Kampf von Gewerkschaften und Arbeiter:innen, wie im Fall von Bekaert-Arbeiter:innen7, die trotz des Streikverbots und Repressionen des Regimes ihre Arbeitsniederlegung fortsetzten.
Teil des bürgerlich-nationalistischen Oppositionsbündnis ist auch Ali Babacan, ein ehemaliger AKP-Minister, der die Wirtschaftspolitik der Regierung für mehrere Jahre übernahm. Er ist für seine westliche Nähe und neoliberale Wirtschaftspolitik bekannt. Er tritt offen als Kandidat für den Wirtschaftsminister einer Post-Erdoğan-Regierung an. Sein Wirtschaftsprogramm besteht aus massiven Privatisierungsbestreben (genau wie das AKP-Regime sie durchführt), um durch den Verkauf der staatlichen Betriebe ausländische Investor:innen und Devisen in das Land zu holen. Kılıçdaroğlu hat auch bereits angekündigt, dass er mehr westliche Investor:innen ins Land holen wird. Durch die Verschlechterung der Beziehungen zu den westlichen Mächten, würden diese angeblich ungern in die Türkei investieren. Eine neoliberale Politik, die vermeintlich die Wirtschaftskrise mildern soll. Die Frage, wie sozialistische und linke Organisationen in der Türkei eine solche Regierung befürworten können und darauf verzichten, einen alternativen klassenkämpferischen Kandidat aufzustellen, bleibt weiterhin offen.
Kann die bürgerlich-nationalistische Opposition für “Frieden” sorgen?
Der türkische Bonapartismus unter Erdoğan versuchte, die ökonomische Schwäche der türkischen Wirtschaft mit einer expansiven militärischen Politik zu kompensieren. Da er gegenüber der EU, den USA und Russland keine wirtschaftliche Konkurrenz darstellen konnte, versuchte er, seine Verhandlungsposition durch das Militär zu verbessern. Vor allem versuchte er sich als eine Regionalmacht, mit gewisser Autonomie seitens der imperialistischen und anderen Regionalmächte zu etablieren. Die expansive Politik in Syrien, Irak, sowie Militärinterventionen in Libyen seitens des türkischen Staates, dienten diesem Ziel.
Die türkische Bourgeoisie sah darin eine Möglichkeit, ihr Territorium durch militärische Eroberung dieser Gebiete zu erweitern oder die eigene Position am Verhandlungstisch zu etablieren, um wertvolle Geschäfte zu erhalten. Der türkische Bonapartismus versprach ihrer nationalistischen Basis und der türkischen Bourgeoisie, die Gewinne aus den Raubzügen in Syrien, Irak, Ägypten, Libyen und Armenien zu teilen. Aus Ägypten und Libyen wurde die Türkei vertrieben. In Syrien hält sie Gebiete besetzt und im Irak will sie mit militärischen Operationen Präsenz zeigen.
Die internationalen Medien, aber auch viele Analytiker:innen versuchten diese expansionistische Politik und Vorhaben der türkischen Regierung anhand der persönlichen Ansichten von Erdoğan oder aus rein ideologischen Gründen zu erklären. Die türkische Bourgeoisie hat dieses Vorhaben vor allem verfolgt, um ihre Position in der Region während des Niedergangs der US-Hegemonie als Weltmacht zu stärken. Alle bürgerlichen Oppositionsparteien, einschließlich der CHP und Kılıçdaroğlu, unterstützen die türkische Armee bei diesen Militäroperationen und stimmten für die Besatzung Nordsyriens/Rojavas. Auch unter einer Oppositionsregierung unter CHP und der ultra-nationalistischen İYİ-Partei ist keine andere Politik zu erwarten, außer Ambitionen der türkischen Bourgeoisie, weitere militärische Eroberungen in der Region durchzuführen oder sie nach den Kräftenverhältnissen neu zu forcieren. Ein großer Unterschied ist jedoch darin zu erwarten, dass diese mit Zuspruch der US- und EU-Imperialismen geschehen wird. Der bürgerlich-nationalistische Block würde somit die Pro-NATO-Linie des türkischen Regimes, mit der Perspektive auf einen EU-Beitritt, vertiefen.
Diese militärischen Vorhaben des türkischen Regimes stehen in Verbindung zum Rassismus und der Repression gegenüber Millionen von Geflüchteten aus Syrien und Afghanistan, die in der Türkei Zuflucht vor imperialistischen Kriegen suchen. Seit 2015 finanziert die EU offiziell das türkische Regime mit Milliarden, um Migration nach Europa zu verhindern. Aktuell wird der Rassismus gegenüber der Geflüchteten nicht vorwiegend seitens der AKP befeuert, sondern des vermeintlich fortschrittlichen Kandidaten Kılıçdaroğlu und der nationalistischen Opposition, welche zusammen die Abschiebung von fünf Millionen Geflüchteten als Wahlversprechen erheben. Dies heißt keineswegs, dass unter der aktuellen AKP Regierung eine “gute” Migrationspolitik gegenüber Geflüchteten herrsche. Trotz seiner öffentlichen Inszenierung als großer Unterstützer der Flüchtlinge verfolgt Erdoğan seine eigene politische Agenda: Er betrachtet die Flüchtlinge als Instrument seiner regionalen Expansion und als Druckmittel gegenüber der EU. Sie dienen ihm je nach Bedarf als politische Spielkarte oder als billige Arbeitskräfte im eigenen Land. Dabei ist die türkische Außenpolitik mitverantwortlich für die Millionen an Menschen, die vor Krieg und Vertreibung fliehen müssen. Es herrscht eine chauvinistische Propaganda gegenüber den migrantischen Arbeiter:innen in der Türkei. Sie werden zu Spielfiguren zwischen nationalistischen Kräften, während man sie für die eigene politische Agenda nutzt, werden sie zu Millionen vertrieben; man lässt sie verhungern, verarmen und sterben.
In diesem Sinne bedeutet die Unterstützung von CHP und Kılıçdaroğlu bei den Wahlen auch gleichzeitig den Verzicht auf eine antirassistische und antimilitaristische Politik – letzendlich eine vollständige Kapitulation der HDP und TİP vor dem türkischen Militarismus.
Alle Stimmen für die Henker:innen des kurdischen Volkes?
Während alle Parteien des Sechser-Tischs unter der Führung von Kılıçdaroğlu die Kolonialisierung Nordkurdistans durch den türkischen Staat unterstützen, sind Teile direkt für Massaker an kurdischen Zivilist:innen verantwortlich. Ahmet Davutoğlu, der die Partei “Gelecek Partisi” (Zukunftspartei) gründete und aktuell Teil der bürgerlichen Opposition ist, war selbst zwischen 2014 und 2016 Vorsitzender der AKP und Premierminister. Nach internen Machtkämpfen innerhalb der AKP trat er aus und gründete seine eigene rechtskonservative Partei.
Unter seiner Regierung fanden die sogenannten “Hendek”-Operationen des türkischen Militärs in kurdischen Städten der Türkei statt – vor allem in Stadtteilen von Diyarbakır (Amed) wie Sur, Silvan und Lice, sowie in Städten wie Hakkari und Mardin. Der Hintergrund der Operationen war ein Strategiewechsel der AKP-Regierung, die von einer Verhandlung zu einem militärischen Kampf gegen die kurdische Bewegung überging und dabei mit paramilitärischen und IS-Militanten kooperierte.
Daraufhin protestierten zehntausende Kurd:innen in kurdischen Städten, indem sie die Besatzung durch die türkische Armee ablehnten und Autonomierechte forderten. Laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisationen in der Türkei starben 310 Zivilist:innen unter den Angriffen des türkischen Militärs und mehrere kurdische Stadtbezirke wurden zerstört. Trotz der Beweise und Aufnahmen, wie türkische Soldat:innen sogar Leichen von ermordeten Zivilist:innen folterten, behauptete der damalige Premierminister Ahmet Davutoğlu, dass es keine zivilen Opfer bei den Operationen gegeben habe.
Auch unter einer möglichen Post-Erdoğan-Regierung wird das fundamentale Interesse der türkischen Bourgeoisie, Kurdistan unter Kolonialherrschaft zu halten, weiter bestehen. Alle Parteien der bürgerlichen Opposition begreifen die kurdische Befreiungsbewegung als eine Terrororganisation und setzen sich für die Kriminalisierung ihrer Aktivitäten ein, auch wenn sich dies in unterschiedlichen Schattierungen zeigt. Für das Innenministerium einer zukünftigen Post-Erdoğan-Regierung wird spekuliert, dass die Vorsitzende der ultra-nationalistischen İYİ-Partei Meral Akşener in Frage kommen könnte. Sie ist besonders dafür bekannt, als Ex-Mitglied der MHP und als Innenminister:in in den 90-Jahren gute Beziehungen zum Polizeiapparat zu haben. Sie würde keinen Augenblick zögern, gegen eine Massenmobilisierung der kurdischen oder sozialistischen Kräfte mit starker Repression der Militärpolizei zu antworten.
Es ist daher eine Sackgasse, gegen die kolonialistische Polizeidiktatur Erdoğans auf andere rechtskonservative und nationalistische Kräfte zu zählen und dabei zu hoffen, dass die Lage sich etwas verbessern würde. Im Gegenteil, gerade jetzt braucht es eine Politik gegen jegliche demokratische Einschränkungen und Polizeimaßnahmen seitens des Regimes, die auf Mobilisierungen der Massen und Arbeiter:innenklasse setzt.
Was sind Szenarien nach der Wahl?
Trotz der Wirtschaftskrise und den katastrophalen Folgen des Erdbebens, ist der Rückhalt der AKP in ihrer Basis stark. Das liegt vor allem daran, dass die bürgerlichen Kräfte in einer passiven Haltung auf die Abwahl der Regierung warten. Kılıçdaroğlu ruft regelmäßig dazu auf, die Straßen nur bei Wahlkundgebungen zu füllen. Er will Straßendemonstrationen vermeiden, um die Kontrolle über die Opposition nicht zu verlieren. Denn die Radikalisierung der Massen hat das Potenzial inne, die Gezi-Revolte in verschärfter Form wiederzubeleben. In einer Konjunktur der weitgehenden Entmachtung des Parlaments könnten spontane Versammlungen, Besetzungen und Selbstorganisierungsinstanzen entstehen, die den kapitalistischen Staat als Ganzes konfrontieren würden. Das angebliche Argument, dass die AKP diese Proteste und Bewegungen als Anlass nehmen könnte, um die Opposition zu kriminalisieren und ihre Basis besser zu mobilisieren, dient eher dazu, Massenkämpfe zu passivieren und eine alternative bürgerliche Regierung der Bosse und des türkischen Kolonialismus als einzige Alternative gegen das AKP-Regime zu inszenieren.
Im Falle des Siegs der bürgerlichen Opposition gegen Erdoğan, existieren mehrere Hürden, um das Versprechen der Demokratisierung des türkischen Regimes zu erfüllen. Einerseits hat die AKP-Regierung in den letzten 20 Jahren eine derart zentralisierte Kontrolle über den Staatsapparat erlangt. Es wäre illusorisch zu denken, dass die Staatsbürokratie ohne Weiteres, unter einer anderen vermeintlich fortschrittlichen bürgerlichen Regierung, arbeiten könne. Die Korruption und mafiösen Beziehungen im Staatsapparat erreichten in den letzten Jahren ihren Höhepunkt. Es wird nicht möglich sein, den türkischen Staat zu regieren, ohne Kompromisse mit diesem korrupten Teil der AKP-Bürokratie zu machen. Dieser politische Teil der Macht basiert auf der wirtschaftlichen Ebene auf einer Gruppe von einflussreichen Unternehmen, auch bekannt als „Erdoğan-Bourgeoisie“ oder „Fünf Banditen“. Diese Unternehmen haben sich vor allem durch staatliche Investitionen im Baugewerbe zu Großkonzernen entwickelt. Erdoğans persönlicher Reichtum beruht auf seiner Beteiligung an diesen Geschäften. Als Verteiler der Staatsaufträge, insbesondere im Baugewerbe, spielt er eine maßgebliche Rolle bei der Vergabe dieser lukrativen Aufträge. Die türkische Öffentlichkeit wird gerade durch die Enthüllungen der Komplizen selbst über die Korruptionsfälle aufgeschreckt.
Kılıçdaroğlu verspricht, diese Teile des Kapitals teilweise zu enteignen und sie zu einer Rückzahlung ihrer zu Unrecht erworbenen Gelder zu zwingen. Der Widerspruch liegt jedoch darin, dass selbst die lokale Landesregierungen in Istanbul und Ankara Bauaufträge an dieselben Firmen geben und materiell von ihnen für Bauprojekte abhängig sind. Dies hängt mit der Monopolstellung dieser Unternehmen in der Branche zusammen. Unter einer möglichen neuen Regierung würde dies auch, in diesem Bereich, zu einem Kompromiss mit Erdoğans aufgebautem Kapital führen. Wie die aktuellen Enthüllungen deutlich machen, sind die Korruptionsfälle nicht nur auf Erdogans Unternehmen beschränkt, sondern die türkische Bourgeoisie ist selbst in viele Raub- und Bestechungsaffären verwickelt, egal wie es nach außen aussieht. Wie oben ausgeführt, würde solch eine neue Regierung auch die eigene Abhängigkeit zum westlichen Imperialismus vertiefen, neue Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse führen und die Interessen der kolonialistischen, türkischen Bourgeoisie vertreten müssen.
Ein anderes Szenario ist, dass Erdoğan die Wahlen gewinnen wird und das Regime vermutlich sich weiter zentralisiert, mit möglichen Kooperationen mit kleineren rechts-konservativen Parteien. Unter dem Deckmantel vermeintlicher Stabilität und einer parlamentarischen Mehrheit für den AKP-geführten Block.
Das letzte Szenario, das im türkischen Staat viel diskutiert wird, ist, dass Erdoğan entweder die Wahlen zu seinen Gunsten manipuliert oder den Sieg der Opposition nicht anerkennt. Ein solches Szenario würde die Widersprüche des Regimes vertiefen und die Möglichkeit für eine Mobilisierung der jeweiligen Basis der bürgerlichen Blöcke zur Verteidigung der Regierung oder des Wahlausgangs in den Raum werfen. Seit langem wird spekuliert, ob es überhaupt möglich wäre, dass ein solches bonapartistisches und repressives Polizeiregime einfach so abgewählt werden kann, während der Präsident immer noch über eine große Basis verfügt. Darunter finden sich auch paramilitärische-faschistische Truppen, die im Notfall zur Straße gerufen werden könnten. Auch wenn einige Sektoren die Macht des Regimes überbewerten, kann die Möglichkeit von Massenbewegungen nach den Wahlen nicht ausgeschlossen werden. Ein knapper Wahlsieg könnte zu Massenmobilisierungen sowohl von rechts als auch von links führen, und ein solches Potenzial liegt in der Luft.
Die politische Aufgabe besteht darin, dass die sozialistischen Kräfte und die kurdische Bewegung sich unabhängig von der bürgerlichen Opposition positionieren und den Kampf gegen Erdoğan mit einer verfassungsgebenden Versammlung der Massen verbinden, zu der sie mit einem sozialistischen Programm mobilisieren. Die Abrechnung mit Erdoğan darf nicht den bürgerlichen Kräften überlassen werden, die aufgrund ihrer eigenen Position unfähig sind, die Massen zu mobilisieren. Nur die vereinte Arbeiter:innenklasse und eine sozialistische Perspektive können solch eine Abrechnung gegen das gesamte kapitalistische türkische Regime machen. Dies muss im Sinne der Ausgebeuteten und der Unterdrückten in der Türkei passieren. Es ist die Aufgabe der Revolutionär:innen, die Perspektive der Arbeiter:innenregierung aufzuzeigen und diese immer wieder als eine Alternative zu allen bürgerlichen Regierungen und gegen den Neuaufbau des türkischen Kapitalismus zu etablieren.
Eine solche Politik nach den Wahlen würde jedoch selbstverständlich erfordern, dass man die Wahlkampagne so gut wie möglich, für einen solchen Kampf auf der Straße unter dem eigenen Banner verwendet hat. In Gewerkschaften, Arbeiter:innenvierteln und kurdischen Städten muss anhand der Wahlkampagne eine Organisierung starten, die sowohl die Massen im Kampf gegen das AKP-Regime auf der Straße vorbereitet, als auch die Illusionen an bürgerlichen Opposition und vermeintlichen fortschittliche Teile des Kapitals bekämpft. Eine notwendige Perspektive, die der aktuellen Politik der linksreformistischen Kräfte und der HDP fehlt. Indem sie auf eine unabhängige Politik verzichten und sich hinter der bürgerlichen Opposition einreihen, hegen sie weiter Illusionen in eine Reform des kapitalistischen Regimes, im Interesse der arbeitenden Massen und des kurdischen Volkes. Sie halten somit die Massen von einer revolutionären Perspektive der Massenmobilisierungen fern.
Was ist der Hintergrund der Anpassungspolitik von HDP und TİP?
Die TİP, die Arbeiterpartei der Türkei, verfügt über vier Abgeordnete, die im Parlament, in den Medien und in der Öffentlichkeit präsent sind. Vor allem durch soziale und demokratische Fragen, machen sie rhetorische und kämpferische Agitationen gegen das Regime. Dadurch erreichen sie Millionen. Die TİP hat mit 12.000 Mitgliedern, es handelt sich vor allem um Studierende, einen großen Mitgliederzuwachs zu verzeichnen. Die Wahlhürde liegt aktuell bei 7 Prozent, die Stimmen des Wahlbündnisses werden dabei als Ganzes gezählt. Innerhalb dieser Front tritt sie mit einer eigenen Liste an. Als Ziel proklamieren sie, eigenständig drei Prozent aller Stimmen zu erhalten, um in Zukunft die staatlichen Zuschüsse zu erhalten und die eigene Präsenz noch mehr in den Vordergrund stellen zu können.
Die TİP will eine Erneuerung der Republik in Einklang mit den kemalistischen Grundsätzen8. Dabei erklärte der TİP-Vorstand sie der Gründer der türkischen Republik Mustafa Kemal Atatürk hätte einen Unabhängigkeitskrieg gegen den Imperialismus geführt und gilt deshalb zu respektieren. Die „notwendige Krönung“ dieser Republik sei eben Sozialismus. Der positive Bezug auf die Gründung der kapitalistischen türkischen Republik und die damit einhergehende Ideologie, die die Herausbildung einer modernen kapitalistischen Klasse förderte, führte immer wieder zur politischen Unterstützung der nationalistisch-bürgerlichen Führer des Kemalismus. Das Osmanische Reich, das am Ersten Weltkrieg teilnahm – in dessen Verlauf es den Völkermord an den Armeniern verübte – und versuchte, sein Territorium zu erhalten, zurückzuerobern und zu erweitern, wird im Narrativ der TİP als armes und unterdrücktes Volk dargestellt.
Die politische Unterstützung von bürgerlich-nationalistischen Führungen in rückständigen Ländern war genau die Politik, die die Bolschewiki in Russland bekämpften. Die unerfüllten demokratischen Fragen wie beispielsweise die Agrarfrage, waren nicht unter der Führung der Bourgeoisien der rückständigen Ländern zu lösen (und umso weniger, wenn diese selbst kolonialistisch sind, wie im Falle des zaristischen Russlands oder des türkischen Staaten),. In diesem Sinne müsste die Arbeiter:innenklasse für eine eigene Regierung (sozialistische Räterepublik) kämpfen, die diese Fragen im antikapitalistischen Sinne zu lösen hat. Das war die Politik, die wir ab April 1917 in Russland unter einer bolschewistischer Führung sahen.
Es ist zum einen der Stalinismus, der diese Linie in der Politik der kommunistischen Parteien ins Gegenteilige umwandelte und den Kemalismus als fortschrittlichen Flügel der Bourgeoisie verklärte. Zum anderen der Kemalismus, der die Türkei als ein Volk verstand, dabei die kurdischen, armenischen und griechischen Völker unterdrückte und eine Zusammenarbeit zwischen allen Klassen als nationale Einheit vorsah. Beide Strömungen leben heute in unterschiedlichen Ausprägungen in der TİP fort. Der Sozialismus ist für die TİP nichts anders als die Fortsetzung des nationalen Staatsapparates mit einigen Verstaatlichungen. Die Ersetzung des bürgerlichen Staatsapparates, durch Arbeiter:innen- und Bauernräte, kommt strategisch nicht im Programm der TİP vor. Die Politik der TİP ähnelt in diesem Sinne der der sogenannten “eurokommunistischen”, post-stalinistischen Parteien Europas, die sich ebenfalls in die kapitalistischen Demokratien der jeweiligen Ländern eingliederten und eine Politik der “sozialistischen Reformen” im Rahmen des kapitalistischen Regimes als Ziel setzten.
Die Zusammenarbeit zwischen der TİP und der HDP wird von der gemeinsamen Perspektive geprägt, den türkischen kapitalistischen Staat zu demokratisieren und zu sozialisieren. Dies soll demnach durch Verhandlungen mit fortschrittlichen Teilen des Bürgertums passieren, anstatt durch Massenmobilisierungen und Massenstreiks die herrschende Klasse zu Kompromissen zu zwingen.
Während die TİP, wie erwähnt, eine sozialdemokratische Perspektive wie die der europäischen post-stalinistischen Parteien vertritt, die sich an die jeweiligen kapitalistischen Regime angepasst haben, hat die HDP eher einen radikaldemokratischen Ansatz. Dieser besteht in der Theorie darin, den bürgerlichen Staat abzubauen, ohne die politische Macht direkt in Frage zu stellen, während sie in der Praxis auf einen reformistischen Parlamentarismus hinausläuft.
Der Ansatz, in einigen kurdischen Städten basisdemokratische Elemente aufzubauen und diese mit Hilfe der Jugend zu verteidigen, was eine Übertragung der syrisch-kurdischen Verhältnisse auf die Türkei bedeutet, wurde vom türkischen Staat blutig niedergeschlagen. Bekannte liberale Figuren wie Hasan Cemal und Cengiz Çandar, welcher in der Vergangenheit die AKP-Regierung unterstützten, kandidieren nun für die HDP, um nach der Wahl mit Kılıçdaroğlu zu verhandeln.
Die HDP will den bürgerlichen Block davon überzeugen, dass sie sich in das türkische Regime eingliedern und perspektivisch auch mitregieren kann. Dieser Rechtsruck, der in der Partei geschieht, ist die Folge eines langjährigen Prozesses, indem die kurdische Führung sich sowohl vom Ziel eines vereinten Kurdistans, als auch von der Guerilla-Strategie verabschiedet. Der Übergang ist jedoch nicht hin zu einer Strategie des gemeinsamen Kampfes der kurdischen und türkischen Arbeiter:innenklasse für eine sozialistische Föderation und der Beendigung des türkischen Kolonialismus, sondern eine Reform des türkischen Staates auf kapitalistischer Basis.
Beide Strategien, die der TİP und der HDP, führen also in ihrer Konsequenz zu einem Verzicht eines dritten Blocks auf der Grundlage der Unabhängigkeit von beiden bürgerlich-nationalistischen Fronten. Es ist eine Fortsetzung der Anpassung der HDP und der türkischen Linken an den Kemalismus der CHP. Dies zeigte sich bereits im Verzicht einer eigenen Kandidaturen, bei den letzten Regionalwahlen in Istanbul und Ankara 2019. Damals riefen die HDP und eine Mehrheit der türkischen Linken zur Wahl der kemalistischen Kandidat:innen der CHP auf.
Die kemalistischen Kandidat:innen konnten in der Tat die Wahl gegen die AKP-Kandidat:innen gewinnen und regieren nun in beiden Großstädten. Und was ist die Bilanz? Es hat sich im Leben der Arbeiter:innenklasse, die in Niedriglöhnen arbeiten und der kurdischen Bevölkerung, die unter einer ständigen Repression leidet, nichts geändert. Im Gegenteil wünschte der Kemalist Ekrem İmamoğlu, welcher von der HDP politisch unterstützt wurde, den türkischen Soldat:innen bei der Besetzung von Rojava viel Erfolg. Es lässt nur vermuten, dass der Ausgang der aktuellen Wahltaktik langfristig keinen Erfolg verspricht. Die Arbeiter:innenklasse und das unterdrückte kurdische Volk können sich von der türkischen herrschenden Klasse und all ihrer politischen Vertretungen nur selbst befreien.
Eine sozialistische Alternative zur bürgerlichen Opposition?
Die Revolutionär:innen machen ihre Wahltaktiken von ihren strategischen Zielen abhängig. Für die Perspektive einer sozialistischen Revolution in der Türkei, in Kurdistan und für das Ende des türkischen Kolonialismus, muss die Frage gestellt werden, ob die gewählte Taktik eben die Massen und strategischen Sektoren der Arbeiter:innenklasse, diesem Ziel annähert oder vielmehr Illusionen in bürgerliche Führungen stärkt, die das Post-Erdoğan-Regime auf kapitalistischer und kolonialistischer Grundlage neu gestalten wollen.
In diesem Sinne ist die Unterstützung von Präsidentschaftskandidat der CHP und der Verzicht auf eine eigene Kandidatur, nicht nur ein großer Fehler seitens HDP und TİP. Vielmehr geht es darum zu erkennen, dass diese Taktik in der Tat ihrer Perspektive entspricht, den türkischen Staat zu reformieren.
Es gibt viele Reformen und Errungenschaften, die auf dem Weg zur vollständigen Befreiung zu erkämpfen sind. Die Massen können jedoch nur strategische Gewinne gegen das Regime erzielen, wenn diese als Erfolg ihrer Kämpfe auf der Straße und durch Streiks hervorgehen, die wiederum ihr Selbstvertrauen und das Misstrauen gegenüber dem Regime erhöhen.
Daher sind die aktuellen Wahlen eine große verpasste Chance für die sozialistischen Kräfte und die kurdische Befreiungsbewegung insgesamt. Eine unabhängigen, sozialistischen Kandidatur für die Präsidentschaftswahl, die für den gemeinsamen Kampf der türkischen, kurdischen und verarmten Arbeiter:innenklasse, angesichts der Wirtschaftskrise antritt, wäre eine Möglichkeit für den Aufbau einer Massenbewegung für ein Post-Erdoğan-Regime oder unter der Erdoğan-Regierung. Stattdessen werdender Illusionen aufgebaut, dass der türkische Staat auf kapitalistischer und kolonialistischer Grundlage von oben durch Unterstützung der bürgerlichen Nationalist:innen im Interesse der Arbeiter:innenklasse und Kurd:innen reformiert werden könnte.
Die notwendige sozialistische und pro-kurdische Kampagne zur Präsidentschaftswahl hätte die Aufgabe, ein Antikrisenprogramm aufzustellen, welches gegen die Inflation und gleichzeitig für die Enteignung der Kapitalist:innen und die Beschlagnahmung ihres Vermögens kämpft. Es sind nämlich sie, die für die anhaltende Wirtschaftskrise zahlen sollen. Diese Forderungen müssen mit einem Programm für demokratische Freiheiten verbunden werden. Dazu zählen: Das vollständige Streikrecht, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Abschaffung des Präsidialamtes und aller Dekrete von Erdoğan, die Entmilitarisierung der kurdischen Städte, das Recht auf kurdische Bildung und Selbstverwaltung usw. Ebenfalls müsste eine solche Kampagne sich auch gegen den Rassismus gegen Geflüchtete in der Türkei kämpfen, sowie ein sozialistisches Sofortprogramm für die Erdbebenopfer aufstellen.
In diesem Sinne sind auch gewisse positive Beispiele zu nennen, von sozialistisch-trotzkistischen Gruppen, die die Unterstützung von beiden bürgerlichen Blöcken ablehnen. Wie die SEP (Sozialistische Arbeiter:innenpartei), die in Ankara anhand einer unabhängigen Kandidatur mit Güneş Gümüş, als sozialistische Kandidatin antritt. Widersprüchlicher ist die Haltung von İDP, (Partei der Arbeiter:innendemokratie, Schwesterorganisation von IS in Argentinien), die zwar als Organisation die Wahl von kemalistischen Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu und CHP ablehnt, jedoch auf Listen der TİP kandidiert, die eben diese Politik verfolgt. Bisher konnten wir in ihrer Wahlkampagne keinen politischen Kampf mit der TİP-Führung und gegen die Unterstützung der CHP-Front als zentrale Achse finden, da dies vermutlich die Zusammenarbeit auf gemeinsamen Listen gefährden würde. Die Sektion der ISA in der Türkei, Sosyalist Alternatif, hat sich vollständig in der TİP aufgelöst und die ehemalige Schwesterorganisation der PO, die DİP, keine aktive Wahltaktik entwickelt, obwohl sie richtigerweise beide bürgerlichen Blöcke ablehnt.
Die AKP-Regierung um Erdoğan naht ihrem Ende. In der Geschichte der Türkei ist sie auch nicht die erste Regierung, die Arbeiter:innen, Kurd:innen und Sozialist:innen den Kampf ansagt. Die strategische Frage liegt immer noch darin: Wie kann eine Alternative der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten zu allen Facetten und Grausamkeiten, die das türkische Regime bisher aufgebracht hat, aussehen, ohne stets für das vermeintlich kleinere Übel zu stimmen? Wer versichert, dass nach einer möglichen Niederlage Erdoğans an der Urne, nicht der nächste Erdoğan wieder an die Macht kommen wird? Er gehört entmachtet und aufgrund all seiner Verbrechen von den Massen verurteilt, jedoch nicht damit die nächste neoliberale Regierung seinen Platz einnimmt.
Die Schaffung einer von allen Fraktionen der Kapitalist:innenklasse in der Türkei und Kurdistan unabhängigen, revolutionären Wahlfront bleibt eine zentrale Aufgabe. Ebenfalls wie die Notwendigkeit eines gemeinsamen Kampfes und Massenbewegung gegen die Wirtschaftskrise und den türkischen Kolonialismus. Gegen eine Reform des türkischen Staates, sondern für ihren revolutionären Sturz in der Perspektive der Arbeiter:innenregierung und eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens.
Fußnoten
1. Ein Wahlbündnis von politisch grundverschiedenen Parteien, angeführt von CHP. Weitere Mitglieder: nationalkonservative Iyi-Partei; die Abspaltung der AKP, DEVA; Partei des ehemaligen AKP vorsitzenden GP, der liberalkonservativen DP und der der islamisitisch- konservativen SP.
2. Im April 2017 wurde das seit 1920 parlamentarische Regierungssystem, durch den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, mithilfe eines Referendums, iin ein Präsidialsystem umgewandelt. Eines der größten Versprechungen der Opposition ist die Rückkehr zum parlamentarischen Regierungssystem.
3. Im Jahr 2015 erhielt der türkische Staat zunächst drei Milliarden Euro, um die Grenzen insbesondere zu Griechenland und Bulgarien abzuschotten. Außerdem führte die türkischen Regierung 2016 ein Rückübernahmeabkommens ab, um Geflüchtete “zurückzuschieben”, die über die Türkei nach Europa eingereist waren. Die Türkei golt von da an nicht nur als „sicheres Herkunftsland“, sondern auch als „sicherer Drittstaat“. Somit haben Geflüchtete, die über die Türkei in die EU einreisen, de facto kein Asylrecht mehr in der EU.
4. Sie ist eine im jahr 2012 gegründete Partei, aufgrund des möglichen Verbots der HDP, tritt diese zu den Wahlen auf der Liste der Yeşil Sol Parti (YSP) an.
5. Bestehend aus: Demokratische Partei der Völker (HDP), Arbeiterpartei der Türkei (TİP), Partei der Arbeit (EMEP), Partei der Arbeiterbewegung (EHP), Partei der sozialen Freiheit (TÖP) and Föderation sozialistischer Versammlungen (SMF).
6. Es ist schwieirg die genaue Inflation der Türkei zu bestimmen. Die offiziellen Zahlen im Jahr 2022 besagten eine Inflation von rund 70% tendenz sinkend. Laut der türkischen unabhänigen Inflationsforschungsgruppe (ENAG) lag der Verbraucherpreisindex allerdings bei ca. 138%.
7. Der Konzern ist der weltweit größte Hersteller von Draht und Drahtprodukten. Im Dezember 2022 traten die Arbeiter:innen in den Streik, obwohl dieser illegalisiert wurde, erkämpften sie nach 18 Tagen u.a. eine Lohnerhöhung von 84,83 Prozent für die ersten 6 Monate.
8. Der Kemalismus ist die Gründungsideologie der 1923 ausgerufenen Republik Türkei. Er kann als Bonapartismus verstanden werden, der die moderne türkische Republik auf einer autoritären Ebene der Industrialisierung, bürgerlichen Reformen von oben und einem Ein-Parteien-Regime gegründet hat.