Theater als Ort des Erinnerns: Der Fall Halim Dener

30.06.2023, Lesezeit 8 Min.
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Foto: Kerstin Schomburg/ Staatstheater Hannover (l. n. r. Servan Durmaz, Şafak Şengül, Sebastian Brandes)

Eine Recherchearbeit an den Münchner Kammerspielen und dem Staatstheater Hannover diskutiert den Polizeimord an dem kurdischen Aktivisten Halim Dener. Eine politische Theaterkritik.

Die politische Kraft des Theaters zeigt sich in Ayşe Güvendirens Recherchearbeit Die Geschichte von Goliat und David, die am 22. April 2023 im Schauspielhaus Hannover Premiere hatte. Es handelt sich um ein von Güvendiren recherchiertes dokumentarisches Stück in der Uraufführung, das gleichzeitig eine Kooperation zwischen den Münchner Kammerspielen und dem Staatstheater Hannover ist. Über einen anderthalbstündigen Abend hinweg begleiten uns die Schauspieler:innen Şafak Şengül, Servan Durmaz, Sebastian Brandes und der Musiker Mikaîl Ezîz, der Musik in türkischer und kurdischer Sprache live performt. Kernstück ist die Verflechtung der biblischen Sage Goliat gegen David mit dem Tod des 16-jährigen kurdischen Aktivisten Halim Dener.

Halim Dener wurde 1994 von einem zivilen SEK-Beamten am Steintorplatz in Hannover erschossen. Nur zwei Monate zuvor war er vor den Repressionen des türkischen Staates gegen ihn als kurdischen Aktivisten geflohen, nachdem das türkische Militär sein Heimatdorf angegriffen und ihn und andere gefoltert hatte. Der 16-Jährige kam daraufhin als Asylsuchender nach Hannover. Dort wurde er wieder politisch aktiv und setzte sich gegen das 1993 erlassene Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ein. Halim Dener ist ein Symbol für die kurdische Bewegung in Deutschland. Deutschland war in den frühen 1990ern geprägt von Rassismus gegen migrantisierte Personen, die sich durch eine Vielzahl an deutschlandweiten Mord- und Brandanschlägen, wie beispielsweise in Rostock-Lichtenhagen und Mölln 1992 und durch den Asylkompromiss von 1993 zeigen. Zusätzlich wurde 1993 die PKK von der Bundesregierung als Terrororganisation eingeordnet. Deners Fall vereint die Repression gegen Kurd:innen in der Türkei und in Deutschland, die Polizeigewalt und die ungleiche Verteilung von Macht auf die Herrschenden.

Klug verknüpft von Regisseurin Ayşe Güvendiren kann man in diesem Stück beobachten, wie sich je nach Interpretation der Sage um Goliat und David der Blickwinkel auf den Mythos verändert. Wir bekommen verschiedene Versionen vorgestellt. Es beginnt mit der Fassung, die wir kennen: Goliat, der unbezwingbare Riese gegen den kleinen Hirtenjungen David – Goliat, bewaffnet mit Panzer und Speer gegen David, antretend mit einer einfachen Steinschleuder. David besiegt den drei Meter großen Riesen mit nur einem einzigen Schuss aus seiner Schleuder und einem Treffer direkt auf die Stirn. Die Darsteller:innen konfrontieren uns nun im Laufe des Abend immer wieder mit Fragen: Hat David fair gekämpft in einem Zweikampf, der für den Nahkampf ausgerichtet war? War es „korrekt“, den jungen Hirten in einen Zweikampf zu schicken, den er mit den Mitteln, die dafür vorgesehen waren, nie hätte gewinnen können? Gewann David durch Klugheit oder durch List?

Wir bekommen in einem parallelen Spiel zu den drei Versionen des Mythos eine Analogie zum Fall Dener aus der Perspektive seiner Familie, der Polizei und der Öffentlichkeit. Weder die Texte, noch die Darsteller:innen sind dabei wütend oder anklagend. Eine klare Positionierung und politische Einordnung ist dennoch erkennbar. Die erste Berührung mit dem Stoff, den wir als Zuschauende bekommen, sind die Reaktionen der Öffentlichkeit auf das Vorhaben der Regisseurin, ein Stück zum Fall Dener machen zu wollen. Allgemeines Abraten, sowohl vonseiten der Familie, die Angst um ihre Tochter hat oder gesellschaftliche Ächtung durch die prokurdische Positionierung befürchten. Ebenso die Theatermacher:innen in führenden Positionen, die nicht riskieren wollen, sich politisch angreifbar zu machen. Gleichzeitig gibt es vereinzelte Stimmen des Zuspruchs. Doch wird der Zugang zu Informationen über den Fall durch deutsche Behörden zusätzlich erschwert, da sie den Bruder Deners, wie auch den Rest der Familie, öffentlich kriminalisieren und verfolgen. Die Darsteller:innen diskutieren: War er Terrorist oder Freiheitskämpfer? Ein Opfer deutscher Behörden oder ihr erklärter Feind? Eins steht fest: Er ist tot. Erschossen von einem SEK-Beamten in Zivil.

Die Dramaturgie des Abends zieht in den Bann. Der Abend startet mit einem Klagelied, geht über in die „Sage“ Goliats und Davids, die geschickt durch das simple und dadurch umso eindrucksvollere Bühnenbild untermalt wird. Zu sehen ist eine Drehbühne, wie eine Art Karussell, mit wechselnden offenen und verschlossenen Elementen, die Video-Projektionen und Übertitel zeigen. Am Kopf des Karussells zeigt die Installation von Theresa Scheitzenhammer durch pinke Neonlettern, in welchem thematischen Komplex wir uns befinden. Immer wieder erscheinen Aussagen wie Blitzlichter, unter „Sagen Sie“ und „Sie“, die die Widerstände zeigen, denen Güvendiren ausgesetzt war. Unter „Sag“ bekommen wir den Fall Dener geschildert. „Nie sagen“ lässt uns tiefer in den Fall eintauchen und zeigt vor allem die Dimension der Macht und Angst, die eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Fall mit sich bringt. Şafak Şengül und Servan Durmaz wechseln sich ab in ihren Negationen darüber, was das Regie-Team alles „nicht“ innerhalb der Recherchearbeit herausgefunden und erlebt hat. Durch den Schutz des „Nichts“ wird die Fallhöhe dessen, was wir über die Widerstände und die radikale Zurückweisung, die die Familie Dener erfahren muss und musste, nur noch größer. Gegen sichtbaren Widerstand, auch auf der Bühne ankämpfend, wird das Karussell immer weiter gedreht, der Fall immer weiter erzählt. Das Drehen des Karussells dabei als Metapher des Sich-im-Kreis-Drehens. Ein Teufelskreis, in dem für Dener und seine Familie sowohl in der Türkei als auch in Deutschland kein ziviles Leben möglich war und ist.

In überzeichnender Form stellen uns die Darsteller:innen im letzten Drittel des Stücks die aufgezeichneten Gespräche der Polizist:innen nach dem Mord an Dener nach. Ohne in eine Karikatur oder ein Klischee zu verfallen, zeigt uns Sebastian Brandes aus der Sicht des SEK-Beamten, wie sich der Fall ereignet haben soll. Şafak Şengül spielt dabei den Vorgesetzten des Beamten und schafft es in einer ironischen Überzeichnung die Absurdität der vom SEK-Beamten geschilderten Version des Falles darzustellen, ohne sie ins Lächerliche zu ziehen. Die Kehrtwende im Fall: Es werden originale Fernsehnachrichten zu dem Fall Dener gezeigt, die kurz nach der Veröffentlichung der Version des Beamten ausgestrahlt wurden. Der Schuss, entgegen der Schilderung des Täters, er habe sich beim Sichern der aus dem Holster gefallenen Waffe gelöst, fiel aus wenigen Zentimetern Distanz. Auch die Behauptung des Beamten, ein Schuss könne „aus Versehen“ fallen, da für einen Schuss lediglich 300 Gramm Zugwiderstand zu überwinden wären, wird widerlegt. Es braucht für einen Revolver von Smith&Wesson nach Experteneinschätzung etwa 4,3 Kilogramm, die zu überwinden sind, um einen Schuss abzufeuern. Das Motiv, man habe Dener bei illegalen Aktivitäten des Plakatierens von prokurdischer Propaganda erwischt und zur Verantwortung ziehen wollen, der Schuss sei nur ein unglücklicher Unfall gewesen, ist hinfällig. Was hier stattgefunden hat, ist ein Produkt des strukturell tief verankerten Hasses und der rassistischen Strukturen innerhalb unserer Gesellschaft, die sich durch die Terrorisierung der PKK und der Verfolgung ihrer Anhänger:innen in ganz Europa zuspitzt. Denn selbst heute noch, fast 30 Jahre nach Dener, fordert die Türkei von Schweden und Finnland für ihren NATO Beitritt die Auslieferung der dort lebenden PKK-Mitgliedern.

Am Ende des Abends leuchten pink die Lettern „Sieg“ – Sieg für wen? Den mächtigen Goliat als Metapher eines ausgeklügelten Polizeiapparats? Oder Sieg für David, der zwar schwächer und kleiner erscheint, jedoch durch sein „entgegen der Regeln“ spielen den mächtigen Goliat besiegt hat. Ist es ein Aufruf? Ist es eine Aufforderung, sich gegen die mächtig Scheinenden zu verbünden und sich nicht von ihnen klein halten zu lassen? Was ist die Konsequenz, die wir aus einem solchen Theaterabend ziehen sollten?

Im Programmheft wird die Frage gestellt: „Wie politisch sind unsere Erinnerungen?“. Ich finde, wir sollten diese Auseinandersetzung weiter fassen, bei einer politischen Erinnerungskultur allein kann es nicht bleiben. Eine Bewältigung des tief verankerten Hasses gegen Kurd:innen und andere marginalisierte, migrantische Gruppen ist im Kapitalismus nicht möglich. Die Wucht der Ablehnung, der Leugnung und der Kriminalisierung, der Kurd:innen international ausgesetzt sind, wird sich durch reine Aufklärungsarbeit nicht aufheben lassen. Abende wie dieser sind wichtig und nötig, um Sichtbarkeit und eine Erinnerungskultur zu schaffen, die Missstände aufzeigt und die Struktur, die das Ganze hat, sichtbar werden lässt. Doch sollte solch ein Theaterabend vor allem dazu dienen, sich weiterzubilden und gegen solche Strukturen aktiv zu kämpfen, sich zu organisieren und Strategien zu entwickeln, um gegen Rassismus und Polizeigewalt vorzugehen.

Der angeklagte SEK-Beamte wurde 1997 vom Landgericht Hannover freigesprochen.

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