Tod durch Erfrieren: nationale Unterdrückung in Zeiten des verschärften islamischen Kapitalismus

24.12.2019, Lesezeit 8 Min.
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In Rojhalat sterben zwei Jugendliche bei der Arbeit. Ihr Tod löst Massenproteste in der iranischen Besatzungszone aus. Die beiden Jungs waren als Kolbar tätig.

Am 20. Dezember empfingen die Massen in Marivan (Rojhalat, Ostkurdistan) mit Brotscheiben den leblosen Körper von Farhad Khosravi. Brot wurde zum Zeichen der jüngsten Proteste, welche sich über den gesamtiranischen Staat erstreckten: es symbolisiert die Kosten des Lebens. In der Nacht zum 15. Dezember wurden der 14-Jährige kurdischen Junge und sein 17-jähriger Bruder Azad als vermisst gemeldet. Am 20. Dezember wurden ihre erfrorenen Leichen von Einheimischen auf der Höhe des Tateh-Huraman-Gebirges nach viertägiger Suche gefunden. Beide waren zum Todeszeitpunkt als Kolbar, also als Grenzkuriere, tätig.

Tausende Kurd*innen begleiteten am Freitag die Leiche des jungen Teenagers in das Dorf Ney, sein Geburtsort in der Nähe der Stadt Marivan. Sie würdigten die Kolbar, die ihr Leben verloren haben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Bei der Beerdigung, an der Tausende Menschen aus dem Dorf und den umliegenden Städten teilnahmen, riefen die Menschen Parolen gegen die islamischen Revolutionsgarden und die iranische Regierung: „Die Revolutionsgarden sind für dieses Verbrechen verantwortlich!“, „Tod dem Diktator!“, „Märtyrer sterben nicht!“.

Der Tod der beiden jungen Brüder führte zu einer Massenempörung in der Region. Das alles, nachdem in den letzten 40 Tagen Tausende Menschen gegen die Erhöhung des Benzinpreises und gegen das iranische Regime auf die Straßen gegangen sind. Es sind vor allem Menschen unterdrückter Nationen, die im Iran systematisch ermordet werden. Nun haben die unterdrückten und ausgebeuteten Massen eine weitere Tragödie erlebt.

Die Khosravi Brüder waren dabei sehr neue, unerfahrene Kolbar. Azad lief erst zum dritten Mal, sein jüngerer Bruder zum ersten Mal, die verschneite Strecke zu Fuß. Die Familie bestand aus den kranken Eltern und insgesamt vier Kindern. Azad war der älteste, der die Mittelschule verlassen musste, um die Eltern bei der Beschaffung des Lebensunterhaltes für die gesamte Familie zu unterstützen. Farhad war der dritte Sohn der Familie, der aus dem gleichen Grund vor kurzem ebenfalls die Schule verließ.

Am 15. Dezember fuhr eine Gruppe von fünf Jugendlichen aus dem Dorf Ney zum Tateh-Hawraman-Gebirge, um dort Waren über die Grenze zu schmuggeln. Drei Mitglieder der Gruppe hatten das Glück, auf ihrem Weg bei heftiger Kälte ein in Baschur (Südkurdistan, der Teil von Kurdistan im Irak) liegendes Grenzdorf zu erreichen. Azad und Farhad verirrten sich jedoch im Schneesturm. Farhads Bemühungen, Azad mit seiner Jacke warm zu halten, um ihn zu retten, waren nutzlos. Azad erfror im Schnee. Farhad erreichte dann alleine eine Berghütte. Sie war verschlossen. Farhad versuchte, in die Hütte zu kommen, indem er das Fenster einbrach und dabei seine Hand verletzte. Er schaffte es aber nicht hinein. Mit blutenden Fingern und einem kraftlosen Körper lehnte er seinen Kopf an die Außenwand der Hütte und schloss seine Augen.

Als die beiden Jugendlichen aufgefunden wurden, befand sich Farhads Jacke auf dem gefrorenen Körper seines Bruders Azad. Die Berghütte, wo Fahrhads Leiche gefunden wurde, war weiter entfernt am Ende der vorgesehenen Route.

Kapitalismus und Kinderarbeit

Das kapitalistische Produktionssystem besteht aus verschiedensten Produktionsformen – freie und unfreie Arbeit, entlohnte und nicht-entlohnte Arbeit. Arbeit von Erwachsenen und – trotz all möglicher Kinderschutzkonventionen – auch aus Kinderarbeit. Kurdistan und der Iran sind da keine Ausnahme. Denn auch in Deutschland konsumieren wir eine Vielzahl von Produkten, die mit Kinderarbeit hergestellt werden: vom Koltan für unsere Smartphones aus dem afrikanischen Kontinent oder den verschiedenen südamerikanischen Edelmetallen für unsere anderen elektronischen Geräte sowie unseren Schmuck, über die Kleidung die wir von Nike oder bei H&M kaufen – unser Alltag ist durchzogen von Produkten der geraubten Kindheit von Kindern an anderen Orten der Welt. Weit weg, wo wir es nicht sehen.

Diese Art von extremster Ausbeutung ist das Erbe der kapitalistischen Barbarei und findet ihren brutalsten Ausdruck in der Kinderarbeit. Die Kinder-Kolbararbeit (Grenzkurrierarbeit) in Kurdistan, insbesondere im harten kurdischem Winter, zeigt, dass das iranische Regime die unterdrückten Völker sich nicht mit dem Elementarstem zum Überleben ausstatten lässt. Die einzige Möglichkeit, Kinderarbeit überhaupt an ihren Wurzeln zu bekämpfen. Der gewaltsame Tod von Farhad und Azad symbolisiert die Klassenausbeutung und nationale Unterdrückung, in der die Jungen und ihre Familie lebten und immer noch leben. So ist vor allem der 14-Jährige Farhad zum Symbol der Ungerechtigkeit und der Barbarei des kapitalistischen Systems der islamischen Republik geworden. Der Tod durch Erfrieren ist nicht normal. Er ist das Produkt der systematischen Entrechtung des kurdischen Volkes, auch durch das islamisch-iranische Regime. Die Beerdigung der Brüder hat in Marivan Proteste gegen die kolonialistische Politik der Islamischen Regierung ausgelöst. Die Jungen sind so heute zum Symbol des Widerstandes und dem Kampf ums nackte Überleben in Rojhalat geworden.

Kolbar: Vereinigung der primitivsten Wirtschaftsformen mit den letzten Errungenschaften der kapitalistischen Technik

In einem Land, in dem die Inflationsrate aktuell bei ca. 50 Prozent liegt und die Arbeitslosenrate bei ca. 11 Prozent, ist das Überleben mühsam. Das Überleben im besetzten Rojhalat ist besonders schwierig. Hier beträgt die Arbeitslosenrate ca. 40 Prozent. Viele müssen da auf unregelmäßige Arbeit wie die als Kolbar zurückgreifen: Kol heißt auf Kurdisch „Rücken“, bar bedeutet „Last“. Kolbar tragen auf ihren Rücken große Kisten, die manchmal schwerer als ihr eigenes Körpergewicht sind. Nicht selten sind das über 100 Kilogramm. Kolbar werden pro Grenzgang (zwischen Rojhalat und Baschur) bezahlt und wissen eigentlich nie, ob sie ihn überleben werden. Denn sie werden entweder durch die kolonialen Sicherheitskräfte der iranischen Regierung beschossen, oder in den Bergen durch Lawinen begraben.

Allein in Ostkurdistan leben ca. 400.000 Menschen direkt von der illegalisierten Kolbar-Arbeit. Seitdem durch die imperialistische Unterwerfungspolitik und den internationalen Sanktionen gegen die Islamische Republik, an der sich auch Deutschland beteiligt, sind nun noch mehr Familien zur gefährlichen Kolbar-Arbeit gezwungen, da sich durch die Sanktionen die Wirtschaftslage des Landes deutlich verschlechtert hat. Die meisten der als Kolbar arbeitenden kurdischen Jugendlichen sind arbeitslos, gehen also keiner regulären Lohnarbeit nach – nicht weil sie nicht wollen, sondern weil sie keine Anstellung finden. Es bleibt vielen nur ein einziger Weg, um ihr Überleben und das ihrer Familie sicher zu stellen. Dabei kennt die Kolbar-Arbeit kein Geschlecht, kein festes Alter und kein Bildungsniveau. Aktuell ist die Tagelöhner-Arbeit als Kolbar die letzte und doch häufigste Arbeitsmöglichkeit der kolonisierten Kurd*innen in Rojhalat.

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Die systematisch zurückgehaltene Infra- und Wirtschaftsstruktur drängen viele Kurd*innen in allen kurdischen Gebieten in Elend und Armut. In Rojhalat sind Kurd*innen gezwungen, mit veralteten Transportmitteln wie mit Maultieren, Eseln und Pferden die modernsten technischen Produkte wie Laptops, Handys, Kühlschränke usw. über die Grenze zu bringen. Dieser Grenzhandel ist eigentlich ein Handel zwischen Kurd*innen, die durch die Grenzen der kolonialen Staaten wie dem Irak, der Türkei und dem Iran getrennt sind. Ihre technischen Mittel zur Arbeit sind primitiv und historisch von der technischen Entwicklung längst überflüssig gemacht. Leo Trotzki definiert genau solche Phänomene wie folgt:

Die kolonialen und halbkolonialen Länder sind ihrer Natur nach rückständige Länder. Aber diese rückständigen Länder leben unter den Bedingungen der Weltherrschaft des Imperialismus. Deshalb hat ihre Entwicklung einen kombinierten Charakter: sie vereinigt die primitivsten Wirtschaftsformen mit den letzten Errungenschaften der kapitalistischen Technik und Zivilisation.

Das Phänomen der Kolbar unterstreicht das Zitat und zeigt die Dynamik der kombinierten und ungleichen Entwicklung zwischen kapitalistischen Zentren auf der einen Seite und dessen Peripherien auf der anderen Seite. Die Abschaffung dieser menschenunwürdigen Arbeitsverhältnisse kann vom Kampf gegen den imperialistischen Kapitalismus und Kolonialstaaten, wie dem Iran und der Türkei, nicht getrennt betrachten werden.

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