Teil II: Die Erfahrungen in Rojava und die revolutionäre Strategie
Im zweiten Teil unserer Artikelreihe beschäftigen wir uns mit den Perspektiven des kurdischen Widerstandes.
Rojava hat sich nicht im Auftrag der USA bewaffnet
Die kurdische Bewegung hat sich nicht bewaffnet, um im Auftrag der USA den islamistischen Terror zu bekämpfen. Der Wunsch nach Selbstverwaltung ist hier der entscheidende Punkt. Denn die nationale Selbstbestimmung ist ein fundamentaler Übergang zur Befreiung aus der nationalen Unterdrückung. Darin sehen die unterdrückten Nationen die Möglichkeit der Gleichberechtigung. Um ihre Selbstverwaltung zu verteidigen, haben die Rojava-Milizen YPG/YPJ den IS geschlagen. Wir verteidigen die militärischen Erfolge von Rojava und fordern den Rückzug aller ausländischen Armeen aus dem gesamten Syrien und Rojava. Das Assad-Regime will die Volksverteidigungseinheiten von Rojava entwaffnen. Hiermit würde Rojava dem Assad-Regime untergeordnet werden. Wir unterstützen das Recht auf Selbstbestimmung, die Selbstverwaltung und ihre Armee.
Es stellt sich selbstverständlich die Frage, ob der IS wiederaufgebaut oder eine neue Formation der islamistisch-dschihadistischen Gruppe auftauchen wird. Denn die von Bürger*innenkriegen und imperialistischen Angriffen ruinierten Gesellschaften und die wirtschaftliche Abhängigkeit der Länder sind immer noch entscheidende Faktoren, woraus der reaktionäre IS seine soziale Basis herauskristallisiert hat. Der IS profitierte von der Schwäche der irakischen Institutionen und Armee, gegen die US-Besatzung von 2003.
Der IS-Terror hat die „Straßen erobert“, als sich die revolutionäre Situation im gesamten Nahen Osten in eine konterrevolutionäre verwandelte. Doch dabei dürfen wir den militärischen Sieg über den IS und die demokratischen Errungenschaften in Rojava nicht außer Acht lassen. In der Mehrheit der Bevölkerung wurde der Sieg als Bruch mit der Frauenunterdrückung und den nationalistischen Reibungen empfunden. Über die Grenzen dieser Errungenschaften werden wir im Schlussteil eingehen.
Die Angst imperialistischer Staaten vor der „Gefahr des IS“ basiert auf der Annahme, die EU und USA hätten in Westasien verloren.
Die kurdische Bewegung mobilisierte nach Trumps Erklärung zur US-Militärbasis, um zwei Forderungen aufzustellen: Rojava soll zur Flugverbotszone deklariert und UN-Friedensmissionen sollen entsandt werden, um die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Trump versuchte die kurdische Bewegung in Rojava politisch zu mäßigen, d.h. die PKK zu marginalisieren. Demnach sollen sich die YPG und YPJ von der PKK organisatorisch und politisch abtrennen. Zuletzt hatte Washington im November ein Kopfgeld auf drei Führungsmitglieder der PKK ausgesetzt.
Auch wenn die kurdische Bewegung die Zusammenarbeit mit den USA als eine militärische Taktik zu erklären versucht, können wir die daraus entstandenen Abhängigkeitsmechanismen nicht ignorieren. Es gibt in Rojava zwei Luftstützpunkte und acht Militärbasen der USA. Aktuell scheint die kurdische Führung davon überzeugt zu sein, mit Assad eine militärische Einheit einzurichten, um die türkische Offensive abzuwehren. Sie verhandeln über die Bedingungen. Geht die kurdische Bewegung auf die Allianz mit Assad endgültig ein, müsste sie auf den Föderalismus und die Errungenschaften verzichten. Die PYD hat zwar immer wieder betont, dass sie die Einheit Syriens nicht in Frage stellt, doch Assad lehnt die Selbstverwaltung Rojavas ab und verlangt die Unterwerfung und Entwaffnung ihrer Exekutive.
Die Kompromisse an die westlichen bürgerlichen Staaten, um Anerkennung für „basisdemokratische Autonomie in Rojava“ zu bekommen, haben die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Veränderungen gehemmt.
Der soziale Inhalt der Macht
Die Erfahrungen mit dem „Gesellschaftsvertrag von Rojava“ offenbaren diese Hemmungen.
Zwei Aspekte davon werden uns helfen, diese Widersprüche zu konkretisieren.
- In der Präambel erklärt die demokratisch-autonome Verwaltung, „dass sie weder das nationalstaatliche, militaristische und religiöse Staatsverständnis, noch die Zentralverwaltung oder Zentralmacht akzeptieren.“ Im folgenden Satz beschreibt sie die Ordnung: „Die Regionen der demokratisch-autonomen Verwaltung sind offen für die Beteiligung aller ethnischen, sozialen, kulturellen und nationalen Gruppen mittels ihrer Vereinigungen sowie die darauf aufbauende Verständigung, die Demokratie und den Pluralismus.“
- Im Artikel 41 sehen wir die materielle Grundlage dieser Ordnung: „Das Recht auf Eigentum und Privateigentum wird geschützt. Niemand darf der Gebrauch des eigenen Eigentums verweigert werden. Niemand darf enteignet werden. Sollte das für das öffentliche Interesse doch notwendig sein, muss der Besitzer oder die Besitzerin entschädigt werden.“
Die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava haben die Blicke progressiver Kräfte weltweit auf sich gezogen. Das Modell, den Staat auf lokale Einrichtungen (Kooperativen in Dörfern, Städten und Nachbarschaften) zu reduzieren und dabei alle Entscheidungsgremien auf diese Institutionen zu übertragen, sei die basisdemokratische Alternative, um „jenseits vom Staat“ zu leben. Dieses Modell definiert Abdullah Öcalan als demokratischen Konföderalismus:
Diese Administrationsform kann als eine nichtstaatliche politische Administration oder als eine Demokratie ohne Staat bezeichnet werden. (…) Im Gegensatz zu einem zentralistisch-bürokratischen Verständnis von Verwaltung und der Ausübung von Macht stellt der Konföderalismus eine Art der politischen Selbstverwaltung dar, bei der sich alle Gruppen der Gesellschaft und alle kulturellen Identitäten auf regionalen Treffen, allgemeinen Versammlungen und in Räten äußern können.
Es wird von Rätestrukturen in Rojava gesprochen, die in der Tat kooperative Einrichtungen mit politischem Mandat sind. Diesbezüglich schreibt Shahrzad Mojab in ihrem Essay „Frauen und Revolution: Marxismus und Feminismus durchdenken“;
Die Forderung, dass ›radikale Demokratie‹ bei Fehlen des Staates praktiziert werde, wird durch die Tatsache konterkariert, dass die autonome Verwaltung in Rojava staatsförmig handelt; sie ist de facto der Staat. An ihrer Spitze steht eine sehr gut organisierte politische Partei; sie verfügt über eine gut organisierte Armee; sie besteht aus Organen der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung; sie unterhält diplomatische Beziehungen zu vielen Ländern; sie verfügt über Medien und z.B. über Satellitenfernsehen. Die Initiative der Partei der Demokratischen Union und der Zerfall des syrischen Staates haben dies möglich gemacht. Rojava ist als eine funktionierende autonome Region aus Krieg und Zerstörung hervorgegangen, weil ihre Führung in der Lage war, diese Region als Staat zu organisieren.
Im Grunde genommen experimentiert die Rojava-Verwaltung mit der Flexibilität der kapitalistischen Demokratie. Auch wenn derzeit, zehn Jahre nach Beginn der internationalen kapitalistischen Krise, mehrere Regierungen unabhängig der angenommenen parlamentarischen Formen die Interessen des Kapitals mit despotischen Mitteln durchsetzen, ändert der Demokratismus seinen grundlegenden Klassencharakter nicht. „Dieser Demokratismus ist jedoch durch den engen Rahmen der kapitalistischen Ausbeutung stets eingeengt und bleibt daher im Grunde genommen stets ein Demokratismus für die Minderheit, nur für die besitzenden Klassen, nur für die Reichen.“ (Lenin, Staat und Revolution)
Der Versuch, unabhängig von Eigentumsverhältnissen die harmonische Repräsentation aller Klassen (Großgrundbesitzer*innen, Kleinbürger*innen, Bäuer*innen, Land- und Industriearbeiter*innen) herzustellen, ist eine Dystopie für Rojava. Die voluntaristischen Erfahrungen der Zivilbevölkerung, der bürgerlichen Demokratie eine basisdemokratische Form einzugeben, stoßen an ihre Grenzen.
Revolution in Rojava?
Die türkischen und syrischen Staaten sehen in Rojava eine Ablehnung der zentralisierten eigenen Staatsmacht. Viele Kräfte, vor allem die kurdische Bewegung selbst, proklamieren die Entwicklungen in Rojava als Revolution.
Sprechen wir also von einer Revolution, brauchen wir zunächst eine Definition darüber: Am 17. Oktober 1905 schrieb Trotzki für die Zeitung Nasche Slowo (Unser Wort): „Die Revolution ist zunächst und vor allem eine Frage der Macht – nicht eine Frage der Staatsform (Verfassungsgebende Versammlung, Republik, Vereinigte Staaten), sondern des sozialen Inhalts der Macht.“
Die Differenz zur Revolution beginnt also vor allem dort, wo die Macht in Händen der Kapitalist*innen bleibt, d.h. das Privateigentum an Produktionsmitteln, Land und Häusern unangetastet bleibt – wie wir oben dargestellt haben. Die Führung der kurdischen Bewegung unterschätzt, gar ignoriert die Abschaffung des Privateigentums als notwendigen Übergang in eine staatenlose Gesellschaft. Sie ist nicht dazu bereit, mit den Großgrundbesitzer*innen und Kapitalist*innen zu brechen, da ihre Strategie auf eine Kooperation mit diesen Kräften fußt. Doch die bisherigen Erfahrungen der antikolonialen Befreiungsbewegungen haben gezeigt, dass die Bourgeoisie der unterdrückten Nationen die Losung der Befreiung nur bis zum gewissen Moment miträgt, um ihre Souveränität zu erreichen. Erlangt sie allerdings die Freiheit zum Herrschen, unterdrückt sie die eigene arbeitende Bevölkerung zugunsten der Bewahrung ihrer Macht.
Die demokratische Selbstverwaltung wird als gemeinsames Ziel aller Kräfte im Land dargestellt. Deshalb bleiben die Ansätze der vorhandenen Räte in den kurdischen Gebieten als Kooperativen beschränkt, weil sie nicht die Herausforderungen der Räte wie die Enteignung der Bourgeoise oder die Verteilung des Landes und der Wohnungen annehmen. Die Rätestrukturen werden nicht über die erledigten Herausforderungen ausgeweitet und befestigt, sondern eher umgekehrt: Die kurdische Bewegung verlangt Zeit, um die Revolution zu befestigen, allerdings können wir anhand der vorhandenen Ansätze diesem Wunsch widersprechen, denn die Zeit ist kein Allheilmittel.
Wir sehen Räte als Machtstrukturen, die einerseits die Übergangsperiode in die Revolution einleiten und politisch und militärisch die Interessen der arbeitenden Bevölkerung einfordern, andererseits als Ziel die Zerschlagung der kapitalistischen Regierung und die Übernahme der Staatsmacht durch Räte proletarischer und bäuerlicher Zusammensetzung haben.
Die Bedingungen des Sieges
Die kurdischen Milizen haben durch ihre heroischen Kämpfe die Sympathie der unterdrückten Völker und internationalistischer Aktivist*innen erobert. Doch ohne gesellschaftliche materielle Veränderungen, kann Rojava aus der Isolation nicht herauskommen. Die militärischen Taktiken sind daher unzureichend, die Gesamtsituation zu verändern. Der kurdische Widerstand braucht Waffen, um zu kämpfen und zu siegen, aber vor allem braucht er ein Programm, das den Erdogan und Assad-Regimen ihre soziale Basis entreißt.
Die bisherigen multiethnischen und feministischen Erfahrungen sowie die Anerkennung der Glaubensfreiheit bei gleichzeitiger Trennung der Religion von Staatsangelegenheiten sind progressiv und können die Massen inspirieren. Es gibt Millionen Menschen in der Region, die sich tagtäglich Sorgen machen, vom Krieg erneut ruiniert zu werden. Das Versprechen der türkischen Regierung ist die Überwindung der Wirtschaftskrise durch die Invasion Rojavas. Wir unterstützen den Sieg Rojavas über den türkischen Besatzungskrieg.
Der Sieg von Rojava über den IS bedeutet eine Antwort auf die konterrevolutionäre Wende in der Region. Erobert aber der türkische Staat Rojava oder intervenieren die imperialistischen Mächte, werden wieder außergewöhnliche Bedingungen herrschen, die den IS oder seinesgleichen dazu ermutigen können, aus dem Untergrund herauszukommen. Um das reaktionäre Blatt zu wenden, d.h. die imperialistischen Mächte, den IS und die kolonialistischen Regionalmächte ein für alle Mal auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, muss Rojava mit den materiellen gesellschaftlichen Veränderungen beginnen und die Entwaffnung zugunsten eines Deals mit dem Assad-Regime ablehnen.
Rojava kann nicht verteidigt und ihre sozialen Errungenschaften erweitert werden, wenn die Grenzen in dieser Region nicht abgeschafft werden, die die produktive Entwicklung hemmen. So muss Rojava die vorhandenen Mittel anwenden, um von der Industrie aus Nordkurdistan (unter türkischer Besatzung) und Öl- und Gaslieferungen aus dem irakischen Kurdistan zu profitieren. Die lokale Bourgeoisie ist nicht dazu in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen. Da Kurdistan in vier wichtige Länder der Region aufgeteilt ist, gehört zu Bedingungen des Sieges, das revolutionäre Bewußtsein der Arbeiter*innen, ausgebeuteten Bauern und Bäuerinnen und unterdrückten Nationalitäten in der Region zu wecken. Die Außenpolitik muss ihr Hauptziel darin erblicken.
Die Bedingungen dafür sind in den Klassenkampfdynamiken der Region vorhanden: Das Interesse der iranischen Bourgeoisie wird heute nicht in Teheran, sondern in Damaskus verteidigt. Der Iran baut seine Macht und Legitimation in Damaskus wieder auf und bezeichnet sich als „anti-imperialistisch“. Doch mit jedem Sieg vor Ort zementiert die islamische Republik die Repression im Inneren gegen Arbeiter*innen, Frauen, Kurd*innen und andere unterdrückte Völker.
Die Forderungen der Massen im Jahr 2009 nach politischer Partizipation, Frauenrechten und innerer Demokratisierung Irans ist nicht erfüllt worden. Denn die reformistische Führung dieser Bewegung war selbst durch die radikalisierten Massen erschrocken und zog sich zurück. Die unerfüllten Forderungen der Massen bilden eine Basis des permanenten Vorwärtstreibens im Iran. Allein in diesem Jahr waren die Frauen Studierende, Schüler*innen, Arbeiter*innen – vor allem LKW und Busfahrer*innen, Lehrer*innen, Zucker- und Stahlarbeiter*innen – im Streik und auf den Straßen. Die kurdische Bevölkerung im Iran (Rojhilat) war entweder ein Teil der Streik- und Aktionsbewegung im Land oder sie organisierte eigenständigen Widerstand gegen das iranische Regime. Trotz Repressionen weichen die Arbeiter*innen und die kurdische Bevölkerung nicht von ihren Kämpfen ab. Die zwei Fabriken Fulad (Stahlfabrik) und Haft-Tapeh (Zuckerfabrik) bilden derzeit die Vorhut der Bewegung. Die führenden Sektoren dieser Kämpfe wenden in ihrer Argumentation die Räte als eigenes Organ an. So fordern die Arbeiter*innen von Haft-Tapeh die Selbstverwaltung der Fabrik unter eigener Kontrolle. Im Iran gab es von 1976 bis 1981 besetzte Fabriken unter Arbeiter*innenkontrolle. Zeitweise kam es hierdurch in kurdischen Städten zu Doppelmachtsituationen. Diese Erfahrungen erweisen sich politisch lehrreich, wenn die Massen wieder beginnen zu kämpfen. Die ganze Bewegung im Iran strukturiert sich durch die Forderungen nach Brot, Arbeit und Freiheit.
Der IS als dschihadistische Aggression wollte einen islamischen Staat errichten. Dabei versklavte er die nicht-islamischen Frauen, vor allem Jezidinnen. Er vernichtete die Opposition, vertrieb die Völker aus der Region und plünderte Hab und Gut der Zivilbevölkerung. Die Türkei hat Afrin praktisch als eigene Enklave installiert. Sie zerschlug die demokratischen kurdischen Strukturen, übergab die politische Repräsentation in die Hand der islamischen Gruppen, vertrieb einen Teil der kurdischen Bevölkerung und plünderte Hab und Gut vor Ort, wie den Olivenöl-Ertrag aus diesem Jahr. Die türkische Politik ist auf die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung konzentriert, um die Kurden vor Ort eine Minderheit zu machen. Das ist eine alte Taktik der türkischen Politik.
Die Vereinigung Kurdistans kann auch nicht mit den bisherigen Programmen der kurdischen Organisationen wie denen der PKK (Nordkurdistan), PYD (Westkurdistan), KDP (Südkurdistan) oder Komalah (Ostkurdistan) vonstattengehen. Diese Organisationen unterscheiden sich inhaltlich stark voneinander: Während PKK und PYD für demokratische Ansätze stehen, ist die KDP bereits ein bürokratisch korrupter Herrschaftsapparat im kurdischen Autonomiegebiet im Irak. Es sind auch Anhänger*innen der kurdischen Organisation in den anderen Teilen Kurdistans anzutreffen. Für die Einheit Kurdistans ist die programmatische Ausrichtung notwendig. Eine bürgerliche Vereinigung ist derzeit in Kurdistan auch nicht möglich, weil die kurdische Bourgeoisie mit den eigenen Lokalparteien so verschmolzen ist, dass sie vom Status quo profitieren. Dementsprechend zeigen sie wenig Interesse an einer anderen radikalen bürgerlichen Programmatik. Die kurdische (Klein-)Bourgeoisie ist nicht in der Lage, Kurdistan zu vereinen. Der Versuch der Vereinigung Kurdistans auf dem bürgerlichen Weg scheitert am Desinteresse der kurdischen Bourgeoisie. Es versteht sich von selbst, dass die Besatzerstaaten diese Versuche sowieso bekämpft haben.
Die bestehenden basisdemokratischen Organe der Rojava-Verwaltung sind in der Form progressiv, weil darin die Frauen, andere Völker und religiösen Gruppen ihr Repräsentationsrecht haben. Diese Strukturen können eine tatsächliche Doppelmacht erst dann erreichen, sobald der soziale Inhalt sich nach Interessen der Arbeiter*innen und Bauern/Bäuerinnen verändert hat:
Wo es Selbstverwaltung gibt, gibt es Brot, Arbeit und Wohnung für alle
Die kurdische Armee muss die dringendsten Maßnahmen der sozialen Revolution nicht nur verkünden, sondern in Rojava unverzüglich verwirklichen:
- Enteignung der vorhandenen Lebensmittel-, Manufakturwaren- und anderer Vorräte und ihre Abgabe an die Bedürftigen
- Neuaufteilung der Wohnstätten im Interesse der Werktätigen und insbesondere der Soldat*innenfamilien
- Enteignung des Bodens und des landwirtschaftlichen Inventars im Interesse der Bauern und Bäuerinnen
- Errichtung der Arbeiter*innenkontrolle über die Produktion und der Sowjetmacht anstelle der harmonischen Repräsentation aller Klassen.
Ein solcher Schritt würde über die demokratischen Grenzen des Rechts auf Selbstbestimmung hinausgehen. Es wäre ein Antrieb für die gesamte Region. Dort wo Länder verteidigt und befreit werden, müssen diese Maßnahmen der sozialen Revolution ergriffen werden. Die weitere Bedingung besteht also darin, das Vertrauen herzustellen: Die Kämpfer*innen müssen sich bewusst sein, dass sie sich für ihre völlige soziale Befreiung einsetzen und nicht für die Wiederherstellung der demokratischen Ausbeutung.
Das ist die Bedingung dafür, damit der kurdische Widerstand sich zum wahrhaften Verteidiger der Unterdrückten und Ausgebeuteten beweist.
Kurdistan zu vereinen kann nur auf der Grundlage der Hegemonie der Arbeiter*innen über das Kleinbürgertum und Bauerntum geschehen. So kann es gelingen, trotz der reformistischen und kleinbürgerlichen Führungen in den verschieden Teilen Kurdistans die Massen zu erreichen. Die revolutionäre Strategie soll heute der kolonialistischen Strategie entgegentreten. Beharrt die Führung des kurdischen Widerstandes auf die Praxis, mit einem bürgerlich-demokratischen Inhalt die antikoloniale Befreiung zu erreichen, so müssen wir als revolutionäre Marxist*innen im Interesse der heroischen kurdischen Kämpfer*innen und des Triumphs diese Scheinwahrheit enthüllen. Die kurdische Jugend hat im Jahr 2015 einen inspirationsvollen Widerstand organisiert, um die türkische militärische Belagerung Nordkurdistans zu brechen. Es kam soweit, dass die Jugend mithilfe der Barrikaden temporär die Kontrolle über einige Stadtteile übernehmen konnte, wo Selbstverwaltungsstrukturen eingeführt wurden. Obwohl der Kampf programmatisch unreif war, mangelte es nicht an Kampfbereitschaft.
Diesen Kampf hat die prokurdische HDP gespalten, bzw. sahen die bürgerlichen Fraktionen innerhalb der HDP darin einen Angriff auf ihre Interessen. Die nordkurdische Bourgeoisie sieht in der Demokratisierung des türkischen Staates die Hoffnung auf einen höheren Anteil am türkischen Markt. Sie ist der türkischen Strategie unterworfen. Dieser Interessenkonflikt hat die HDP praktisch gespalten und machte sie in den Augen Erdogans angreifbar. Seitdem ist sie handlungsunfähig. Aber Millionen von Menschen können heute in der Türkei für antimilitaristische Mobilisierung gewonnen werden, um den Chauvinismus der türkischen Arbeiter*innen zu brechen. Die Herausforderung besteht darin, die inzwischen faschistoiden Strukturen innerhalb AKP-Basis zu schlagen. Sie bildet eine Synthese zwischen mafiösen und dschihadistischen Strukturen. Deshalb wird die antimilitaristische Mobilisierung sehr schnell einen antifaschistischen Charakter einnehmen müssen. Es ist deswegen notwendig, dass alle kurdischen, aber auch gewerkschaftlichen Organisationen gemeinsam gegen die Kürzungs- und Kriegspolitik der Regierung auf die Straße gehen, damit die türkischen Kapitalist*innen für ihre Krise selber zahlen.
Die Verteidigung von Rojava war nicht rein militärisch. Sie geht heute und morgen nur durch die Selbstverwaltungen in Kurdistan und in den anderen Staaten der Region. Die Arbeiter*innenklasse im Irak, in der Türkei, im Iran und in Syrien sind unzufrieden mit ihren eigenen Bourgeoisien und ihren Staaten, da sie nur Krise und Kriege versprechen. Die Bindung an sie geht nur über Kriegshetzerei, Angstmacherei und Repression. Umso stärker ist daher die Anziehungskraft einer sozialistischen Politik, die Brot, Arbeit, Wohnung für alle verkörpert und die Regierung der Arbeiter*innen aufbaut. Ein solches Programm kann in unseren Augen für einen Sprung in der Region sorgen, für einen neuen Frühling. Wenn es eine Hoffnung gibt, um die Arbeiter*innenklasse zu mobilisieren, liegt sie in den kurdischen Frauen und der Jugend. Es benötigt eine unabhängige Führung für ein vereinigtes sozialistisches Kurdistan in der Perspektive der Föderation sozialistischer Republiken Westasiens. Der Kampf wird unvermeidlich die reaktionären Blöcke, die durch dem kapitalistischen Interessenkonflikt gespalten ist, gegen den Klassenkampf vereinen. Die Bedingung der permanenten Revolution besteht in der Notwendigkeit, den Rauswurf des Imperialismus und seiner lokalen Vasallen zu organisieren. Das Programm der Enteignung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die Sowjetmacht wird die Perspektive der Föderation sozialistischer Republiken Westasiens konkretisieren.