Syrien: In Richtung entscheidender Tage
// Der Imperialismus möchte in Syrien ein „neues Regime“ durchsetzen, welches seine Interessen begünstigt. Der Diktator Assad muss durch die unabhängige Mobilisierung der Massen hinausgeworfen werden. //
Während wir diese Zeilen schreiben, verstärken die USA und die europäischen Mächte ihre Anstrengungen im UN-Sicherheitsrat, Russland und China zu überzeugen, eine Resolution gegen die syrische Regierung und für den „Übergangsplan“ der Arabischen Liga zur Absetzung des Präsidenten Assad zu akzeptieren. Indem sie sich zynisch als „FreundInnen des syrischen Volkes“ präsentieren, versuchen sie eine neue Qualität in der Intervention zu „legitimieren“, indem sie die wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Sanktionen mit der Androhung einer militärischen Intervention einschließlich „humanitärer“ Rhetorik ergänzen. Inzwischen sieht es so aus, als wenn sich in der Nähe der Hauptstadt Damaskus eine Eskalation von Protesten und Zusammenstößen ereignen würde, die einen Sprung in der Krise des Regimes markieren könnten. Möglicherweise befinden wir uns am Vorabend entscheidender Tage.
Was passiert in Syrien?
Die tiefgehende soziale und politische Krise muss einerseits im Rahmen des Zyklus der Rebellionen des sogenannten „Arabischen Frühlings“ verstanden werden, von dem Syrien ein wichtiger Brennpunkt ist, auch wenn sich 2011 kein revolutionärer Sprung ereignete wie in Ägypten und das Regime sich halten konnte, ohne wie in Libyen zusammenzubrechen; und andererseits im Rahmen der sich verstärkenden Spannungen im Mittleren Osten im Zuge eines Jahrzehnts der imperialistischen Kriege und Interventionen (Irak und Afghanistan), die es der USA dennoch nicht erlaubt haben, ihren Niedergang als Hegemonialmacht umzukehren.
Nach dem militärischen Rückzug der Yankees aus dem Irak, ohne ein stabiles Regime etabliert zu haben, und nach der Infragestellung der regionalen Machtstruktur durch neue Allianzen jeglicher Art, muss der Imperialismus die Tendenzen zur Destabilisierung der Region aufhalten. So beschlossen die USA und die EU neue Sanktionen gegen den Iran, um ihn gemäß ihrer Interessen zu „disziplinieren“ und seiner relativen Stärkung als Regionalmacht Grenzen zu setzen. Syrien hat starke Übereinkünfte mit Russland (es gibt sogar eine russische Marine-Basis im Hafen von Tartus), ist ein enger Verbündeter des Irans und spielt eine gewichtige „geopolitische“ Rolle aufgrund seiner Lage zwischen Israel, dem Irak, der Türkei und dem Libanon (einem Land, in dem es starken Einfluss ausübt). Außerdem besitzt Syrien Verbindungen zur palästinensischen Frage und zu Gruppen wie Hisbollah und Hamas.
In Syrien überkreuzen sich somit die imperialistische Strategie, die arabische Rebellion niederzuschlagen, und die Offensive zur Bestätigung der imperialistischen Herrschaft über den Mittleren Osten.
Was ist die Politik des Imperialismus?
Die Regierung Obamas und ihre Verbündeten glauben schon nicht mehr daran, eine Übereinkunft mit Assad erreichen zu können, und wählten die Option, seine Absetzung und somit einen „Regimewechsel“ in Damaskus zu forcieren – worin sie sich durch den vorteilhaften Ausgang der Intervention in Libyen bestärkt fühlen, trotz aller Widersprüche, die der Konsolidierung des Post-Gaddafi-Regimes entgegenstehen. Die Politik des Imperialismus ist es nicht, so viel ist klar, die demokratischen Hoffnungen der syrischen Massen zu erfüllen, sondern im „syrischen Fall“ die Gesamtstrategie des Imperialismus bezüglich des „arabischen Frühlings“ anzuwenden, und zwar mit den Methoden der „demokratischen“ Konterrevolution, wie sie in Libyen perfektioniert wurden. Unter dem Deckmantel „humanitärer“ und „demokratischer“ Bedenken versucht der Imperialismus, ein Regime durchzusetzen, welches seinen Interessen dienlicher ist, mit Mehr-Parteien-Mechanismen, einer Stütze im Militär und einem Minimum an formellen Konzessionen an die Massen. So soll: die Semikolonisierung des Landes vertieft werden, die Möglichkeit verhindert werden, dass ein unkontrollierbarer BürgerInnenkrieg ausbricht oder sich ein revolutionärer Aufstand entwickelt, und das Bündnis zwischen Syrien und dem Iran gebrochen werden.
Wird es eine militärische Intervention der NATO geben?
Mit der Verschärfung der Sanktionen und Drohungen und mit dem neuen Versuch, eine Resolution des Sicherheitsrats zu verabschieden, beweist der Imperialismus, dass er „keine Option ausschließt“ (einschließlich einer militärischen Aggression). Das scheint zwar im Moment nicht die zentrale und unmittelbare Politik zu sein, aber „ein Revolver liegt auf dem Tisch“, um Assad zur Kapitulation zu drängen und sich politisch für den Fall vorzubereiten, dass die Krise eine eventuelle Intervention nötig macht. Die Entscheidung für so eine Option bringt viel größere Risiken und Widersprüche für den Imperialismus mit sich als in Libyen, da die Möglichkeit inneren Widerstands sowie die regionale Rolle Syriens und seine Verbindungen mit den Nachbarländern (insbesondere mit dem Iran und dem Libanon) die Konsequenzen unvorhersehbar werden lassen. Falls es aber so weit kommen sollte, wäre der beste Plan, die Wasser- und Luftunterstützung der NATO und die Streitkräfte der Nachbarstaaten – die Türkei an der Nordgrenze, die Ölmonarchien im Süden – zu benutzen, um „Zonen zum Schutz der Zivilbevölkerung“ oder „humanitäre Korridore“ zu schaffen. Das könnte letztlich die Art und Weise sein, Assad den definitiven Schlag zu geben; vor allem, falls sich die Tendenz zum verallgemeinerten BürgerInnenkrieg beschleunigen oder sich der Kollaps des Regimes ereignen sollte.
Das Regime von Assad
Obwohl er weder ein direkter Agent des Imperialismus‘ wie Mubarak ist, noch zum Bündnis mit dem Westen „konvertierte“ wie Gaddafi, haben die ArbeiterInnen und die syrischen Massen kein wirkliches Interesse am Erhalt des Regimes von Assad. Das syrische Regime hatte in seiner Entstehung einen nationalistischen Charakter (auch wenn es gegenüber der ArbeiterInnenbewegung und der Linken repressiv agierte) und lieferte sich Konfrontationen mit dem Imperialismus wie in den Kriegen mit Israel. Dennoch bewegte es sich mehr und mehr nach rechts und erfüllte bei vielen Anlässen eine reaktionäre Rolle (zum Beispiel gegen die PalästinenserInnen), unterstützte den Golfkrieg und spielte eine konservative Rolle in der Region. Außerdem begann es in den letzten Jahren damit, die Wirtschaft zu „öffnen“ und neoliberale Maßnahmen, Privatisierungen und verstärkte Zusammenarbeit mit ausländischem Kapital durchzuführen. Das Regime ist eine eiserne „Ein-Parteien-“Diktatur (die Baath-Partei) im Dienst der Bourgeoisie, die die Massen unterdrückt und ihnen elementare demokratische Rechte sowie unabhängige politische oder gewerkschaftliche Organisierung verweigert. Dennoch existieren in verschiedenen Fragen wichtige Spannungen mit dem Westen, zum Beispiel das Bündnis mit dem Iran, die Unterstützung der Hisbollah und die Forderung an Israel, die Golan-Höhen zurückzugeben.
Auch wenn Assad und sein Clan bisher die Kontrolle der Armee und des Staates behalten konnten, indem sie eine gewisse soziale Basis in der alawitischen Minderheit und der sunnitischen Bourgeoisie aufrechterhalten haben, wird ihre Position immer schwächer und es ist wahrscheinlich, dass der „Countdown“ für die Regierung schon begonnen hat.
Was ist der SNR?
Als Lehre aus der libyschen Erfahrung trieb der Imperialismus die Bildung des Syrischen Nationalrats (SNR) voran, um auf einen Kollaborateur zählen zu können, der die Opposition vereinen und die Protestbewegung kontrollieren könne, indem er sie dem imperialistischen Programm unterwirft. Der SNR besteht aus liberalen Gallionsfiguren und ExilsyrerInnen, die kaum reales politisches Gewicht haben, sowie der Muslimbruderschaft, die dem Rat ein „islamisches Standbein“ nebst sozialer Basis und nationalem Einfluss garantiert, auch wenn es innerhalb der Opposition noch verschiedene andere Flügel gibt (inklusive Sektoren, die eine „nationale Einheit“ mit der Baath-Partei fordern). Das Programm des SNR beinhaltet die Verteidigung des Staates und der Armee, den Bruch der „anormalen“ Beziehung zum Iran und den Rücktritt Assads zur Bildung einer Regierung der „nationalen Einheit“. Diese soll einen Plan des kontrollierten Übergangs durchsetzen und sich dabei von der Politik der Pakte mit einem Sektor des Regimes und des Militär inspirieren lassen, die in Jemen den Rücktritt des pro-amerikanischen Diktators Saleh ermöglichte. Fakt ist, dass die Organisierung eines kontrollierten politischen Auswegs den Pakt mit einem Sektor des Regimes und der Armee voraussetzt, denn allein ist der SNR zu schwach, um mit den explosiven sozialen, ethnischen und religiösen Widersprüchen Syriens fertig zu werden und die destabilisierenden Konsequenzen in der Beziehung mit seinen Nachbarn einzudämmen.
Trotz der westlichen Propaganda ist der SNR nicht die legitime Vertretung der syrischen Massen. Leider scheint es keinen Sektor von Gewicht zu geben – nicht einmal bei den SprecherInnen der Lokalen Koordinationskomitees (LCC), die aus den Mobilisierungen in verschiedenen Städten hervorgegangen sind –, der den SNR und sein pro-imperialistisches Programm klar denunziert.
Grenzen und Widersprüche des Aufstands
Die Proteste, die im März 2011 begannen, drückten demokratische Forderungen und die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation, der Arbeitslosigkeit etc. aus, insbesondere in den ländlichen Gebieten und verarmten Ortschaften, und besaßen eine „plebejische“ und jugendliche Zusammensetzung, ohne jedoch entscheidende Sektoren der ArbeiterInnenklasse einbinden zu können. Die brutale polizeiliche und militärische Repression schaffte es nicht, die Proteste niederzuschmettern; Im Gegenteil scheinen die Proteste in Homs, Hama und anderen Ortschaften seit Dezember anzuwachsen und in größeren Auseinandersetzungen mit den Repressionsorganen zu münden, auch wenn der Widerstand in den wichtigsten Städten (Aleppo und Damaskus) noch schwach erscheint. Die letzten Informationen zeigen allerdings einen Anstieg der Mobilisierungen und bewaffneter Zusammenstöße in der Nähe der Hauptstadt, wo die Regierung ihre repressiven Anstrengungen konzentriert.
Der größte politische Widerspruch des Aufstands ist, dass er sich – weil er keine unabhängige revolutionäre Dynamik entwickelt – der Politik des SNR und seinem pro-imperialistischen Programm unterordnet und so nur als ein Faktor des Drucks in Bezug auf einen „Regimewechsel“ wirkt, der den USA und der EU untergeordnet ist. Nur eine Politik der Denunzierung und des Bruchs sowohl mit dem SNR und jeder anderen Agentur der Kollaboration mit dem imperialistischen Plan als auch mit dem Regime selbst, kann den Weg zu einer unabhängigen Mobilisierung zeigen, die die ArbeiterInnenklasse an ihre Spitze setzt, die Selbstorganisation der ArbeiterInnen und der Massen vorantreibt und auf einen progressiven, revolutionären Ausweg aus der syrischen Krise abzielt.
Mehr als je zuvor ist eine unabhängige Klassenstrategie nötig
Wir revolutionäre SozialistInnen sind der Meinung, dass in Syrien mehr denn je eine Klassenstrategie nötig ist, die – durch die klare Denunzierung des Imperialismus, seines Planes vom „Regimewechsel“ und seines militärischen Säbelrasselns – aufzeigt dass die Durchsetzung der legitimen demokratischen Hoffnungen und jeglicher Forderungen der ArbeiterInnen, der Bauern/Bäuerinnen, der Massen und der nationalen und religiösen Minderheiten in Syrien, die in der Basis des Kampfs gegen die Diktatur existieren, nur durch die unabhängige Mobilisierung und die Ablehnung des SNR, seines Übergangsplans und jeden Paktes mit Sektoren des Regimes möglich ist, um so auf revolutionärem Wege Assad zu stürzen und die Macht der ArbeiterInnen und der Massen zu etablieren.
Der syrische Prozess hat Auswirkungen auf den Libanon und auf Palästina und setzt das strategische Problem des Rauswurfs des Imperialismus aus dem Mittleren Osten, die Zerstörung des zionistischen Staates Israel zu Gunsten eines vereinten, sozialistischen Palästinas, in dem Juden/Jüdinnen und PalästinenserInnen in Frieden miteinander leben können, und die wirtschaftliche und politische Einheit der gesamten Region in einer Föderation der Sozialistischen Republiken des Mittleren Ostens auf die Tagesordnung.
Die breiteste internationale Solidarität ist weiterhin eine sehr wichtige, dringende Aufgabe, um zur Weiterentwicklung der arabischen Rebellion beizutragen und die imperialistischen Pläne zu bekämpfen. Die Verbündeten der syrischen Massen sind die arabischen Massen, die sich gegen ihre Diktaturen und pro-imperialistischen Monarchien aufgelehnt haben, sowie die ArbeiterInnen und Jugendlichen Europas (inklusive die Millionen arabischen ImmigrantInnen), die die kapitalistischen Sparprogramme bekämpfen und im Westen die „humanitären“ Interventionen des Imperialismus denunzieren und boykottieren können.
Zuerst am 2. Februar 2011 hierauf Spanisch erschienen.