„Trotzki hätte die Macht leicht an sich reißen können“ – Interview mit dem Enkelsohn Leo Trotzkis
Esteban Volkov war 13, als Attentäter versuchten, ihn zu ermorden. Denn sein Opa war Leo Trotzki. Dessen Erbe hält Volkov, inzwischen 91 Jahre alt, in einem Museum in Mexiko wach. Wir drucken eine längere Version eines Interviews, das am 14. Juni 2017 in "Der Freitag" erschienen ist.
Treffpunkt ist eine der unzähligen Villen in Coyoacán. Hinter einer sehr hohen Mauer steht ein Haus mit Garten. Früher war dies ein bäuerlicher Vorort außerhalb von Mexiko-Stadt, wo Künstler*innen ihre Ruhe suchten. Jetzt ist Coyoacán ein Hipster*innen-Viertel mitten in der Megastadt, ein paar Schritte weiter eine U-Bahn-Station. Der Garten voller Kakteen wäre idyllisch – gäbe es nicht den Lärm und den Gestank von der nahen Autobahn.
Dieses Haus hier ist das „Casa Museo León Trotsky“, wo der alte Revolutionär die letzten Jahre seines Exils verbrachte. Hinter der Glastür wartet ein 91 Jahre alter Mann auf uns, in grauem Anzug und mit einem roten Basecap des brasilianischen Gewerkschaftsdachverbandes CUT. Die Augen von Esteban Volkov sitzen tief und wirken streng – aber bald fängt er an zu lachen.
Ohne erkennbare Probleme führt er uns durch das Haus. Er hat bereits seinen zweiten Herzschrittmacher. Volkov zeigt uns die Einschusslöcher, die zugemauerten Fenster, die schweren Stahltüren – ein bisschen wie ein Gefängnis. All das ist jetzt ein Museum für seine Familie, die mehrheitlich politischen Morden zum Opfer fiel. Der Enkel hält die Erinnerung wach.
Wann hast du Deinen Großvater zum ersten Mal gesehen?
Auf der Insel Prinkipo [heute: Büyükada] in der Türkei. Aber ich war nur fünf Jahre alt und habe keine klaren Erinnerungen. Meine Mutter und ich hatten gerade Russland verlassen. Es war ein Moment von Euphorie, die Familie wieder zu sehen.
Was sind Deine ersten konkreten Erinnerungen an Leo Trotzki?
Ich war 13,5 als ich hier in diesem Haus ankam – aus Paris, mit Alfred und Marguerite Rosmer. Der Kontrast war groß. Europa im Winter ist grau, grau, grau. Ich kam aus einer trostlosen, verhängnisvollen Umgebung: Nach dem Tod meines Onkels Lew Sedow war ich emotional geschädigt. Sedow starb im Februar 1938, seine Witwe Jeanne Martin wollte mich in ihrer Obhut behalten. Der Großvater musste Anwälte einsetzen.
Im August 1939 kam ich schließlich nach Coyoacán. Mein erster Eindruck war: Farbe! Mexiko ist ein Land voller Farben! Damals war dies hier ein komplett von Mexiko-Stadt isoliertes Dorf. Man musste durch Rüben- und Maisfelder, um die Stadt zu erreichen. Die Straßen waren aus Staub und wurden bei Regen zu Flüssen.
War es hier sicherer für dich?
Schon. Aber auch hier war der stalinistische Geheimdienst aktiv. Das erste Attentat war am 24. Mai 1940. Ich hatte mich unter meinem Bett versteckt. Die Attentäter*innen kamen aus drei Richtungen in mein Schlafzimmer und entleerten eine ganze Maschinenpistole auf das Bett. Sieben oder acht Schüsse, wovon einer meinen großen Zeh traf.
Sie schossen auf ein Kind?
Natürlich. Sie haben viele Trotzki-Anhänger*innen umgebracht und wollten das mit seiner gesamten Familie tun. Sein Sohn Sergei Sedow, der in Russland blieb und sich nicht für Politik interessierte, wurde auch erschossen.
Im Mai 1940 war ein junger Leibwächter aus den USA gerade hier angekommen. Er war stalinistischer Spitzel und öffnete die Tür für die Attentäter*innen. Später haben sie ihn in einem Park außerhalb der Stadt umgebracht und begraben. In den stalinistischen Archiven heißt es, dass er seine Genoss*innen kritisiert hatte – hätte er gewusst, dass sie auch das Kind ermorden wollten, hätte er nicht am Attentat mitgewirkt, sagte er.
Deswegen wurde er als Verräter gebrandmarkt. So funktionierte das stalinistische System: Wenn irgendwas schief lief, musste man jemandem die Schuld geben. Und in diesem Fall war es sehr leicht, dem US-Amerikaner die Schuld zu geben: Er hätte Trotzki gewarnt, Trotzki hätte sich im Keller versteckt.
So wurde die Geschichte auch mal verfilmt. Aber das ist doch absurd. Als ob mich der Großvater oben alleine gelassen hätte.
Wie lief es wirklich ab?
Der Großvater nahm Tabletten, weil er nicht gut schlief. Als die ersten Schüsse fielen, dachte er zuerst, es sei das Feuerwerk von einem mexikanischen religiösen Fest (lacht). Seine Frau Natalia hat sofort reagiert. Sie brachte ihn auf die Beine, schob ihn in eine dunkle Ecke und rettete so sein Leben.
Was geschah nach dem Attentat?
Die Stalinist*innen versuchten, es als eine Farce darzustellen, die Trotzki selbst organisiert hatte. Sie bezahlten einen Polizeichef und zwei Köchinnen, die hier gearbeitet hatten, für falsche Zeug*innenaussagen. Alle drei erzählten dann, dass die Wächter in dieser Nacht nervös gewirkt und bis sehr spät im Büro des Großvaters diskutiert hätten. Am Anfang ist die Polizei auf diese Lüge reingefallen.
Aber mehr als 20 Leute waren daran beteiligt – Gangster und Stalinist*innen. Und irgendwann haben sie einen erwischt, der in einer Kneipe darüber plauderte. Da stellten sie fest, dass der berühmte Maler Alfaro Siqueiros, führendes Mitglied der Kommunistischen Partei, die Aktion geleitet hatte. Siqueiros war kurz im Gefängnis deswegen, aber dann wanderte er nach Chile aus.
Wie änderte sich das Leben?
Vorher hatten wir Ausflüge mit Freund*innen aufs Land gemacht, um Kakteen zu sammeln. Großvater war großer Fan von Kakteen. Es gibt eine große Vielfalt davon in Mexiko, und die Herausforderung bestand darin, neue Sorten zu finden. Dafür sind wir stundenlang im Auto über Schotterpisten gefahren.
Nach dem Attentat hörten diese Ausflüge auf. Ich ging noch jeden Tag in die Schule, aber der Großvater war praktisch gefangen. Ursprünglich mietete eine italienische Familie dieses Haus. Die trotzkistische Partei in den USA sammelte Geld und kaufte es, damit sie Befestigungen anbauen, Fenster zumauern und auf dem Dach Schutztürme errichten konnten. Trotzki selbst wusste, dass das nächste Attentat keine einfache Wiederholung sein würde. Die Frage war, wann und woher der nächste Mörder kommen würde.
Gab es nicht die Chance, an einen anderen Ort zu fliehen?
Das wäre genauso gewesen. Man hat Trotzkis Sekretär*innen viel dafür kritisiert, dass sie nicht die richtigen Vorkehrungen getroffen hätten. Aber Trotzki wusste, dass er nur eine kurze Pause bekommen hatte. Selbst wenn man das nächste Attentat verhindert hätte, Stalin hätte ein weiteres organisiert. Vielleicht hätte man sein Leben um ein paar Monate verlängern können. Doch Stalin war zu allem bereit, um Trotzki zu erledigen. Er hätte die ganze Familie vergiftet, oder aus einem Tunnel heraus das Haus in die Luft gesprengt, oder etwas anderes. Drei Monate später kam es dann zum tödlichen Attentat des Katalanen Ramón Mercader.
Warst du am 20. August 1940 auch im Haus?
Ich kam kurz nach dem Attentat an, sah einen Menschen in der Ecke, von Polizisten festgehalten, der schrie, kreischte, und wie ein Tier wirkte, nicht wie ein Mensch. Mercader war dann 20 Jahre im Knast.
Wie war Trotzki im Alltag?
Herzlich, mit großem Sinn für Humor. Er war ein Individuum mit großer Lebenskraft, viel Energie. Würden wir nach einem Kinoschauspieler suchen, um Trotzki darzustellen, dann wäre wohl Kirk Douglas der Einzige, der die Rolle wirklich gut spielen könnte (lacht). Geoffrey Rush [aus dem Film „Frida“]? Das war überhaupt nicht die Persönlichkeit Trotzkis. Douglas hat diese Stoßkraft,die dem Großvater sehr ähnlich ist.
Trotzki konnte viele Sprachen. Mit den amerikanischen Wächtern sprach er Englisch. Mit dem tschechoslowakischen Sekretär Jan Bazan Deutsch. Mit dem französischen Sekretär Jean van Heijenoort Französisch, wie meist mit mir.
Nicht Russisch?
Nein, das konnte ich nicht mehr. Zu Hause hat man hauptsächlich Englisch gesprochen, die meisten Sekretär*innen waren Amerikaner*innen. Eine der Bedingungen, die die Regierung für Trotzkis Exil auferlegt hatte, war, dass er sich nicht in die mexikanische Politik einmischte. Daher gab es die Norm, keine mexikanischen Helfer*innen einzustellen.
Es gibt doch etliche Aufsätze von Trotzki über Mexiko aus der Zeit.
Er schrieb einiges über Mexiko unter einem Pseudonym, aber er mischte sich nicht in die Politik ein.
Welche Erinnerungen hast du vom Alltag?
Das Essen im Haus war international. Natalia machte den berühmten Borschtsch und andere russische Sachen, gemischt mit mexikanischen Speisen von den Köchinnen. Manchmal kam ein junger Sekretär frisch aus den USA an und aß etwas sehr scharfes, so dass er nach Wasser schreien musste (lacht). Der Großvater interessierte sich aber nicht viel für Essen. Er aß schnell und ging zurück zur Arbeit.
Trotzki ist wahrscheinlich heute in der Popkultur weniger bekannt für seine Rolle in der Oktoberrevolution…
… als für eine angebliche Affäre mit Frida Kahlo. Wer weiß? Frida hatte romantische Beziehungen mit vielen. Niemand konnte sich ihr annähern, ohne in ihre Netze zu fallen. Denn das war ihre Möglichkeit zur Flucht. Sie hatte Schwierigkeiten zu reisen.
Ich habe Frida erst Jahre später kennengelernt, mit 18 oder 19. Über ihre jüngere Schwester Cristina habe ich sie kennengelernt. Cristina hatte auch ein Haus in Coyoacán und am Wochenende war Frida oft da.
Durch Diego Rivera ist das Bild Trotzkis auch an Regierungsgebäuden in Mexiko zu sehen.
Ja, ein großartiger Maler. Politisch instabil. Diego und Trotzki brachen miteinander, weil Diego den rechten, pro-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Juan Almazán unterstützte.
Was ist nach Trotzkis Tod mit dem Haus passiert?
Wir lebten erst mal hier. Natalia starb 1962 und wurde im Garten zusammen mit Trotzki begraben. Im Jahr 1965 haben Soldaten das Haus besetzt – eine Racheaktion der Regierung gegen Studierende mit trotzkistischen Überzeugungen, die mal hier gewesen waren (lacht). Das hatte sich [der damalige mexikanische Präsident] Diaz Ordaz ausgedacht, um die Studierenden zu bestrafen. Er war ziemlich impulsiv.
Aber nach einigen Monaten haben sie uns angerufen – sie wussten nicht, was sie mit dem Haus machen sollten, und wir sind wieder eingezogen. Wir blieben weitere 15 Jahre, und dann haben wir das Museum eröffnet. 1990 wurde es noch um ein Institut für das Recht auf Asyl erweitert. Einige leer stehende Squash-Hallen wurden umgebaut, daraus entstanden ein Auditorium, ein Ausstellungsraum und eine Bibliothek.
Ich selbst war immer am Rande der Politik. Der Großvater hatte den Sekretär*innen gesagt: Wenn Sie mit meinem Enkelsohn reden, dann nicht über Politik.
Welche Bedeutung hat Trotzki heute?
Er hatte einen totalen Glauben an den Menschen – eine absolute Überzeugung, dass der Sozialismus die Zukunft der Menschheit bestimmen würde. Er hatte keinerlei Zweifel daran.
Doch die Uhr der Geschichte bewegt sich langsamer, als man es gern hätte. Ein Menschenleben ist sehr kurz im Vergleich zu den historischen Zyklen. Aber es ist indiskutabel, dass die Menschheit eine andere soziale Organisaionsform braucht, will sie überleben. Denn der Kapitalismus erreicht immer neue Niveaus der Zerstörung.
Rosa Luxemburg sprach über die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“.
Ich habe diesen Satz umgedreht: Barbarei oder Sozialismus. Denn wir sind schon in der Barbarei, und wir müssen hier rauskommen.
Welche Bedeutung hat Trotzkis politisches Erbe, um den Kapitalismus zu überwinden?
Der Marxismus ist bisher die beste Methode, um den Kapitalismus und den Klassenkampf zu verstehen. Die russische Revolution war eine der umfassendsten, die es bisher gegeben hat. Trotzki hat diese Revolution ideologisch vorbereitet und an der Umsetzung teilgenommen. Er verteidigte die Sowjetunion gegen alle Feind*innen. Nach Lenins Tod stellte er sich der Konterrevolution entgegen.
Wir wissen, dass alle Revolutionen die gleiche Dynamik haben: ein Vorstoß, dann ein Kater, ein Rückschritt. Genau wie bei der französischen oder der mexikanischen Revolution gab es in der russischen ein Thermidor. Konkret bedeutete das den Aufstieg einer Bürokratie, einer neuen privilegierten Kaste, die sich des Landes und der Regierung bemächtigte.
Kann der Sozialismus von dieser stalinistischen Erfahrung gerettet werden?
Stalin präsentierte sich als großer Schüler Lenins. Dem kapitalistischen Regime kommt es nur recht, diese Lüge zu bestätigen, um den Marxismus herabzusetzen. Trotzkis große Arbeit war es, sich der stalinistischen Konterrevolution entgegenzusetzen. Niemand hat diesen Prozess besser studiert.
Viele glauben, der Kampf zwischen Stalin und Trotzki wäre ein Kampf um die Macht gewesen. Für Stalin trifft das sicher zu. Aber für Trotzki überhaupt nicht. Er interessierte sich nicht für Macht, er wollte die Prinzipien der Oktoberrevolution aufrechterhalten.
Hätte Trotzki die Macht an sich reißen wollen, hätte er das in einer halben Stunde mit der Roten Armee tun können, denn er war ihr Vorsitzender. Aber das hätte zu einer Militärdiktatur geführt. Und das war nicht sein Ziel. Am Ende konnte er die Konterrevolution nicht aufhalten – aber sehr wohl diesen Prozess intensiv studieren.
Daher war es ihm besonders wichtig, die jungen Genoss*innen politisch zu schulen. Nach dem Abendessen führte er in seinem Büro immer sehr lange Diskussionen mit ihnen.
Letzte Eindrücke von Trotzki?
Im Allgemeinen war das eine so traurige Zeit. Der Tod des Sohnes Lew war ein furchtbarer Schlag. Der andere Sohn, Serge, war festgenommen worden. Aber sie wussten bis zuletzt nicht, dass er erschossen wurde.
Wenn Trotzki nachdenken musste, führte er Gespräche mit führenden Bolschewiki wie Bucharin oder Sinowjew. Sie waren bereits von Stalin hingerichtet worden. Aber so konnte er politische Fragen durchdenken. Er wusste genau, wie sie geantwortet hätten, und konnte so eine Debatte führen.
Das Gespräch führte Wladek Flakin.
Zwei Fluchtgeschichten
1879 in der Ukraine geboren, wurde Lew Dawidowitsch Bronstein unter seinem Pseudonym Leo Trotzki in Russlands Revolutionen von 1905 und 1917 zum Vorsitzenden des Rats der Arbeiter- und Soldatendeputierten in der Hauptstadt Petrograd. Nach Lenin, gegen den er einst bitter polemisiert hatte, war Trotzki der zweite Mann der Oktoberrevolution und führte die neue Rote Armee persönlich an.
Nach dem Tod Lenins 1924 schritt die Bürokratisierung der Revolution voran, die Rätedemokratie existierte nicht einmal mehr als Ideal. Hunderttausende Bolschewiki wurden ausgeschaltet, Trotzki 1927 aus der Partei ausgeschlossen und nach Almaty im heutigen Kasachstan verbannt. 1929 musste er die Sowjetunion verlassen und fand Zuflucht auf der türkischen Insel Prinkipo, von wo er wie später aus Frankreich und Norwegen ausgewiesen wurde. 1937 erhielt er Asyl in Mexiko.
Trotzkis Tochter Sinaida Wolkowa litt unter schweren Depressionen, sie nahm sich 1932 in Berlin das Leben. Ihr kleiner Sohn Wsewolod Wolkow, den alle „Sieva“ nannten, kam zu seinem Onkel, Trotzkis Sohn Lew Sedow. Doch dieser musste gleich darauf vor den Nazis nach Paris fliehen. Lew Sedow wurde 1938 von stalinistischen Agenten vergiftet.
Der junge Sieva zog zu seinem Großvater – nach Mexiko. Bald wurde er Mexikaner und übernahm eine spanische Version seines Namens: Esteban. Als Chemiker erfand er eine Methode zur industriellen Herstellung der Anti-Baby-Pille. Seit 1989 leitet er das Trotzki-Museum.