Teil-Lockdown in Deutschland: Eingriffe ins Private, kein Geld für das Gesundheitssystem
In einer Pressekonferenz heute Nachmittag hat die Bundeskanzlerin Merkel die neuen Corona-Maßnahmen angekündigt, die von Bund und Länder beschlossen wurden. Die Regierungen halten an ihrem unternehmensfreundlichen Kurs auf Kosten unserer Gesundheit fest.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich heute nach der Sitzung der Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten der Länder getroffen. Das Ziel war es, bundesweit härtere Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie zu beschließen. Im Vorfeld des Gipfels gab es seitens unterschiedlicher Länder sowohl Stimmen für härtere Maßnahmen als auch gegen einen Lockdown. Zuvor hatten Virolog:innen für einen zeitlich begrenzten Lockdown appelliert.
Die Infektionszahlen haben sich binnen eine Woche verdoppelt, sodass das Robert-Koch-Institut am Mittwochmorgen 15.000 neue Infektionen meldete. Dies gilt als ein Rekord seit dem Beginn der Corona-Pandemie, nicht nur bezogen auf die Anzahl der Neuinfektionen, sondern auch auf den Prozentsatz positiver Testergebnissen. Falls die Infektionszahlen die Marke 28.000 übersteigen, werde es laut Expert:innen nicht mehr möglich sein, ausreichend Tests durchzuführen oder ausreichend Intensivbetten zur Verfügung zu stellen. Bereits heute ist bei 75 Prozent der Infektionen unbekannt, wie die Patient:innen sich angesteckt haben.
Wie sehen die Maßnahmen aus?
Am Nachmittag kündigte Merkel in einer Pressekonferenz an, dass Bund und Länder sich auf folgende Maßnahmen einigen konnten, die ab 2. November, also ab kommenden Montag, vorerst bis Ende November bundesweit in Kraft treten sollen:
- Gastronomiebetriebe wie Bars, Clubs und ähnliche Betriebe sollen geschlossen bleiben. Lieferungen sind weiterhin erlaubt.
- Touristische Übernachtungsmöglichkeiten im Inland sind bis Ende November verboten. Private Reisen werden ebenfalls eingeschränkt.
- Jegliche Vergnügungsveranstaltungen sollen abgesagt werden. Darunter sind Kulturbetriebe, Kinos, Theater sowie Sportanlagen.
- Schulen und Kitas bleiben vorerst offen. Ab einem bestimmten Punkt könne man sie jedoch wieder ganz schließen.
- Der Aufenthalt in der Öffentlichkeit ist nur mit dem eigenen Haushalt oder mit Personen eines weiteren Haushaltes möglich.
Einschränkungen des Privaten, mehr Rechte für die Polizei
Zuerst einmal können wir feststellen, dass die allergrößte Mehrheit der Maßnahmen Einschränkungen für die Privatsphäre der Bevölkerung darstellen. SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach fordert sogar, dass die Polizei das Recht bekommen soll, private Wohnungen zu kontrollieren.
Dies bedeutet eine Erweiterung der Rechte der Polizei, Bußgelder zu schreiben, sowie in die Privatsphäre einzudringen. In den vergangenen Wochen sahen wir, dass Polizeieinsätze nicht den Zweck hatten, gegen Covid-19 vorzugehen, sondern sich vor allem gegen Arbeiter:innen, Migrant:innen oder auch gegen Queere Menschen richteten.
Wenn man sich auf die Situation in Spanien oder anderen Ländern anschaut, wo ein „nationaler Notstand“ ausgerufen wurde und das Militär auf den Straßen eingesetzt wird, kann man sehen, wie die Staaten diese Maßnahmen gegen soziale Proteste einsetzen. Besonders die Notstandsgesetze in Deutschland, die in einem Extremfall Einsatz finden können, würden viele demokratische Rechte wie das Streikrecht und andere einschränken.
Wir brauchen nicht die Polizei, um in unseren Nachbarschaften und Bezirken Maßnahmen zu kontrollieren. Die Corona-Pandemie darf nicht als Anlass genommen werden, die Straßen zu militarisieren sowie der rassistischen Polizei mehr Rechte zu geben. Alle Maßnahmen sollen von den Einwohner:innen der Bezirken selbst kontrolliert und durchgesetzt werden. Dafür können Nachbarschaftsversammlungen stattfinden, die Beauftragte wählen, die diese Rolle übernehmen können.
Ebenfalls könnten diese Nachbarschaftsversammlungen Forderungen nach einem Mietstopp aufstellen, um trotz der Lohneinbußen durch Kurzarbeit und Entlassungen weiter wohnen zu können. Zwangsräumungen müssen gestoppt, Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen in Berlin als eine Maßnahme gegen die Auswirkungen von Corona auf dem Wohnungsmarkt entschädigungslos enteignet werden.
Arbeiter:innen werden bestraft, während Großunternehmen weiter Profite machen
Die Frage ist: Bringt es überhaupt etwas, an diejenigen Bußgelder zu verteilen, die ihre Leben auf Arbeit ohnehin riskieren müssen, während Großunternehmen Schutzmaßnahmen nicht einhalten, sodass es zu Ansteckungen auf der Arbeit kommt, wie es im Frühjahr in Tönnies der Fall war, oder jetzt in einem weiteren Schlachtbetrieb in Niedersachsen.
Laut der Entscheidung der Regierung sollen Schulen im November vorerst offenbleiben. Jedoch können über 100.000 Klassenräume gar nicht gelüftet werden, weshalb die Anschaffung von Filteranlagen notwendig ist. Damit der Unterricht mit so wenig Infektionsmöglichkeit wie möglich laufen kann, sollten alle Klassenzimmer mit solchen Geräten gestattet werden, was maximal 1 Milliarde Euro kosten würde. Eine Summe, die im Vergleich zu den Hunderten Milliarden Euro Hilfen für Großunternehmen winzig ist.
So läuft das Argument der Regierung, dass solche Anlagen zu viel Geld Kosten würden, ins Leere, wenn wir an die 9 Milliarden Euro denken, die an Lufthansa geflossen sind. Anstatt bei Schutzmaßnahmen in Schulen und Krankenhäusern zu sparen, brauchen wir eine progressive Steuer auf Großvermögen, um die Kosten der Krise zu finanzieren.
Während das Private eingeschränkt wird, gehen Millionen von Arbeiter:innen unter unzureichenden Schutzmaßnahmen weiter zur Arbeit und riskieren ihre Leben für die Profite der Großunternehmen. Alle Betriebe, die nicht-essentielle Güter produzieren, könnten während der Pandemie-Zeit entweder ihre Produktion auf notwendige Güter umstellen oder geschlossen bleiben, mit der Garantie für alle Beschäftigten, vollen Lohnausgleich zu bekommen, die vom Vermögen der Großunternehmen finanziert werden. Dasselbe gilt für alle Menschen, die in Quarantäne gehen oder andere Menschen pflegen müssen.
Seit Anfang der Krise haben über 600.000 Menschen ihre Arbeit verloren. Es braucht ein allgemeines Entlassungsverbot für Großbetriebe wie Galeria-Karstadt-Kaufhof, die trotz Staatshilfen ihre Beschäftigte entlassen. Um Entlassungen zu verhindern, könnte man das Vermögen der Aktionäre dieser Unternehmen verwenden, die auf dem Rücken der Beschäftigten dieses Vermögen akkumuliert haben.
Besonders jetzt mit den neuen Maßnahmen, die vor allem Gastronomie, Tourismus und Kultur betreffen, braucht es ein Entlassungsverbot. Für alle Menschen, die in Deutschland leben und die in Exstenznot geraten, braucht es unabhängig von ihrem Status ein Notfall-Corona-Geld.
Gesundheit statt Profite
Ab 50 Neuinfektionen je 100.000 Menschen ist es für die Gesundheitsämter nicht mehr möglich, Kontaktverfolgung durchzuführen und Maßnahmen zu ergreifen. Nicht nur löst diese Situation eine Überlastung der Beschäftigten im Gesundheitssystem aus, sondern gefährdet das Leben von Hunderttausenden, falls die Pandemie in Deutschland außer Kontrolle gerät.
Der Hauptgrund für diese Situation im Gesundheitssystem und Gesundheitsämtern ist die Kürzungspolitik der Bundes- und Landesregierungen in den vergangenen Jahren. So wurde immer weniger Personal eingestellt, Aufgaben verdichtet, Krankenhäuser zu profitorientierten Betrieben umwandelt und durch Outsourcing privatisiert.
Für die Regierungen war es wichtiger, die Vermögenssteuer abzuschaffen und die Reichen zu entlasten, als massive Investitionen in das Gesundheitssytem zu tätigen.
Auch in der aktuellen TVöD-Runde sehen wir, dass die Regierung und die Bosse den Beschäftigten so wenig Geld wie möglich geben wollen, geschweige denn, das Personal massiv aufzustocken. Das alles wird ironischerweise mit der Pandemie begründet, während genau während der Pandemie die größten Investitionen in das Gesundheitssystem gemacht werden müssten. Die Regierung sagt praktisch, dass während der Pandemie das Geld für die Hilfen für Aktionär:innen gebraucht wird, wie bei Lufthansa, anstatt für unsere Gesundheit.
In einem Gesundheitssytem, das vollständig verstaatlicht und mit massiven Investitionen in Personal, Betten und Arbeitsbedingungen ausgestattet wird, wäre die Bekämpfung der Pandemie viel effektiver. Dafür müssten alle ausgelagerten Tochterunternehmen eingegliedert, die zwei-Kassen-System sowie das Fallpauschalen-System abgeschafft werden. Alle Maßnahmen der Krankenhäuser sollen von Komitees von Beschäftigten und Patient:innen selber kontrolliert werden.
Kampfplan gegen die Krise
Aktuell sind über 3,3 Millionen Arbeiter:innen in Kurzarbeit und haben finanzielle Schwierigkeiten wegen Lohneinbußen. Über eine halbe Million Menschen haben wegen Entlassungen ihre Arbeit verloren und müssen mit Arbeitslosengeld durch die Wirtschaftskrise auskommen.
In den Krankenhäusern droht es zu einer Überlastung zu kommen, falls die Infektionszahlen in dem aktuellen Trend weitergehen, während die Regierung gegen die Streiks Beschäftigten des öffentlichen Dienst (TVöD) gehetzt und ihre Forderungen als „übertrieben“ abgekanzelt hat.
„Übertrieben“ sind nicht die Forderungen der arbeitenden Bevölkerung, sondern die Subventionen für Großaktionär:innen und die unternehmensfreundliche Politik der Regierung, die unsere Gesundheit aufs Spiel setzt.
Wir brauchen einen Kampfplan der Gewerkschaften gegen die Krise und die Politik der Regierung:„Inmitten einer Krise, die nicht nur eine Pandemie ist, sondern die größten Krise des Kapitalismus seit Jahrzehnten, können sich die Organisationen der Arbeiter:innenklasse und der Linken nicht auf die Routine von Tarifrunden oder noch schlimmer auf den Burgfrieden der nationalen Einheit zurückziehen, die nicht nur einen Verzicht des Kampfes darstellen, sondern die Arbeiter:innenklasse und die Unterdrückten ohne Verteidigung zurück lassen. Eine Verteidigung, die angesichts der kommenden Einschnitte, die im Zuge der Krise von den Herrschenden gefordert werden, bitter nötig wäre. Wenn wir uns nicht jetzt organisieren, um unser Leben gegen die Pandemiepolitik der Regierung und der Konzerne zu verteidigen, und unsere Arbeits- und Lebensbedingungen gegen die zu erwartende Kahlschlagpolitik zu verteidigen, werden Millionen Menschen ins Elend gestürzt werden. Dies ist der Nährboden, auf dem die extreme Rechte sich aufbauen kann. Nur mit einem sozialen Programm gegen Pandemie und Krise, organisiert ausgehend von der Basis der Organisationen der Arbeiter:innenklasse, kann eine alternative Perspektive möglich sein.“