TheseXI – Erste Ausgabe erschienen!
“TheseXI” erscheint regelmäßig an der Uni Potsdam. Es wird von unabhängigen, am Marxismus interessierten Studierenden erarbeitet und von RIO gefördert. Die publizierten Inhalte stellen nicht unbedingt die Ansichten von RIO da. Ziel ist die Etablierung einer offenen Arbeitsgruppe an der Uni Potsdam, die marxistische (Selbst-)Bildungsarbeit und Praxis entfaltet. Die erste Ausgabe befasst sich anlässlich der Enthüllungen über den NSU mit dem Thema Faschismus. Die Ausgabe gibt es als PDF, die einzelnen Artikel stehen unten:
Nicht auf dem rechten Auge blind
Mit der Aufdeckung der mörderischen Aktivitäten der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) Anfang November hat die Gefahr, die vom rechten politischen Spektrum ausgeht, wieder breite Aufmerksamkeit erfahren. Ebenso die Frage nach der Rolle staatlicher Institutionen in den Geschehnissen.
Mittlerweile verdichten sich die Hinweise, dass der Verfassungsschutz (VS) und andere Staatsorgane nicht einfach „auf dem rechten Auge blind“ waren, sondern zumindest Teile des Apparats sehenden Auges die rassistisch motivierten Taten gebilligt oder gar unterstützt haben. Vor allem belegen die Vorfälle erneut, dass der Staat nicht zu einem effektiven Vorgehen gegen Neonazis und deren Strukturen in der Lage ist.
Sowohl die nachträgliche Berufung auf „Ermittlungspannen“, wie auch „Einzeltäter_innen“-Theorien* in Bezug auf faschistischen Terror haben in der Bundesrepublik Tradition. Der Bombenanschlag auf das Münchner Oktoberfest am 26.09.1980 bei dem 13 Menschen getötet und über 200 verletzt wurden, gilt bis heute offiziell als Tat eines Einzelnen, aus Frust über eine nicht bestandene Prüfung. Dass dieser kurz vor dem Anschlag noch von Augenzeug_innen in Begleitung gesehen wurde und Mitglied der rechtsradikalen „Wehrsportgruppe Hoffmann“ war, spielte bei den Ermittlungen so gut wie keine Rolle.
Überraschender als die Tatsache, dass Faschist_innen zu brutalen Morden fähig sind, sind heute die deutlichen Hinweise auf direkte Verstrickungen von staatlichen Mitarbeiter_innen in die Verbrechen.
Das letzte bekannte Opfer, Halit Y., wurde 2006 in einem Kasseler Internet-Café erschossen. Wenige Minuten vorher surfte ein hessischer VS-Beamter an einem der Rechner. Er geriet ins Visier der Ermittler_innen, weil er sich als einziger der Anwesenden nicht als Zeuge gemeldet hatte. Obwohl er in seinem Heimatdorf den Spitznamen „Kleiner Adolf“ trägt und den Fahnder_innen seine rechte Gesinnung bekannt war, wurden die Ermittlungen gegen ihn eingestellt.
Stattdessen wurde in diesem und anderen Fällen in Richtung „Streitigkeiten im kriminellen Milieu“ ermittelt, wodurch die Opfer posthum zu Verbrecher_innen gestempelt wurden.
Im abgebrannten Wohnmobil, in dem die Leichen der beiden NSU-Mitglieder Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos gefunden wurden, befand sich auch ein „offiziell gefälschter“ Pass, den normalerweise nur Personen erhalten, die von staatlicher Seite mit einer falschen Identität ausgestattet werden. Bislang ist ungeklärt, wie genau Mundlos an ein solches Dokument gelangen konnte. Beate Zschäpe, das einzige noch lebende Mitglied des Nazi-Trios, stand nach neuesten Hinweisen ebenfalls zeitweilig als V-Frau auf der Gehaltsliste des VS.
Auch der heute für den rechten Ares-Verlag publizierende, ehemalige Thüringer Verfassungsschutzleiter Helmut Roewer steht für die Verknüpfung von Staatsorganen und Neonazis.
Roewer war es, der den Anführer des faschistischen „Thüringer Heimatschutzes“ Tino Brandt bereits Anfang der 90er als V-Mann angeworben und ihn für seine „Informationen“ mit 200.000 DM belohnt hatte. Dass dieses Geld direkt zur Finanzierung von faschistischen Strukturen genutzt wurde, ist keine Mutmaßung, sondern eine von Tino Brandt selbst propagierte Tatsache. Aus den dadurch unterstützten Strukturen des „Thüringer Heimatschutzes“ gingen auch die Terrorist_innen des NSU hervor.
Verfassungsschutzleiter Roewer trat während seiner Amtszeit auch öffentlich im Ludendorff-Kostüm mit Pickelhaube auf – was ihm unter Kolleg_innen lediglich einen Ruf als Exzentriker einbrachte. Dass der Verfassungsschutz gerade unter Roewer eher Antifaschist_innen statt Neonazis als Gefahr darstellte, verwundert nicht. Seine Amtszeit endete erst 2000 nach zahlreichen Affären. 2008 wurde das Verfahren gegen ihn wegen „Verhandlungsunfähigkeit“ eingestellt.
Die regelmäßigen „Ermittlungspannen“ im Zusammenhang mit den rechten Attentaten werden vom VS heute unter anderem damit begründet, dass sich das Aufgabengebiet seit „9/11“ bei sinkenden Mitarbeiter_innenzahlen erweitert habe. Gleichzeitig stehen den Staatsorganen jedoch genug Mittel zur Verfügung, um bei einer antifaschistischen Demonstration im Februar dieses Jahres in Dresden zehntausende Handys von Antifaschist_innen und Journalist_innen zu überwachen. Oder in Berlin zeitweise 600 Beamte einzusetzen, um nachts „linke“ Autobrandstifter_innen zu suchen. (Keine bisher ermittelte Tatperson ist Teil des linken Spektrums.) Überspitzt gesagt: Der deutsche Staat schützt eher Autos von Deutschen, als das Leben von Migrant_innen.
Offensichtlich ist zumindest die jahrelange „fahrlässige“ Strafvereitlung bei faschistischen Morden, denn nichts Anderes sind die hier aufgeführten „Ermittlungspannen“.
Personelle Kontinuität nach 1945
Die sogenannte Entnazifizierung beschränkte sich auf wenige Personen. Viele altgediente Nazis wurden als Mitläufer_innen oder als unbelastet eingestuft. Konrad Adenauer (CDU), zur Zeit der Entnazifizierung Bundeskanzler, schrieb im Oktober 1955 dem FDP-Abgeordneten Manteuffel: „Ich weiß schon längst, dass die Soldaten der Waffen-SS anständige Leute waren“, hier nun ein paar dieser „anständigen Leute“ im Dienste der BRD:
Karl Maria Hettlage war im 3.Reich SS- Hauptsturmführer. In der BRD wurde er 1959 Staatssekretär der Regierung Adenauer, später u.a. Beirat der Thyssen-Stiftung. Er erhielt 1967 das große Bundesverdienstkreuz. Reinhard Gehlen war im 3.Reich Chef des militärischen Nachrichtendienstes. Er gründete nach 1945 mit Hilfe des CIA die Organisation Gehlen, den späteren BND in dem gesuchte Kriegsverbrecher_innen neue Identitäten und Papiere erhielten. Die Nazi-Generäle Adolf Heusinger und Hans Speidel waren beide die ersten Befehlshaber der Bundeswehr. Kurt Kiesinger war vor 1933 NSDAP-Mitglied und danach Porpagandachef des Auswärtigen Amts. In der BRD wurde er 1966 Bundeskanzler.
Hans Filbinger war Nazi-Richter und SA-Mitglied. 1966 wurde er bis 1978 Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
Aber auch in der Wirtschaft setzte man auf altbewährtes: Gustav Krupp, ab 1932 finanzierte er die Faschist_innen und verdiente an Zwangsarbeit und Krieg, wurde aus gesundheitlichen Gründen nie zur Verantwortung gezogen, die Firma blieb in Familienbesitz. Die Firma Degesch/Degussa lässt heute einfach das „B“ weg und produziert weiterhin „Zyklon“.
Kein Anti-Kapitalismus ohne Kapitalismuskritik
Die Geschichte hat gezeigt: Faschismus ist die Folge kapitalistischer Systeme, die durch immer wiederkehrende Krisen und das Machtstreben der herrschenden Klasse der faschistsichen Ideologie immer wieder neuen Nährboden bieten.
Wo früher Menschen am Fließband standen, findet man heute hochmoderne Maschinen. Doch anstatt die Arbeitenden zu entlasten wächst der Druck auf jene sogar noch. Man kürzt ihnen die Löhne oder entlässt sie gleich. Dadurch steigt die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Die Menschen fangen an das System zu hinterfragen, organisieren sich, gehen auf die Straße und lernen schließlich die volle Bandbreite staatlicher Gewalt kennen. Diese Erfahrung mussten schon die Arbeitenden in den 30er-Jahren machen. Die herrschende Klasse übernahm das Kommando, so genannte „Notstandsverordnungen“ sollten wieder Ruhe ins Land bringen und politische Opposition wurde unterdrückt und verboten. Die weitere Entwicklung ist bekannt.
Wenn die Politik die Menschen nicht mehr kontrollieren kann, greift sie auf terroristisch-unterdrückerische Methoden zurück. Diese sind nicht gleich faschistoid. Mit der Zuspitzung kapitalistischer Krisen kann sich das aber schnell ändern, wie nicht nur das Schicksal der Weimarer Republik bewies.
§ 129 StGB erlaubt dem Staat schon heute, Menschen wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung zu verurteilen. So kam es im Zusammenhang mit dem Bündnis „Dresden-Nazifrei“ zu zahlreichen Anzeigen seitens des LKA Sachsen gegen engagierte Antifaschisten_innen, die am 19. Februar diesen Jahres Dresdens Straßen blockierten, um den geplanten Aufmarsch der Faschisten zu verhindern. Neben einer empfindlichen Geldbuße, kann dies mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.
Finnland, Ungarn und die Niederlande zeigen: Rechtsradikale Parteien sind in Europa wieder im Kommen. Wir alle gemeinsam müssen dafür sorgen, dass diese Entwicklung sich nicht weiter ausbreitet.
Kampf den Nazis! Kampf dem Kapital!
Wesen des 3.Reichs
Deutungsversuche des deutschen Faschismus sind oft fragwürdig. Am zwielichtigsten sind die Bürgerlichen. Sie reproduzieren gefährliche Fehlannahmen.
Oft ist vom „einzelnen Mann, der alle verführte“ die Rede. Doch dient das wohl eher der Rechtfertigung halbherziger Entnazifizierungsversuche. Wo bleibt die Erklärung der großzügigen Finanzierung der noch kleinen NSDAP duch bis heute existierende Konzerne, wie Lufhansa?
Aussagen vom „Mangel an Demokrat_innen“ verschleiern die breiten, linken Widerstandsbewegungen im 3.Reich, die zahlenmäßig und politisch über reaktionäre Scheinheld_innen, wie den ultra-rechten Stauffenberg, hinaus gingen.
Der deutsche Faschismus war weder das Werk einzelner Menschen, noch ein „böser Verführer aller Deutschen“. Der Nationalsozialismus kannte klare Klasseninteressen:
Die Stimmen der NSDAP kamen aus dem Kleinbürgertum. Die Gelder aus der deutschen Wirtschaft. Die ersten Züge ins KZ transportierten die Parteiführungen von KPD und SPD.
In Frankreich gingen die Kommunist_innen in den Widerstand, während das französische Kapital als „Vichy-Regime“ mit dem deutschen Faschismus kollaborierte.
Die Stärke heutiger Konzerne, wie Thyssen/Krupp, Neckermann und Bayer fußt im Monopolkapitalismus des deutschen Faschismus.
Eine Analyse des 3.Reichs muss eine sozial-ökonomische, also eine Klassenanalyse sein. Solche bieten marxistische Analysen, wie „Portrait des Nationalsozialismus“ vom Oktober-Revolutionär und Anti-Stalinisten Leo Trotzki.