Terry Eagleton im Interview: „Was kommt nach dem Postmodernismus?“
Der britische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton spricht mit Left Voice über Literaturtheorie, ihre Verbindung mit politischen und geschichtlichen Strömungen, über den Rückzug des Postmodernismus und die Hartnäckigkeit des Marxismus.
In Ihrem Buch ‚The Event of Literature‘ (2012) behaupten Sie, dass die Literaturtheorie sich seit zwanzig Jahren im Niedergang befindet und dass historisch betrachtet eine starke Beziehung zwischen Verschiebungen in der Theorie und sozialem Konflikt besteht. Erreicht die Theorie ihren höchsten Punkt während Perioden des Aufruhrs?
Die Literaturtheorie erreichte ihren Höhepunkt ungefähr als die politische Linke sich im Aufstieg befand. Es gab einen Ausbruch solcher Theorie in der Periode von circa 1965 bis Mitte oder Ende der 1970er, was mehr oder minder mit der Zeit einer militanteren und selbstbewussteren Linken zusammenfällt. Ab den 1980ern begannen diese theoretischen Auswüchse mit der zunehmenden Festigung des fortgeschrittenen post-industriellen Kapitalismus dem Postmodernismus zu weichen, welcher, wie Fredric Jameson angemerkt hat, neben anderen Dingen auch die Ideologie des Spätkapitalismus ist.
Radikale Theorie ist mit Sicherheit nicht verschwunden, aber sie wurde an den Rand gedrängt und verlor nach und nach ihre Beliebtheit unter Studierenden. Die großen Ausnahmen dazu waren der Feminismus, der auch weiterhin eine Menge Aufmerksamkeit erhält, und der Postkolonialismus, der nach wie vor so etwas wie eine Wachstumsbranche ist.
Man sollte daraus nicht schließen, dass Theorie an sich radikal ist. Es gibt viele nicht-radikale Formen der Literatur- und Kulturtheorie. Doch Theorie als solche stellt einige fundamentale Fragen – fundamentaler als routinierte Literaturkritik. Während eine solche Kritik fragen könnte, „Was bedeutet der Roman?“, fragt die Theorie, „Was ist ein Roman?“
Theorie ist außerdem eine systematische Reflexion über die Annahmen, Vorgänge und Konventionen, die eine soziale oder intellektuelle Praxis bestimmen. Sie ist sozusagen der Punkt, an dem die Praxis in eine neue Form des Nachdenkens über sich selbst gezwungen wird und sich dabei selbst als ein Objekt der eigenen Untersuchung heranzieht. Das hat nicht notwendigerweise subversive Effekte, aber es mag bedeuten, dass die Praxis sich selbst transformieren muss, nachdem sie einige zugrundeliegende Annahmen auf eine neue kritische Art betrachtet hat.
In ‚The Ideology of the Aesthetic‘ (1990) beschreiben Sie das Konzept der Literatur als junges Phänomen, das als Rückzugsort für stabile Werte in unsicheren Zeiten aufkam. Sie weisen aber auch darauf hin, dass Ästhetik eine Art der Internalisierung von sozialen Werten sowie ein Mittel zur Visualisierung von Utopien und des Hinterfragens der kapitalistischen Gesellschaft ist. Spielt die Kunst diese widersprüchliche Rolle auch noch in der Gegenwart?
Sowohl das Konzept der Literatur als auch die Idee der Ästhetik sind tatsächlich politisch zweischneidig. Es gibt Formen, in denen Literatur und Ästhetik mit den herrschenden Mächten konform gehen und es gibt Formen, die die Herrschenden herausfordern – eine Mehrdeutigkeit, die auch auf viele einzelne Kunstwerke zutrifft.
Das Konzept der Literatur datiert aus einer Periode, in der es die gefühlte Notwendigkeit gab, gewisse kreative und erfindungsreiche Werte vor einer zunehmend philisterhaften, mechanistischen Gesellschaft zu schützen. Es ist mehr oder weniger in seiner Geburt mit dem Aufkommen des industriellen Kapitalismus verknüpft. So konnte sie als eine kraftvolle Kritik dieser sozialen Ordnung auftreten. Umgekehrt distanzierte sie das vom alltäglichen sozialen Leben und bot hin und wieder einen imaginären Ausgleich. Das heißt, die Literatur verhielt sich stets ideologisch.
Die Ästhetik traf ein ähnliches Schicksal. Einerseits sorgte die sogenannte Autonomie des ästhetischen Artefakts für ein Bild der Selbstbestimmung und der Freiheit in einer autokratischen Gesellschaft, während es deren abstrakte Rationalität durch ihre sensorischen Natur herausforderte. In diesem Sinn konnte sie utopisch sein. Gleichzeitig war diese Selbstbestimmung jedoch unter anderem das Bild eines Subjekts der Mittelschicht, keinen Gesetzen unterworfen als den eigenen.
Natürlich existieren diese Mehrdeutigkeiten bis heute. In fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften, wo schon die Idee der Geisteswissenschaften bedroht ist, ist es wichtig das Studium der Kunst und Kultur zu fördern, eben weil sie keinen unmittelbaren, pragmatischen Zweck haben. Bis zu diesem Ausmaß stellen sie die utilitaristischen, instrumentalistischen Rationalitäten von Regimes infrage. Das ist der Grund dafür, dass der Kapitalismus keine Zeit für sie hat sogar Universitäten sie jetzt verbannen wollen.
Auf der anderen Seite verortet das sozialistische Denken Kunst und Kultur nicht in den zentralen Orten der Kämpfe. Kultur, im alltäglichen Wortsinn, ist der Ort, wo sich Macht ablagert, sich einbettet. Ohne das ist sie zu harsch und abstrakt, um weitreichende Gefolgschaft zu gewinnen. Und trotzdem liegt der postmoderne Kulturalismus falsch darin zu glauben, dass es die Kultur ist, die den menschlichen Angelegenheiten zugrunde liegt. Menschen sind zuallererst natürliche, materielle Tiere. Sie sind die Art von Tieren, die die Kultur (im weiteren Sinne) brauchen, um zu überleben; das liegt in ihrer materiellen Natur als Gattung begründet, also was Marx das „Gattungswesen“ nennt.
In ‚The Event of Literature‘ (2012) entwickeln Sie die Idee des literarischen Werks als „Strategie“ – eine Struktur, die von ihrer Funktion als besondere Art der „Antwort“ auf von der sozialen Realität gestellte Fragen bestimmt wird. Wie kann diese Definition eines literarischen Werks mit der „Autonomie“ des Werks als selbstbestimmtes Phänomen versöhnt werden?
Ich glaube nicht, dass es notwendigerweise irgendeinen Widerspruch zwischen Strategie und Autonomie gibt. Eine Strategie selbst kann in dem Sinne autonom sein, als sie distinktiver Teil einer Aktivität ist, deren Regeln und Vorgänge ihr eigen und innerlich sind. Das Paradox des Kunstwerks besteht darin, dass es sich tatsächlich mit etwas beschäftigt, das außerhalb von ihm existiert, nämlich Problemen in der sozialen Realität. Aber das Kunstwerk ist auch in dem Sinne „autonom“, als es diese Probleme in seine hochgradig eigenen Begriffe aufarbeitet oder rückübersetzt. In diesem Sinne endet, was als extern oder heteronom gegenüber dem Werk beginnt, als innerer Teil von ihm.
Ein realistisches Werk muss die heteronome Logik seines Materials respektieren. Es kann nicht einfach beschließen, dass New York in der Arktis liegt, wie es vielleicht ein modernistisches oder postmodernistisches Werk behaupten mag. Aber gleichzeitig muss ein realistisches Werk die äußere Realität in seine eigene, sich selbst regulierende Struktur einbeziehen.
Sie weisen darauf hin, dass postmoderne und poststrukturalistische Theorien zu „anti-essentialistischen Fundamentalismen“ geführt haben und damit genau jene „Fundamentalismen“ widerspiegeln, die sie zu unterminieren versucht hatten. Bleiben postmoderne Definitionen im kulturellen und ideologischen Diskurs dominant oder hat eine neue Situation der kapitalistischen Krise und des begrenzten Wiederauflebens des Klassenkampfes neue Theorien entstehen lassen, die nicht theoretisch oder sozial skeptisch sind?
Der Postmodernismus will sich gegen den erkenntnistheoretischen Fundamentalismus wenden, soll anti-essentialistisch sein. Nun könnte aber behauptet werden, dass er lediglich bestimmte traditionelle Grundlagen durch eine neue ersetzt: Kultur. Für den Postmodernismus ist mit der Kultur der Ort erreicht, an dem man nicht tiefer graben kann, weil man sich dazu der Kultur (Konzepten, Methoden und so weiter) bedienen müsste. Insoweit könnte man sagen, dass dieser Anti-Essentialismus erschwindelt ist. Auf alle Fälle kommt es darauf an, was man unter Grundlagen versteht. Nicht alle Grundlagen müssen metaphysisch sein. Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit einer pragmatischen Grundlage, die im späteren Wittgenstein zu finden ist.
Zur Frage, inwieweit der postmoderne Diskurs heutzutage noch dominant ist, würde ich sagen, sehr viel weniger. Seit dem 11. September haben wir die Ausbreitung einer neuen und recht alarmierenden „großen Erzählung“ erlebt, gerade als es selbstzufrieden hieß, dass diese „großen Erzählungen“ überkommen seien. Eine „große Erzählung“, der Kalte Krieg, war tatsächlich vorüber, aber sie war, verbunden mit den Gründen für den Sieg des Westens in diesem Kampf, nicht eher zu Ende gegangen, als eine andere in Gang kam. Den Postmodernismus, der geurteilt hatte, dass die Geschichte nun post-metaphysisch, post-ideologisch, sogar post-historisch sei, traf das völlig unvorbereitet. Und ich glaube, er hat sich davon nicht wieder erholt.
Sie diskutieren die Beiträge und Defizite verschiedener im 20. Jahrhundert entwickelter Literaturtheorien. Die marxistische Perspektive scheint in ihrer Darstellung ein bedeutendes Gewicht zu haben. Ist diese Tradition auf dem Feld der Literaturtheorie noch so produktiv wie in anderen Bereichen?
Die kurze Antwort auf die Frage, ob es neue kritische Beiträge des Marxismus zur Literaturtheorie gibt, ist nein. Der historische Kontext ist nicht der richtige für solche Entwicklungen. Das Werk von Frederic Jameson, der für mich der weltweit herausragendste Kritiker, schreitet voran. Er wartet mit einem brillanten Buch nach dem anderen in einer Zeit auf, in der viele andere, wohlbekannte Kritiker still geworden sind.
Aber es gibt keinen neuen Korpus an marxistischer Kritik. Und in Anbetracht der ungünstigen historischen Umstände ist das auch kaum zu erwarten. Nichtsdestoweniger ist der Marxismus ganz sicher nicht verschwunden, wie es – auf recht mysteriöse Weise – dem Poststrukturalismus und vielleicht sogar dem Postmodernismus passiert ist.
Das liegt vor allen Dingen daran, dass der Marxismus viel mehr ist als eine kritische Methode. Er ist eine politische Praxis und falls es eine große Krise des Kapitalismus gibt, ist es unvermeidlich, dass er noch immer mitschwingen wird. Das gilt auch für den Feminismus, dessen kritischer Höhepunkt schon einige Jahrzehnte hinter uns liegt, aber welcher in modifizierter Form überlebt hat, weil die angesprochenen politischen Probleme so wesentlich sind. Theorien kommen und gehen. Und solange das der Fall ist, wird es immer eine Art der intellektuellen und künstlerischen Antwort darauf geben.
dieses Interview auf Englisch bei Left Voice