Thesen zur Lage in Frankreich und den Aufgaben der Revolutionär:innen
Trotz der überraschenden Niederlage des radikal rechten Rassemblement National in den Parlamentswahlen verschärft sich die politische Krise Frankreichs zusehends – neun Thesen unserer Schwesterorganisation Révolution Permanente zur politischen Situation und den Herausforderungen, vor denen Revolutionär:innen nun stehen.
Die schwere Niederlage Marine Le Pens rechtsradikaler Partei Rassemblement National (RN) in der zweiten Runde der Parlamentswahlen am 7. Juli, der Einzug der linksreformistischen Neuen Volksfront (NFP) als stärkster Partei und die relative Aufrechterhaltung des Macronismus haben zu einer Vertiefung der politischen Krise geführt. Während sich die NFP in den letzten Tagen auf der Suche nach eine:r Premierminister:in zerfleischt hat, schafft diese Situation zahlreiche Herausforderungen. Sie steht in einem internationalen Kontext, der gekennzeichnet ist durch die Rückkehr des Krieges, die Unsicherheit durch die bevorstehenden Wahlen in den USA und ihre Auswirkungen auf Europa sowie den zunehmenden Druck der Finanzmärkte. Wir gehen hier auf die im Zentralkomitee von Révolution Permanente geführten Diskussionen ein, als Weiterführung unserer Positionen seit der Ankündigung der Parlamentsauflösung durch Macron Anfang Juni.
1. Ein bedeutender Rückschlag für die extreme Rechte, der die bestehenden Grenzen des RN auf ihrem Weg zur Macht aufzeigt
Das Ergebnis der Parlamentswahlen bedeutet zunächst einen Rückschlag für die extreme Rechte. Das RN erzielte ein historisches Ergebnis, indem es bei den Parlamentswahlen mehr als 10 Millionen Stimmen erhielt und 143 Abgeordnete stellte. Damit konnte es seine Ressourcen konsequent erhöhen und seine Arbeit zur Etablierung im Land fortsetzen. Dennoch scheiterte es erneut an den Toren der Macht, obwohl seine Dynamik nach den Europawahlen stärker war als je zuvor.
Dieses Ergebnis ist weitgehend auf die Wiederbelebung der sogenannten „republikanischen Front“ in der Zeit zwischen den beiden Wahlgängen zurückzuführen. Dabei handelt es sich um eine Vereinbarung zwischen den Kandidat:innen der NFP, den Macronist:innen und einiger der rechten Partei der Republikaner:innen (LR) [vergleichbar mit der deutschen CDU/CSU, A.d.Ü.] ihre eigenen Kandidaturen zugunsten derer anderer Parteien zurückzuziehen, um den Sieg von RN-Kandidat:innen zu verhindern. Diese Taktik wurde von einer medialen und politischen Kampagne gegen die extreme Rechte begleitet. Dabei wurden die ultra-rassistischen Profile zahlreicher Kandidat:innen, der Dilettantismus der RN, aber auch die Ablehnung, die die am stärksten fremdenfeindlichen Maßnahmen ihres Programms hervorgerufen haben, hervorgehoben. Diese Front gegen die extreme Rechte, die verhindert hat, dass sie eine Mehrheit erlangt, zeigt, wie weit die Partei von Marine Le Pen noch von der Macht entfernt ist.
Trotz einiger Erfolge, wie der Eroberung von Teilen der wohlhabenden Wähler:innenschaft und ersten Annäherungen an das Kapital, bleiben die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten, über die das RN verfügt, noch begrenzt. Außerhalb des Parlaments ist die Partei von Marine Le Pen nach wie vor nicht an den Schaltstellen der Macht vertreten, verfügt nur über schwache Verbindungen in die sogenannte „Zivilgesellschaft“ und wird durch die „republikanische Front“ an den Rand der Macht gedrängt. Diese Front stützt sich auf die mehrheitliche Opposition gegen die extreme Rechte in der Bevölkerung und hat sich weiterhin als ein wichtiges Instrument für die organischen Parteien des Regimes erwiesen, die sich dank der Rücktritte im zweiten Wahlgang in der Versammlung halten konnten.
Unsere Analyse läuft jedoch keineswegs darauf hinaus, die Gefahr, die vom RN ausgeht, herunterzuspielen, zumal der „Aufschub“, den dieser Rückschlag für die extreme Rechte bietet, voller Widersprüche ist. Angefangen bei der Festigung des Bildes der extremen Rechten als einzige Kraft, die sich wirklich gegen den Macronismus und die alten Regierungsparteien wie die sozialdemokratische Sozialistische Partei (PS) [vergleichbar mit der deutschen SPD, A.d.Ü.] und LR stellt. Daher muss die Dynamik der breiten Politisierung gegen die extreme Rechte, die mit den Wahlen einherging, ein Anlass sein, die Strategie für ein wirkliches Ende des RN zu diskutieren. Unabhängig von denjenigen politischen Kräften, die für das RN überhaupt erst den Nährboden geschaffen haben.
2. Die Dreiteilung der politischen Landschaft und die Spaltung der Arbeiter:innenklasse als zentrale strategische Herausforderung
Nach den Parlamentswahlen hat sich die Dreiteilung der politischen Landschaft in Frankreich trotz der Polarisierungstendenzen zwischen links und extrem rechts fortgesetzt: In der Versammlung sitzen drei fast gleich große Blöcke mit insgesamt 493 von 577 Sitzen. Die NFP, die als stärkste Partei aus den Wahlen hervorging, erhielt im ersten Wahlgang fast 9 Millionen Stimmen und stellt 182 Abgeordnete. Die Macronist:innen stehen mit 168 Abgeordneten und 6,4 Millionen Stimmen im ersten Wahlgang an zweiter Stelle. Das RN erhält 143 Abgeordnete, konnte aber sowohl im ersten als auch im zweiten Wahlgang über 10 Millionen Stimmen auf sich vereinen. Trotz des ersten Platzes des Linksblocks hält sich der Zentrumsblock somit relativ gut, während der extrem rechte Block von einer deutlichen Dynamik profitiert, obwohl sein politisches Gewicht durch die „republikanische Front“ eingeschränkt wurde.
Diese drei Blöcke sind sozial uneinheitlich, weisen aber bemerkenswerte Tendenzen auf. Während der Zentrumsblock seine Basis in den wohlhabenderen Teilen der Bevölkerung hat, hat das RN weiterhin große Teile der Arbeiter:innenklasse und der außerhalb der Großstädte lebenden Unterschichten als Basis. Allerdings dehnt es diese jedoch zunehmend auf wohlhabendere Teile der Bevölkerung aus. Die Linke bleibt in den städtischen Zentren verankert und spricht sowohl qualifizierte Lohnabhängige, die Arbeiter:innenaristokratie, junge Akademiker:innen als auch vor allem das Proletariat und die Jugend in den Arbeiter:innenvierteln an. Gleichzeitig bleibt die Wahlenthaltung ein Schlüsselfaktor auf Seiten der Arbeiter:innen und der Unterschicht. Trotz einer Rekordbeteiligung bei den Parlamentswahlen haben sich 46 Prozent der Arbeiter:innen und 42 Prozent der Angestellten der Stimme enthalten.
Die soziale und politische Dreiteilug geht also innerhalb unserer Klasse mit einer weiterhin hohen Wahlenthaltung und einer Spaltung zwischen den Arbeiter:innen, die links wählen, und den immer zahlreicher werdenden, die extrem rechts wählen, einher. Diese Dynamik nährt sich aus dem Verrat der Regierungs-„Linken“, die sich seit 40 Jahren die Macht mit der Rechten teilt, sowie aus der historischen Schwächung der Arbeiter:innenorganisationen und der Verarmung immer größerer Teile der Bevölkerung. Das Ausbleiben großer Siege auf dem Gebiet des Klassenkampfes trotz der zahlreichen Bewegungen der letzten Jahre lässt zudem die Aussicht in weite Ferne rücken, die Kapitalist:innen zur Kasse zu bitten, um den Alltag ein wenig zu verbessern oder um die eigene Lebensrealität von Grund auf zu verändern.
Diese Demoralisierung stärkt den Wunsch nach einer „Rückkehr zur Ordnung“ und fremdenfeindliche Reden, auch – wenn auch noch in einer Minderheit – in historisch linken Randgruppen wie unter Lehrer:innen und Beamt:innen. Diese Spaltung der Arbeiter:innenklasse ist eine strategische Herausforderung der aktuellen Situation. Zusammen mit der Wahlenthaltung erklärt sie, warum die Linke im Land nach wie vor weit von einer Mehrheit entfernt ist, weit entfernt von der historischen Volksfront, auf die sich die NFP beruft. Letztere hatte 1936 mit fast 58 Prozent der Stimmen im Land 386 von 610 Abgeordneten erhalten.
3. Organische Krise: Die Rückkehr der Instabilität in der Regierung könnte eine Regimekrise einleiten
Mit seiner Parlamentsauflösung hat Macron – seit 2022 bereits in der Minderheit in der Nationalversammlung – die organische Krise in Frankreich verschärft. Der Schwund der sozialen Basis des Macronismus zugunsten der extremen Rechten und der Zusammenschluss der linken Kräfte haben zu einer neuartigen Konstellation in der Versammlung geführt, die die Fünfte Republik auf eine harte Probe stellt. Die Verfassung der Fünften Französischen Republik trat 1958 in Kraft, um die Instabilität der Regierung zu überwinden, die für die Vierte Republik kennzeichnend war. Sie hat in den letzten Jahrzehnten dank ihrer bonapartistischen Institutionen, die das Zustandekommen von Mehrheiten begünstigen und das Regieren in Situationen der Kohabitation [Staatspräsident und Premierminister gehören unterschiedlichen Strömungen an, A.d.Ü.] ermöglichen, eine hohe Stabilität gewährleistet. Diese Stabilität wurde durch das allmähliche Aufkommen des Zweiparteiensystems ab 1981 verstärkt, das durch den Rechts-Links-Wechsel ermöglichte, politische und soziale Spannungen in institutionelle Bahnen zu leiten.
Anfang der 2000er-Jahre brachte der Einzug des RN in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen und der Rückschlag für die PS die Anfänge einer Krise der traditionellen Parteien der Bourgeoisie zum Ausdruck. In der Folgezeit vertiefte sich diese Krise mit dem Ergebnis des Referendums über den Europäischen Verfassungsvertrag 2005, dem kontinuierlichen Erstarken der extremen Rechten und dem Zusammenbruch der PS und dann der LR ab 2016 vor dem Hintergrund großer Ausbrüche des Klassenkampfs. Die organische Krise, die 2017 durch das Aufkommen des Macronismus eingedämmt wurde, flammte aufgrund seiner raschen Erschöpfung erneut auf. Die aktuelle Situation drückt die Folgen dieser Schwächung der politischen Strömung des Präsidenten und seines Projekts aus und eröffnet eine Situation, die es in der Fünften Republik noch nie gegeben hat.
Für das weitere Vorgehen sind mehrere Szenarien offen – linke Minderheitsregierung, Minderheitsbündnis zwischen dem Macronismus und der traditionellen Rechten, Koalitionsregierung verschiedener politischer Kräfte, Technokrat:innen-Regierung – aber keines scheint einfach realisierbar zu sein. Macron versuchte mit seinem „Brief an die Franzosen“, der im Juni in vielen Regionalzeitungen erschien, seine Rolle als Schiedsrichter zu bekräftigen und die Perspektive einer „republikanischen Koalition“ stark zu machen. Allerdings mindert seine breite Diskreditierung die Erfolgschancen eines solchen Manövers beträchtlich und könnte den Weg für eine institutionelle Krise ebnen, falls sich keine politische Kraft als regierungsfähig erweist. Wie der ehemalige Premierminister Dominique de Villepin kürzlich zusammenfasste, „besteht eines der Risiken darin, (…) dass für alle offensichtlich wird, dass niemand politisch daran interessiert ist, diese Regierung zu führen, und dass der Präsident vor einem Chaos steht.“
Diese Situation macht es umso notwendiger, radikaldemokratische Maßnahmen zu verteidigen, um die verrotteten Institutionen der Fünften Republik infrage zu stellen auf der Grundlage eines Programms, das auf die Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse abzielt und welches eine Brücke zur Perspektive einer Arbeiter:innenregierung darstellt. Es geht jetzt darum, die Versuche der Kanalisierung zu bekämpfen, die auf diesem Terrain auftauchen könnten, sei es durch partielle Verfassungsreformen oder durch Projekte für verfassungsgebende Versammlungen für eine „Sechste Republik“.
4. Die Neue Volksfront und die Rückkehr der PS zu alter Stärke
Auf der linken Seite ist die Situation durch das Aufkommen der Neuen Volksfront geprägt. Auch wenn diese gewisse Hoffnungen beim „linken Volk“ wie auch in den Arbeiter:innenvierteln geweckt hat, sehen sie sich heute mit der Sackgasse dieser Koalition konfrontiert, deren Widersprüche seit der zweiten Runde der Parlamentswahlen besonders deutlich geworden sind. Insbesondere die zentrale Rolle, die der wichtigste bürgerliche Bestandteil der Koalition, die PS, spielt, ist Teil der langen Geschichte der Volksfront-Politik, die in den 1930er-Jahren entstand. Ende der 1930er-Jahre, nach der Niederlage des französischen Revolutionsversuches im Juni 1936 und der spanischen Revolution, kam Leo Trotzki auf die Volksfront zurück, die von der stalinisierten Kommunistischen Internationale nach ihrem VII. Kongress weltweit zur Doktrin erklärt worden war.1 Trotzki stellte damals fest:
Die Volksfronttheoretiker gehen im wesentlichen über die Anfangsgründe der Arithmetik, nämlich die Addition, nicht hinaus: die Summe von ‚Kommunisten‘, Sozialisten, Anarchisten und Liberalen ist größer als jeder Teil für sich. Das ist ihre ganze Weisheit. Allein, die Arithmetik reicht in diesem Fall nicht aus. Es bedarf mindestens der Mechanik: das Gesetz des Parallelogramms der Kräfte ist auch in der Politik gültig. Die Resultante pflegt bekanntlich umso kürzer zu sein, je stärker die zusammenwirkenden Kräfte auseinanderstreben. Ziehen die politischen Verbündeten nach entgegengesetzten Richtungen, so kann die Resultante gleich Null sein (…) Ein politisches Bündnis des Proletariats mit der Bourgeoisie, deren Interessen in der heutigen Epoche in den Grundfragen um 180° auseinanderklaffen, ist in der Regel nur imstande, die revolutionäre Kraft des Proletariats zu paralysieren.
Die NFP unterscheidet sich stark von den Volksfronten, die Trotzki damals diskutierte. Keine der Parteien, aus denen sie sich zusammensetzt, ist in der Arbeiter:innenklasse verankert oder stellt eine politische Massenkraft mit der Perspektive der Überwindung des Kapitalismus dar. Dennoch zeigen sich die von dem Revolutionär beschriebenen Gesetze der politischen Mechanik in der NFP noch immer deutlich. Die Sozialistische Partei, eine bürgerliche Organisation, spielt dort ganz klar eine Rolle, die darauf abzielt, die Elemente der Regimeopposition, die in Jean Luc Mélenchons La France Insoumise (LFI) – wenn auch in begrenztem Maße – existieren können, auszuhebeln.
Obwohl Teile der Arbeiter:innenaristokratie oder gewerkschaftlich organisierte Arbeiter:innen sowie Bewohner:innen der Arbeiter:innenviertel der Großstädte einen Teil ihrer Wähler:innenschaft ausmachen, ist die LFI keine Arbeiter:innenorganisation. Das zeigen ihre Strategie, ihr Programm und ihr Verhältnis zur Arbeiter:innenbewegung. Eher antiliberal als antikapitalistisch, hat sie sich in den letzten Jahren aufgebaut, indem sie sich den Elementen der Verschärfung des Regimes widersetzt hat, auf dem Gebiet der arbeiter:innenfeindlichen, autoritären und rassistischen Offensiven. Gleichzeitig hat sie ihre Bereitschaft gezeigt, 2022 wie heute eine gemeinsame Regierung mit Macron im Rahmen der Fünften Republik zu akzeptieren.
Vor den Wahlen kam die Rolle der PS in den Verhandlungen über das Programm deutlich zum Ausdruck. Von der Weigerung, sich klar zur Rente mit 60 zu bekennen, über die Verteidigung einer nicht verhandelbaren Unterstützung der Ukraine – auch durch Waffenlieferungen – bis hin zum Verzicht auf jegliche Erwähnung von Polizeigewalt konnte die PS ihre roten Linien bei wichtigen Themen durchsetzen. Letztendlich ist dieses Programm, obwohl es für die Rücknahme eines Großteils der Reformen Macrons eintritt und einige Maßnahmen zur Umverteilung und zur Unterstützung öffentlicher Dienstleistungen vorschlägt, weit von jeder Logik eines Bruchs mit dem Kapitalismus entfernt. Es mag zwar manchmal das neoliberale Dogma ankratzen, will aber in keiner Weise die Macht der Kapitalist:innen infrage stellen und schon gar nicht das Privateigentum antasten. Da sie selbst die spärlichen Verstaatlichungsprojekte der Neuen ökologischen und sozialen Volksunion (NUPES) aushöhlt, steht die PS rechts vom Programm der LFI, das wiederum rechts von klassischen reformistischen Programmen wie dem Gemeinsamen Programm von 1972 [zwischen PS, Kommunistischer Partei und einer bürgerlich-linksliberalen Partei, A.d.Ü.] und dem Programm der Sozialistischen Partei von 1981 steht – ganz zu schweigen von den sozialdemokratischen Programmen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Nachdem die PS ihre Abgeordnetenzahl in der Versammlung verdoppelt und die Wahl von François Hollande und des macronistischen Ex-Ministers Aurélien Rousseau ermöglicht hat, versucht sie nun logischerweise, ihr ganzes Gewicht bei der Wahl eine:r möglichen linken Premierminister:in in die Waagschale zu werfen. Sie versucht, ihre Hegemonie über die Koalition durchzusetzen, um ein für das Regime akzeptables Gesicht der NFP zu präsentieren. Diese Politik, die von den Grünen (EELV) und der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) unterstützt wird, geht mit der Marginalisierung der LFI einher.
Pierre Jouvet, Nummer Zwei der PS, ist sehr deutlich, was seine Partei mit den Vorschlägen für den Premierminister bezweckt:
Welche Partei hat das Land zweimal regiert, hat dreiunddreißig Departements, die Hälfte der Regionen, leitet große Metropolen, hat siebzig [behauptete] Abgeordnete und fünfundsechzig Senatoren? Wer könnte glauben, dass mit einem sozialistischen Premierminister die sowjetischen Panzer auf die Champs-Élysées rollen werden?
Eine Politik, die mit der Suche nach Laurence Tubiana einhergeht und eine zunehmende Distanzierung von dem bereits minimalen Programm der NFP bedeutet. Wie die Zeitung Le Monde feststellte:
Nicht jeder hält sich um jeden Preis an das Programm. Zum Beispiel erklärt Marine Tondelier, dass der Mindestlohn von 1600 Euro ‚komplizierter‘ sei, da es ein ‚Finanzberichtigungsgesetz‘ brauche, um eine Beihilfe für kleine und mittlere Unternehmen zu beschließen und wirtschaftliche ‚Katastrophen‘ zu vermeiden. Jérôme Guedj hingegen befürwortet eine ‚Minderheitsregierung, die den Bestrebungen der Mehrheit entspricht‘ und das Land im Konsens führen würde, indem sie spaltende Maßnahmen und das Fallbeil eines Misstrauensvotums der Versammlung vermeidet.
Diese Rehabilitierung der PS ist umso dramatischer, da der Bruch der Massen mit dieser Organisation eine Errungenschaft des Kampfes gegen das Arbeitsgesetz von 2016 und der Erfahrungen mit der Präsidentschaft von François Hollande war. Letzterer verfolgte eine Politik, deren Folgen wir heute noch zu spüren bekommen. Die Verantwortung liegt in erster Linie bei der LFI, die seit 2017 die stärkste linke Kraft ist. Die Tatsache, dass sie 2022 der PS die Hand gereicht hat und es dieses Jahr durch die NFP erneut getan hat, trotz der kriegstreiberischen Kampagne des PS-Spitzenkandidats Raphaël Glucksmann bei den Europawahlen, zeigt den Charakter der LFI und ihre Weigerung, wirklich mit der bürgerlichen linken Mitte zu brechen. Auch wenn sie nun hilflos die opportunistische Haltung der PS anprangert.
5. Die Linksradikalen der NFP: Zwischen Illusionen und Vorsicht
Trotz seines offen rechten Charakters hat das sehr breite Spektrum, der sich bei der Gründung des NFP zusammenschloss, zur Bildung eines linksradikalen Sektors innerhalb des NFP geführt, der von einem Großteil der antirassistischen, antifaschistischen, libertären oder antikapitalistischen Organisationen vertreten wird, die an dem am 10. Juli in Pantin organisierten Treffen „Was tun?“ teilgenommen haben. Diese Strömung ist im Namen der „Einheit gegen den Faschismus“ gleichzeitig patriotisch gegenüber der NFP, während sie der versöhnlichen Rolle ihres rechten PS-Flügels misstraut. Obwohl sie die Präsenz der PS und sogar von Persönlichkeiten wie François Hollande in diesem Bündnis verteidigt hat, versteht sie, dass die PS die Koalition als Trittbrett benutzen könnte.
Dennoch ist diese radikale Linke nach wie vor davon überzeugt, dass die NFP durch die Mobilisierung der Massen weiterentwickelt werden kann. Daher will sie die Kämpfe in den Dienst einer Politik stellen, die Druck auf das Linksbündnis ausübt, und so versuchen, die Position der LFI zu stärken, wobei sie die Mobilisierungsperspektiven den Kämpfen um die Apparate und der institutionellen Dynamik unterordnet. Der Fall der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) ist besonders symptomatisch. Die Ende der 1960er-Jahre entstandene Revolutionär-kommunistische Liga (LCR) existierte jahrzehntelang unabhängig vom Reformismus, trotz Kapitulationen ihm gegenüber. Auch wenn ihre Umwandlung in die NPA im Jahr 2009, bei der sie die Abgrenzung zwischen „Reform“ und „Revolution“ sowie das kommunistische Projekt aufgab, einen Rückschritt darstellte, behielt die Organisation als rote Linie die Unabhängigkeit von dem, was sie als Sozialliberalismus bezeichneten, das heißt von der PS, bei. Ihre Aufnahme in die NFP stellt somit einen historischen Sprung für diese politische Strömung dar, der durch eine verwirrende Rhetorik über die Einheitsfront gerechtfertigt wurde, die diese revolutionäre Taktik mit prinzipienlosen programmatischen und wahlpolitischen Vereinbarungen mit Parteien der Bourgeoisie gleichsetzte. Wie Olivier Besancenot, Gründungsmitglied und ehemaliger Sprecher der NPA, erklärt:
Wir haben keine andere Wahl als Gewalt. Wir sind in der Volksfront, was im Vergleich zu unserer politischen Geschichte wirklich eine Neuheit ist. Es war alles andere als selbstverständlich, aber eine außergewöhnliche Situation erfordert eine außergewöhnliche Antwort. Wir befinden uns in einer langen Phase des Wiederaufbaus einer neuen Emanzipationsbewegung, wobei das Ziel meines Erachtens darin besteht, einen neuen organisatorischen Pol zu bilden, der antikapitalistisch und internationalistisch ist und nicht versucht, sich vom Rest der Emanzipationsbewegung abzuspalten, sondern der nützlichste zu sein, und die bestehenden Organisationen, einschließlich unserer eigenen, zu überwinden. In diesem Rahmen müssen wir einheitlich sein und an die Traditionen vergangener, weit entfernter Generationen anknüpfen, die sich noch mehr Gewalt angetan haben als wir (…). Und wenn Hollande zurückkehren muss, ist das auch ein Synonym dafür, dass es trotz allem – und das ist das Paradoxe – tendenziell nach links geht. Wenn du dir das Programm ansiehst, das verabschiedet wurde, ist es kein revolutionäres Programm, es ist nicht einmal ein radikal reformistisches Programm, aber gut: Um es kurz zu machen, ich glaube, dass Hollande sich mit diesem Programm weniger wohl fühlt als Philippe Poutou.
Philippe Poutou, Gewerkschafter, ebenfalls Mitglied der NPA und ehemaliger Präsidentschaftskandidat für eben jene, hat sich seinerseits in den Medien weitgehend zur Teilnahme an einer solchen Koalition bekannt und sogar erklärt, dass der Ausdruck „von Hollande bis Poutou“ sehr gut zu ihnen passe.
Indem sie solche Bündnisse legitimiert, verkennt diese Logik eine zentrale Lehre aus der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung: die Verteidigung der völligen Unabhängigkeit vom Klassenfeind, das heißt von den bürgerlichen Parteien, seien sie nun rechts oder links.2 Diese Herausforderung geht über die Frage der Prinzipientreue hinaus, es handelt sich um ein zentrales strategisches Problem: Es geht darum, den Einfluss der bürgerlichen Apparate auf die Arbeiter:innenklasse zu bekämpfen und, entgegen der Dynamik der Kooptation, die Möglichkeit von Massenkämpfen als Ausweg aus der aktuellen Krise und Mittel um den Macronismus und die extreme Rechte zurückzudrängen, zu sichern.
6. Eine „politische“ Wende der CGT, um sich ins Schlepptau der Linken zu begeben
Die Haltung des Allgemeinen Gewerkschaftsbunds (CGT) und der Gewerkschaftsbürokratien im weiteren Sinne ist ebenfalls ein wichtiger Faktor in der Situation. Indem sie bereits in der ersten Runde zur Stimmabgabe für die NFP aufrief, brach sie mit der Tradition der „Distanzierung“ von der Politik, die sich seit den 1990er-Jahren nach dem Fall der Mauer durchgesetzt hatte. Ihr letzter Aufruf zur Stimmabgabe in einem ersten Wahlgang ging auf Mitterrand im Jahr 1981 zurück. Die von Sophie Binet, der „politischsten CGT-Generalsekretärin seit Georges Séguy“, wie es in einem Leitartikel hieß, verkörperte Orientierung beschränkte sich nicht auf eine einfache Positionierung bei einer Wahl. Sie führte stattdessen zu einer aktiven Kampagne, die Gewerkschafter:innen mobilisierte und so dem Zusammenschluss der Apparate der institutionellen Linken eine Deckung vonseiten der Arbeiter:innen bot. Diese aktive Kampagne setzte sich in der Zeit zwischen den beiden Wahlgängen fort, wo sie mit einer Unterstützung der „republikanischen Front“ einherging.
Diese Haltung ermöglicht zwar eine wichtige Diskussion über die politische Rolle der Gewerkschaften, die wir bereits während des Kampfes um die Renten zu führen versucht hatten. Die von der CGT-Führung vorgeschlagene Positionierung verpflichtet die Gewerkschaft dennoch zur Unterstützung einer gefährlichen politischen Operation. Seit der Einführung der NFP hat die CGT das Programm und die Apparate der Linken völlig unkritisch betrachtet und die brutale, arbeiter:innenfeindliche Politik der PS nie auch nur erwähnt, als diese an der Macht war. Während die Haltung der CGT in einem Teil unserer Klasse, der bereits mit den Gewerkschaften verbunden ist, geschätzt wurde und sogar zu neuen Beitritten geführt hat, ist die Reaktion in anderen Teilen der Arbeiter:innenschaft ambivalenter, sei es aufgrund des Einflusses des RN oder der Ablehnung des Bündnisses mit der PS, wobei sich diese beiden Reaktionen im Übrigen nicht gegenseitig ausschließen.
Darüber hinaus hat diese Politik dazu geführt, dass die CGT in den letzten Wochen vollständig hinter dem Wahlbündnis hergelaufen ist, indem sie ihre Aussichten darauf beschränkt hat, die Machtübernahme einer linken Regierung zu unterstützen, oder vorgeschlagen hat, sie zu unterstützen, um „Kompromissmehrheiten“ im Parlament zu erreichen. Diese Haltung vermittelt schwerwiegende Illusionen über die Fähigkeit einer sehr hypothetischen linken Regierung, unsere Forderungen durchzusetzen und wiederholt die Politik des Lobbyismus, die während des gesamten Rentenkampfes betrieben wurde und letztlich zur Niederlage führte. Angesichts des Misstrauens, das die NFP in einem Teil unserer Klasse geweckt hat, sind wir der Ansicht, dass es die Aufgabe der Organisationen der Arbeiter:innenbewegung sein sollte, eine andere Art von Politik zu vertreten: Eine Politik, die auf alle Fragen unserer Zeit eingeht, aber dies in völliger Unabhängigkeit und ohne jegliches Vertrauen in die bürgerlichen Parteien tut, sondern sich stattdessen den Methoden des Klassenkampfes bedient. Nur so können die Gewerkschaftsorganisationen gestärkt und die von der extremen Rechten angezogenen Teile unserer Klasse zurückgewonnen werden.
7. Die Stärkung der LFI als Vermittlerin in der Linken und ihre strategische Sackgasse
Während sich innerhalb der NFP das Kräfteverhältnis zuungunsten der LFI verschlechtert, wird die Bewegung als Vermittlerin der radikalen Linken gestärkt. Dies wird im Übrigen durch die „Satellitenbildung“ der oben genannten radikal-linken Strömungen um sie herum deutlich. Diese Dynamik hängt mit einer bewussten Politik des Melenchonismus zusammen, der in den 2000er-Jahren frühzeitig die Krisentendenzen der neoliberalisierten PS aufgriff, die sich in ihrem schlechten Ergebnis von 2002 und in den Vorstößen der radikalen Linken zur gleichen Zeit ausdrückten. Eine Politik, die durch die politische Schwäche der wichtigsten linksradikalen Organisationen wie Lutte Ouvrière (LO) und LCR beziehungsweise später NPA unterstützt wurde, da sie nicht in der Lage waren, ihre Wahlerfolge3 und die intensiven Mobilisierungen der letzten Jahre zu nutzen, um ihren Einfluss zu festigen.
Mélenchons neoreformistisches Projekt profitierte dann vom Zusammenbruch der PS ab 2016 und den Kämpfen, die ab diesem Zeitpunkt gegen Hollande und später Macron geführt wurden. In den letzten Jahren hat der Wille, den Dialog mit der Avantgarde dieser Kämpfe aufrechtzuerhalten, aber auch die Jugend und die Arbeiter:innenviertel wahltaktisch zu mobilisieren, die LFI insbesondere dazu veranlasst, Positionen gegen Islamophobie, Polizeigewalt oder für Palästina einzunehmen. Dies bot Anlass zu bedeutenden Offensiven des Regimes. Es handelt sich jedoch um einen sehr verzerrten Ausdruck dieser Kämpfe, da die LFI nicht nur ein Programm vertritt, das weit hinter dem in den letzten Jahren zum Ausdruck gebrachten Radikalismus liegt. Ihre linkspopulistische politische Strategie, die auf Wahlen und besonders der Präsidentschaftswahl basiert, zielt keineswegs darauf ab, die Selbstaktivität und Selbstorganisation der Massen zu stärken und ihnen dabei zu helfen, mit ihren eigenen Methoden politisch einzugreifen. Diese Strategie zielt im Gegenteil darauf ab, ihre Bestrebungen in institutionelle Bahnen zu lenken.
In diesem Sinne ist das Scheitern dieser Koalition – obwohl die LFI momentan von der linken Kritik an der NFP, die durch die Rolle der PS polarisiert ist, weitgehend verschont bleibt – ein Ausdruck der tiefen Grenzen der Bewegung von Jean-Luc Mélenchon und ihrer Strategie. In Momenten des Klassenkampfes hat sich diese als unfähig erwiesen, Perspektiven aufzuzeigen, um die Fähigkeiten zur Mobilisierung und Konfrontation auf dem Gebiet des Kampfes zu erweitern. Gleichzeitig haben ihr wahltaktischer Kompass und die Inkonsequenz ihrer Opposition gegen das Regime sie dazu gebracht, permanent mit politischen Kräften wie der PS zu kooperieren. Dies hat die LFI ins Schlepptau anderer linker Apparate gebracht und im weiteren Sinne die Sektoren der Avantgarde, die sie beeinflusst, in den Schoß bürgerlicher Kräfte wie der PS zurückgeführt, die sie 2022 praktisch wiederbelebt haben.
Von der NUPES bis zu den „republikanischen Abtrünnigen“ – die Organisation von Jean-Luc Mélenchon hat gezeigt, dass ihr Programm, das als „Bruch“4 angepriesen wird, systematisch gegen Wahlkompromisse austauschbar ist. So traten Kandidat:innen der NFP selbst zugunsten unpopulärer Figuren in Macrons Regierung, wie seiner ehemaligen Premierministerin Elisabeth Borne oder seines Innenministers Gérald Darmanin, im Zuge der „republikanischen Front zurück. Borne war maßgeblich an den Plänen der Rentenreform und armen- sowie arbeiter:innenfeindlichen Politiken beteiligt, während Darmanin inspiriert von Vorschlägen der extremen Rechten, rassistische und unsoziale Politiken umsetzte. Gleichzeitig bleibt das Programm der NFP im engen Rahmen der Verteidigung der Interessen des französischen Imperialismus verhaftet, wie die Positionen der LFI zu so zentralen Fragen wie dem Militarismus deutlich zum Ausdruck bringen, und scheitert daran, eine Perspektive zu entwerfen, die das kapitalistische System infrage stellt und dessen Sturz ermöglicht.
8. Gegen jedes Projekt der Klassenversöhnung: Unser Kampf zur Vereinigung unserer Klasse und für die Hegemonie der Arbeiter:innen
Auf einer Kundgebung im Juli erläuterte der sozialistische Philosoph Stathis Kouvélakis die strategische Hypothese, die vom antikapitalistischen pro-LFI-Flügel der NFP vertreten wird:
Eine Koalitionsregierung der Volkskräfte auf der Grundlage eines Programms des Bruchs als einziges Mittel zum Aufbau einer Machtalternative. Denn wenn der Faschismus sich als Alternative präsentiert und an die Tore der Macht gelangt, kann er auf Dauer nur von einer anderen Machtalternative besiegt werden, einer realen Alternative, weil sie mit der bestehenden Ordnung brechen will. Aber dazu, und das ist der entscheidende Punkt, muss diese Alternative der Volksregierung an einer Dynamik teilhaben, die über sie hinausgeht, dank der Mobilisierung der Kräfte, die sie an die Macht gebracht haben.
Wie bereits erwähnt, tendiert diese Logik, die vorgibt, die Eroberung der Institutionen und die sozialen Kämpfe zu artikulieren, jedoch systematisch dazu, letztere den ersteren unterzuordnen und so ihr subversives und revolutionäres Potenzial zu neutralisieren.
Gegenüber dieser Logik zeigt die Dynamik des Klassenkampfes in den letzten Jahren andere Möglichkeiten auf. In den vergangenen sieben Jahren hat die französische Arbeiter:innenklasse im Laufe der Kämpfe ihre Stärke unter Beweis gestellt und ihre verschiedenen Merkmale zum Ausdruck gebracht: die Vielfalt der Sektoren und Lebensweisen, die sie abdeckt – von den Arbeiter:innen in den Großstädten, die im Mittelpunkt des ersten Rentenkampfes standen, bis zu denen in ländlichen und halbländlichen Gebieten, die im Rahmen der Gelbwesten-Bewegung mobilisiert wurden – ihr zunehmend feminisierter und rassifizierter Charakter oder auch die engen Verbindungen, die sie mit den Arbeiter:innenvierteln und den verschiedenen unterdrückten Sektoren der Gesellschaft unterhält. Sie hat auch ihre Fähigkeit bewiesen, alle, die gegen Macron kämpfen, um sich zu scharen, von der Umweltbewegung über die feministische Bewegung bis hin zu antirassistischen Sektoren und natürlich der Schüler:innen- und Studierendenschaft.
Von der Verurteilung der Gewalt der Gelbwesten über die Niederlage im Rentenkampf bis hin zur Entscheidung, den Blick von den Aufständen in den Arbeiter:innenvierteln abzuwenden, als diese brutal unterdrückt wurden, hat die Politik der Gewerkschaftsbürokratien die Arbeiter:innenbewegung daran gehindert, eine Rolle bei der Vereinigung unserer Klasse zu spielen und in den Augen von Millionen von Arbeiter:innen als klare Alternative zum RN aufzutreten. Dabei ist es die Arbeiter:innenklasse, die als einziges soziales Subjekt über strategische Positionen verfügt, die es ihr ermöglichen, eine entscheidende Kraft gegen den Staat und die Kapitalist:innen aufzubauen, um ehrgeizige Forderungen durchzusetzen, und die auch in der Lage ist, alle unterdrückten Sektoren um sich zu scharen, um eine Front aufzubauen, die dem Kapitalismus ein Ende bereiten kann.
Dem Aufbau eines klassenübergreifenden Wahlblocks unter der Obhut der LFI, der der Frage der Vereinigung der Arbeiter:innenklasse ausweicht, setzen wir daher den Aufbau eines Arbeiter:innen- und Volksblocks von unten entgegen, der um die Arbeiter:innenklasse im weitesten Sinne und ihre Organisationen und Selbstorganisierungsrahmen herum strukturiert ist. Diese Politik der Arbeiter:innenhegemonie kann nur in Kämpfen verwirklicht werden und bedeutet, gegen die Politik der Gewerkschaftsbürokratien zu kämpfen, die die Aktivitäten der Arbeiter:innenklasse darauf beschränken wollen, Druck auf die Institutionen und Macron auszuüben, um die Machtübernahme durch eine linke Minderheitsregierung zu ermöglichen. Dieser Strategie, die sich bereits während des Kampfes um die Renten trotz Millionen von Menschen auf der Straße als Sackgasse erwiesen hat, setzen wir den Aufbau einer möglichst breiten Kraft durch die Methoden des Klassenkampfes entgegen, rund um ein ehrgeiziges Programm, das sich nicht mit ein paar Brotkrumen zufriedengibt.
Anstatt diese oder jene linke Kraft zu unterstützen, muss die Arbeiter:innenbewegung für ihre eigenen Forderungen kämpfen. Soziale Sofortmaßnahmen wie die Erhöhung aller Löhne und Sozialleistungen und ihre Anpassung an die Inflation oder die Rente mit 60 Jahren (55 für schwere Berufe) müssen mit Forderungen wie der Legalisierung aller Menschen ohne Ausweisdokument, den sogenannten „Sans-Papiers“, oder dem Wahlrecht für Ausländer:innen verknüpft werden, aber auch mit strukturellen Maßnahmen, die das derzeitige Wirtschaftssystem grundlegend infrage stellen. Dazu gehören die Verteilung der Arbeitszeit auf alle, die Enteignung der strategischen Wirtschaftssektoren unter Kontrolle der Arbeiter:innen, aber auch demokratische Maßnahmen wie die Forderung nach der Abschaffung reaktionärer Institutionen wie der Präsidentschaft und des Senats, um eine Arbeiter:innenrepublik und eine Regierung derjenigen zu schaffen, die noch nie an der Macht waren und die Gesellschaft verändern könnten, nämlich die Arbeiter:innen.
9. Der Wiederaufbau einer kämpferischen und revolutionären Linken der Arbeiter:innen als zentrale Herausforderung
Wenn die durch die Parlamentsauflösung eröffnete Entwicklung etwas gezeigt hat, dann, dass die Politik der Front der gesamten Linken und dann der „republikanischen Front“, die dazu geführt hat, dass LFI-Kandidaten zugunsten von Figuren wie Darmanin oder Borne zurückgezogen wurden, einen politischen Preis hat. Erstens wird dadurch die Idee gestärkt, dass das RN die einzige echte Opposition gegen ein Regime ist, das am Ende seiner Kräfte zu sein scheint. Zweitens wird eine bürgerliche politische Kraft wie die PS wieder in den Sattel gehoben und Illusionen in sie geschürt, sodass Hollande wieder in der Versammlung sitzt und die Partei glaubt, sich trotz ihrer tiefen Krise in den letzten Jahren um das Amt de:r Premierminister:in bewerben zu können. Dies ist ein bedeutender Rückschlag, zumal alle politischen Koordinaten erfordern, in die entgegengesetzte Richtung voranzuschreiten, nämlich in Richtung des Wiederaufbaus einer kämpferischen und revolutionären Linken der Arbeiter:innen, die in den verschiedenen Sektoren unserer Klasse verankert ist und das Projekt eines Sturzes des Kapitalismus und des Aufbaus einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung verfolgt.
Wenn die Arbeiter:innen in Massen streiken, wie im Kampf um die Renten, werden das Gewicht und der Einfluss der extremen Rechten stark verringert. Daher brauchen wir ein politisches Instrument, um in den Klassenkampf einzugreifen, indem wir die Selbstorganisierung stärken, sektorübergreifende Bündnisse aufbauen und für Strategien und Programme kämpfen, die es ermöglichen, die gesamte Energie der Massenbewegung zu entfalten, um unsere Forderungen durchzusetzen. Eine solche Organisation, die an den Arbeits- und Studienorten sowie in den Arbeiter:innenvierteln verankert ist, muss diese Kämpfe im Dienste der Revolution und eines emanzipatorischen Projekts, das das Leben der Menschen wirklich verändert, befördern. Das ist der einzige Weg, um die Teile der Arbeiter:innenschaft dem Einfluss des RN zu entreißen, die sich mangels Alternativen schließlich mit der einzigen Perspektive abfinden, die ihnen geboten wird: für mehr Autoritarismus zu kämpfen, um das soziale Elend zu kontrollieren, und gegen ihre ausländischen Klassengeschwister oder solche mit Migrationshintergrund um ein paar Brotkrumen zu streiten.
Angesichts der immensen Gefahren der Situation, die durch den Vormarsch der extremen Rechten und die Rückkehr des Krieges gekennzeichnet ist, ist jedes Projekt, das auf die Möglichkeit setzt, dieses verrottende System wiederzubeleben und es anders funktionieren zu lassen, dazu bestimmt, nur neue Enttäuschungen zu produzieren und damit die Möglichkeit zu begünstigen, dass das RN in einigen Jahren tatsächlich an die Macht kommt. Der Realpolitik des „kleineren Übels“, die uns davon überzeugen will, dass das einzig erreichbare Ziel in faulen Kompromissen mit den Bossen und ihren Institutionen liegt, muss eine revolutionäre Realpolitik entgegengesetzt werden, die von der Feststellung ausgeht, dass unsere Interessen mit denen der (rechten wie „linken“) Bourgeoisie unversöhnlich sind, dass dieses ganze System uns in die Katastrophe führt und dass die oberste Priorität darin bestehen muss, sich zu organisieren und unsere Klasse zu vereinen, um es zu stürzen. Das ist der Kompass der Révolution Permanente leitet, mit dem Ziel, zum Wiederaufbau einer revolutionären Partei der Arbeiter:innen beizutragen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf unserer französischen Schwesterseite Révolution Permanente.
Fußnoten
- 1. Die Kommunistische Internationale beendete damals die ultralinke Politik der „dritten Periode“, die jede Aktionseinheit zwischen den Kommunistischen Parteien und den sozialistischen Kräften ablehnte und die Hitlers Sieg in Deutschland ohne eine umfassende Antwort der am besten organisierten Arbeiter:innenklasse Europas ermöglichte.
- 2. Die Verwirrung in diesem Punkt ist bei Olivier Besancenot vollkommen, der nicht nur „Einheitsfront“ mit Wahlfront verwechselt, sondern auch die heutige Sozialistische Partei, die mit ihrer neoliberalen Wende jeden Arbeiter:innencharakter verloren hat, mit der Sozialdemokratie des frühen 20. Jahrhunderts gleichzusetzen scheint, die trotz all ihres Verrats noch eine sehr solide Arbeiter:innenbasis besaß, indem er erläutert: „In den Debatten der Kommunistischen Internationale 1922/23, zu einem Zeitpunkt, als sich die deutsche Revolution in einer absteigenden Phase befand, spürten die deutschen Revolutionär;innen, dass man sich nicht mehr auf einer treibenden Welle befand und dass man dem Proletariat auf die eine oder andere Weise wieder Vertrauen einflößen musste. Es gab dann diesen Vorschlag einer Einheitsfront, das heißt, deutsche Kommunisten, die sich an die deutsche Sozialdemokratie wandten. Die deutsche Sozialdemokratie war 1922/23 nur zwei oder drei Jahre nach der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg entstanden, und sie waren dafür verantwortlich. Wir müssen uns also Gewalt antun.“
- 3. Zur Erinnerung: 1999 erhielt die gemeinsame Liste LO-LCR bei den Europawahlen 5,18 Prozent der Stimmen und 5 Sitze im Europäischen Parlament. Drei Jahre später erhielten Arlette Laguiller und Olivier Besancenot 5,72 Prozent bzw. 4,25 Prozent der Stimmen, was mehr als 2,8 Millionen Stimmen entsprach.
- 4. Aufschlussreich ist, dass auf ein so wesentliches Thema wie die kriegerische Eskalation im Wesentlichen auf dem Gebiet der Verteidigung der Interessen des französischen Imperialismus und seiner Macht- und Herrschaftshebel einerseits und auf dem der hilflosen und illusorischen Appelle an das Recht und die internationalen Institutionen (die selbst Teil des imperialistischen Weltsystems sind) andererseits angesiedelt sind.