Trotzkistische Parlamentarier*innen in Argentinien werden wegen ihrer Opposition gegen den Zionismus angegriffen

25.07.2020, Lesezeit 8 Min.
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Nach einer ersten Fehlabstimmung sprachen sich die drei Abgeordnete der Front der Linken und der Arbeiter*innen — Einheit (FIT-U) im Stadtparlament von Buenos Aires entschieden gegen eine Resolution aus, die Antizionismus implizit mit Antisemitismus gleichsetzte. Sie werden nun von zionistischen Organisationen angegriffen.

Myriam Bregman von der PTS (Mitte) und Gabriel Solano von der PO (links), zwei der drei trotzkistischen Abgeordneten im Parlament von Buenos Aires

Am Donnerstag, dem 18. Juni, stimmte das Parlament der Stadt Buenos Aires über eine Resolution gegen Antisemitismus ab. Sozialist*innen waren schon immer an vorderster Front im Kampf gegen den Antisemitismus. Aber diese Resolution enthielt eine Definition von Antisemitismus von der Internationalen Allianz zum Gedenken an den Holocaust (IHRA). Diese kurze Definition mag vage, aber unbedenklich klingen — Expert*innen haben sie als „verwirrend ungenau“ bezeichnet.

Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.

Die Definition enthält eine Implikation: „Institutionen der jüdischen Gemeinde“ könnten hypothetisch den zionistischen Staat in Palästina einschließen. Daher könnte jede Opposition gegen diesen Kolonialstaat — der das palästinensische Volk vertreibt und besetzt, während er die Interessen des Imperialismus in der Region verteidigt — als antisemitisch bezeichnet werden. Die IHRA nennt elf „Beispiele“ für angeblichen Antisemitismus — und von diesen beziehen sich sieben direkt auf Israel.

Die dem Parlament vorgelegte Resolution enthielt weder diese Beispiele, noch erwähnte sie den Zionismus oder den israelischen Staat. Die Legislative hatte an einem Mittwochabend ein Paket von fast 100 Resolutionen erhalten, über die sie am Donnerstagabend abstimmen musste. In einer ersten Abstimmung stimmten die drei trotzkistischen Abgeordneten von der Front der Linken und der Arbeiter*innen — Einheit (FIT-U) — Myriam Bregman und Alejandrina Barry von der PTS und Gabriel Solano von der PO — für die Resolution in der Überzeugung, dass es sich um eine allgemeine Verurteilung des Antisemitismus handelte. Das Parlament stimmte über fast 100 Resolutionen ohne jegliche Beratung oder Debatte ab.

Korrigieren der Abstimmung

Die Genossen korrigierten ihren Fehler mit einer gemeinsamen Erklärung, in der sie das bekräftigten, was seit der Gründung des FIT immer ihre Position war: die kompromisslose revolutionäre Opposition gegen den zionistischen Staat.

Die FIT-U — die sich aus vier trotzkistischen Parteien zusammensetzt (PTS, PO, IS und MST) hat den Kampf des palästinensischen Volkes immer mit absoluter Klarheit unterstützt. Das 20-Punkte-Manifest der Front aus dem Jahr 2019 enthält zum Beispiel den Punkt: „Unterstützung für das heroische palästinensische Volk. Nieder mit der zionistischen Besetzung Palästinas“.

Der FIT-U hat die argentinische Regierung von Alberto Fernández kritisiert, dessen erste Auslandsreise nach Israel zu einem Treffen mit dem Kriegsverbrecher Benjamin Netanjahu erfolgte, mitten in seinem Vorstoß zur Annexion weiterer palästinensischer Gebiete im Westjordanland. Diese Regierung, die von Mitte-Links kommt, behauptet, die Menschenrechte zu unterstützen, und gibt dennoch ihre Unterstützung für ein brutales Besatzungsregime. Wie die FIT-U-Abgeordneten in ihrer Erklärung betonen:

Wir führen einen Kampf auf Leben und Tod gegen den Antisemitismus, aber immer auf der Grundlage der Anprangerung des Zionismus und des Staates Israel, der auf Völkermord und Diebstahl von Land und Eigentum des palästinensischen Volkes beruht. Unsere prinzipientreue Haltung wurde durch unsere aktive Teilnahme an Demonstrationen vor der israelischen Botschaft in Argentinien zum Ausdruck gebracht.

Die Parlamentarier*innen forderten den Parlamentssekretär auf, das Abstimmungsprotokoll zu korrigieren. Dies wurde getan: Alle drei Stimmen der FIT-U-Vertreter*innen wurden anschließend als negativ gewertet.

Zionistischer Angriff

Schon am nächsten Tag veröffentlichte die Zionistische Organisation Argentiniens (OSA) eine Erklärung, in der sie ankündigte, sie werde ein Gerichtsverfahren gegen die trotzkistischen Parlamentarier*innen einleiten. Dies ist die Logik der Kampagne, die behauptet, dass Antizionismus dasselbe wie Antisemitismus sei: Jede*r, der die Definition auch nur in Frage stellt, wird als Antisemit*in verleumdet.

In der Erklärung der OSA wird die Front der Linken und der Arbeiter*innen als „verwerflich“ bezeichnet. Sie beziehen sich auf die „anerkannte anti-israelische und antizionistische Vorgeschichte“ der Parlamentarier*innen und behaupten, dass die Annahme der IHRA-Definition durch die Regierung „uns jetzt eine neue Waffe gibt, um jeden vor Gericht zu bringen, der […] Hass […] gegen den Zionismus als eine Bewegung der Befreiung und Selbstbestimmung des jüdischen Volkes und gegen Israel als einen jüdischen Staat zum Ausdruck bringt.“

Die Parlamentarier*innen weisen in einer neuen Erklärung darauf hin, dass dies ein Angriff auf demokratische Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung ist — insbesondere für gewählte Abgeordnete, die ihre Meinung ohne Angst vor gerichtlicher Verfolgung äußern können müssen. Diese Rechtsnorm würde Kritik an jeder politisch-ideologischen Bewegung oder jedem Staat erlauben — mit Ausnahme Israels. Sie bekräftigen ihre unerschütterliche Unterstützung für den Kampf gegen den Antisemitismus und prangern weiterhin die Vertuschung des Terroranschlags gegen das jüdische Kulturzentrum AMIA in Buenos Aires im Jahr 1993 durch die Regierung an. Dies schmälert jedoch in keiner Weise ihre Verurteilung der Verbrechen des Staates Israel oder ihre Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes. Sie fordern einen einzigen, sozialistischen palästinensischen Staat, in dem Araber*innen und Jüd*innen in Frieden zusammenleben können.

Internationale Auswirkungen

Unterstützung erhielten die Parlamentarier*innen vom Internationalen Antizionistischen Jüdischen Netzwerk in Argentinien und vom Encuentro Memoria, Verdad y Justicia, der Organisation, die das Gedenken an die 30.000 Opfer der argentinischen Militärdiktatur verteidigt. Sie trafen sich mit Husni M.A. Abdel Wahed, dem palästinensischen Botschafter in Argentinien, der positiv auf die korrigierte Abstimmung reagierte und die konsequente Unterstützung der FIT-U für den palästinensischen Kampf anerkannte. Die gesamte sozialistische Linke in Argentinien hat sich, soweit uns bekannt ist, verpflichtet, die Parlamentarier*innen gegen die zionistischen Angriffe zu verteidigen. Sie verdienen auch die Unterstützung der internationalen Linken.

Die IHRA-Definition wurde überall auf der Welt verwendet, von nationalen Parlamenten bis hin zu Studierendenvereinigungen, um die Linke zu verleumden. Am bekanntesten ist der Angriff auf Jeremy Corbyn, den ehemaligen Vorsitzenden der britischen Labour-Partei, der bei der Jugend wegen seines ehrgeizigen Reformprogramms sehr beliebt war. Es wurde auch in der Partei Die LINKE benutzt, um den linken Flügel der Partei zum Schweigen zu bringen, welcher seine Solidarität mit den Palästinenser*innen zum Ausdruck bringt (während die Parteiführung den Zionismus enthusiastisch unterstützt). In beiden Fällen war das Manöver erfolgreich: Jeremy Corbyn gab dem Druck nach und ließ viele seiner Anhänger*innen wegen angeblichen „Antisemitismus“ aus dem Parlament ausschließen. Die linken Abgeordneten von Die LINKE verließen ihrerseits den Saal während der Abstimmung über eine Resolution, in der selbst die elementarste Unterstützung für die Rechte der Palästinenser*innen verurteilt wurde, so dass sie weder dafür noch dagegen stimmen würden.

Der FIT-U hat nun einen Gesetzentwurf ins Stadtparlament eingebracht, in dem die Kammer aufgefordert wird, Antisemitismus abzulehnen und gleichzeitig die falsche Äquivalenz zwischen Antizionismus und Antisemitismus abzulehnen. Dies ist ein Gesetzentwurf, den die Linke international unterstützen sollte.

Als Referenz

Für ein gründlicheres Beispiel für unsere Position zu Palästina verweisen wir auf das Manifest für eine Bewegung für eine Revolutionäre Sozialistische Internationale, das wir 2013 veröffentlicht haben:

Der Kampf des palästinensischen Volkes gegen die Unterdrückung des zionistischen Staates ist unlöslicher Teil der Prozesse in der arabischen Welt. Wir Revolutionär*innen verteidigen das Recht des palästinensischen Volkes auf nationale Selbstbestimmung, das vom Imperialismus und dem zionistischen Staat abgelehnt wird. Der Staat Israel behandelt die arabische Minderheit in Israel als Staatsbürger*innen zweiter Klasse und stellt sich schnaubend dem Recht auf Rückkehr der palästinensischen Geflüchteten entgegen, weil dies objektiv den exklusiv jüdischen — und rassistischen — Charakter des zionistischen Staats in Frage stellt. Aus diesem Grund verteidigen wir das Rückkehrrecht der palästinensischen Geflüchtete, die durch die zionistische Kolonisierung und deren Kontinuität unter der militärischen Besetzung und der Ausdehnung der Siedlungen vertrieben wurden. Gegen die falsche Zwei-Staaten-Lösung und die reaktionäre Strategie der islamischen Führungen, die einen theokratischen Staat zu etablieren suchen, kämpfen wir für die Zerschlagung des Staates Israel als proimperialistische und koloniale Enklave und für einen einheitlichen palästinensischen Staat auf dem gesamten historischen Territorium: ein sozialistisches Palästina der Arbeiter*innen, wo Araber*innen und Jüd*innen in Frieden zusammenleben können.

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