Türkei: Erdoğan verlängert den Ausnahmezustand und erklärt die Fortsetzung des Kriegs
Am 3. Oktober beschloss das türkische Kabinett unter dem Vorsitz von Staatspräsident Erdoğan, dass der Ausnahmezustand um drei Monate verlängert wird. Dies gab Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmuş vergangene Woche bekannt.
Das Ziel der zweiten Welle des Ausnahmezustands wird sein, die Angriffe gegen die linke und kurdische Opposition noch weiter zu verschärfen. Das Parlament muss noch dem Kabinettsbeschluss zwar noch zustimmen, aber aufgrund der Mehrheit der AKP und der Unterstüzung der ultranationalistischen MHP ist das nur eine Formalie.
Die Bilanz der ersten Periode des Ausnahmezustands
Was alles in den letzten 3 Monate passierte, gibt einen Vorgeschmack davon, was dem Land in den nächsten drei Monaten blüht: eine totale Offensive gegen oppositionelle Kräfte und das Voranschreiten der BonapartisierungErdoğan, ermöglicht durch die Notverordnungen der AKP-Regierung.
Der Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Putschversuch verhängt wurde, ermöglichte dem AKP-Regime, seinem Krieg gegen das kurdische Volk und linke Kräfte unter dem Deckmantel des „Kampfes gegen den Terror” Legitimität zu verleihen. Mit einem Dekret Anfang September wurden 24 gewählte Gemeindevertreter*innen von der Demokratische Partei der Regionen (DBP) durch Verwalter der Regierung abgesetzt.
Der Säuberungsprozess in den staatlichen Organen, um angeblich den Staat von den Putschist*innen zu befreien, erreicht indes neue Dimensionen. Nach den Angaben der Regierung wurde gegen 70.000 Menschen ermittelt, mehr als 30.000 befinden sich in Haft. Hinzu kommen noch über 50.000 Entlassungen im öffentlichen Dienst, darunter nicht nur Anhänger*innen der Gülen-Bewegung, sondern auch linke Gewerkschaftler*innen und Oppositionelle.
Der Pakt zwischen allen bürgerlichen Parteien und dadurch allen Schichten der Bourgeoisie, der nach dem Putschversuch bei der „Demokratie“-Kundgebung der AKP in Yenikapı verkündet wurde, war ein bedeutender Schritt in Richtung der Bonapartisierung. Diese „nationale“ Allianz der Bourgeoisie, die sich hinter Erdoğan stellt, ist zusammen mit der Umgestaltung der staatlichen Organe ein Vorbote des neuen Regimes.
Nichtsdestotrotz ist diese „nationale“ Allianz der bürgerlichen Parteien in vieler Hinsicht instabil: Denn die Offensive gegen den Putsch hat sich in kurzer Zeit als Machtkampf von Erdoğan entlarvt, nachdem sie auch auf oppositionelle Sektoren erweitert wurde. So kritisierte der Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, die AKP missbrauche die Maßnahme, um ihre Macht auszubauen und die Opposition zum Schweigen zu bringen. Er kündigte an, dass die CHP im Parlament gegen den Beschluss zur Verlängerung des Ausnahmezustands stimmen wird.
Angriffe auf die kritische Presse
Nachdem die letzte Notverordnung zur Schließung der prokurdischen und alevitischen Fernsehsender veröffentlicht wurde, stürmte die Polizei die Fernsehstudios von IMC TV und Hayatın Sesi TV. Beide Fernsehsender haben bis zum letzten Moment live übertragen. Die Journalist*innen und anderen Beschäftigten wurden festgenommen.
Nun gibt es im Land keine oppositionellen Fernsehsender mehr. Mit der Verlängerung des Ausnahmezustandes sind auch die letzten oppositionellen Zeitungen wie Cumhuriyet und Birgün von der Schließung bedroht.
Die Aggression breitet sich in die Außenpolitik aus
Unter dem Label des Kampfes gegen die Terrormilizen des IS befinden sich türkische Soldaten inzwischen sowohl in Syrien als auch in Irak. So marschierte die türkische Armee am 24. August in die Stadt Jarablus an der syrisch-türkischen Grenze ein.
Das türkische Parlament hatte in letzten Wochen beschlossen, dass die türkischen Truppen weiter im Nordirak bleiben sollen. Darauf hat das irakische Parlament eine Erklärung veröffentlicht, in der die türkischen Soldaten als Besatzer bezeichnet wurden. Die Reaktion von Erdoğan war zu erwarten: Er ignorierte vollkommen die Warnungen und Sorgen. Er rief zynischerweise den irakischen Ministerpräsidenten auf, seine Grenzen kennenzulernen. Die irakische Regierung wird sich an die Vereinten Nationen wenden.
Mehr noch als eine Machtprobe gegenüber dem Nachbarstaat geht es der AKP-Regierung im Kern darum, einerseits die kurdische Bewegung zu schwächen und andererseits mit militärischen Interventionen die eigene Isolation zu durchbrechen. Dieser Kurs gelingt dem türkischen Staat bislang aber nur begrenzt.
Der Ausnahmezustand ist für Erdoğan die effektivste Taktik, um seine Macht wieder zu festigen. Freiwillig wird er auf diesen Kurs nicht verzichten.