Syrien: Die Spannungen intensivieren sich

26.11.2015, Lesezeit 10 Min.
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Die Türkei schießt einen russischen Kampfjet ab und Frankreich intensiviert nach den Attentaten vom 13. November seine Bombardements: Täglich steigen die Spannungen im Krieg in Syrien. Doch die Strategie der Imperialist*innen ist zum Scheitern verurteilt.

Die Anschläge von Paris haben dem Krieg in Syrien eine neue Dynamik verliehen: Immer mehr Mächte betonen, die Luftangriffe intensivieren zu wollen. Die Grausamkeit des IS, die immer wieder mit Enthauptungen und Massenexekutionen unter Beweis gestellt wird, ist mit den Anschlägen in den imperialistischen Zentren angekommen.

Das wird von den ausländischen Kriegsparteien als eine Art carte blanche zur ideologischen Rechtfertigung eines Kriegs gegen ihn. Präsident Hollande betonte, Frankreich sei im Krieg. Auch der britische Premierminister Cameron verspricht Teilnahme an den Luftangriffen gegen IS in Syrien, nachdem die Royal Air Force schon an den Bombardements im Irak beteiligt ist. Die neue politische Situation ähnelt dem „Krieg gegen den Terror“ von Bush nach den Anschlägen am 11. September 2001.

Auch Deutschland verpflichtete sich doppelt dazu, Frankreich bei ihrem militärischen Kurs zu unterstützen: Erstens werden sie die französische Armee in Mali entlasten und selbst 650 Bundeswehr-Soldat*innen entsenden. Zweitens kamen sie der Bitte von Hollande nach, das er auf einem gemeinsamen Abendessen mit Bundeskanzlerin Merkel am Mittwoch formulierte. Er sagte, ein größeres Engagement von Deutschland im Syrien-Krieg würde ein „wichtiges Zeichen“ setzen. Die Bundeswehr wird von nun an Tornado-Kriegsflugzeuge zur Aufklärung in den Nahen Osten gesendet. Ist das nur ein erster Schritt und werden bald auch Bomben aus deutschen Flugzeugen fallen?

Diesmal aber sind die Risse innerhalb der Front klarer. Am Rande des G20-Gipfels, bei dem über den Bürger*innenkrieg in Syrien geredet wurde, ohne dass syrische Kampfparteien selbst beteiligt waren, haben die Vertreter*innen der G20-Staaten zwar die Erklärung herausgegeben, alle Parteien seien darüber einig, dass das syrische Volk selbst ihre Zukunft bestimmt. Doch unter den Bedingungen eines Stellvertreter*innenkrieges fällt es dennoch nicht leicht, sich auf gemeinsame Interessen zu einigen.

Der konkrete Ausdruck davon zeigte sich am Dienstag, als türkischen Kampfflugzeuge im türkisch-syrischen Grenzgebiet einen russischen Kampfjet abgeschossen haben. Nach dieser Aktion kamen zahlreichen Erklärungen von am Krieg beteiligten Mächten: von Türkei und Russland, NATO und EU. Dieses Ereignis machte nochmal deutlich, dass es in diesem Krieg scharfe Interessenkonflikte gibt.

Säbelrasseln zwischen Türkei und Russland

Der türkische Ministerpräsident Davutoglu betonte in seiner Rede, die Türkei würde davor nicht zurückscheuen, solche Maßnahmen zur „Sicherheit der Grenzen und zum Schutz der Turkmenen“ zu wiederholen. Es ist aber bekannt, dass sich an diesem Ort aktuell hauptsächlich Dschihadist*innen befinden. Deshalb dient dieser Ort für den türkischen Staat als eine Brücke, um seine Unterstützung von Dschihadist*innen teilweise fortzusetzen. Der russische Präsident Putin warf dem türkischen Staat deshalb vor, er sei „Helfershelfer von Terroristen“. Nach der Sondersitzung der NATO am gleichen Tag wurde der türkische Staat jedoch in Schutz genommen – mit der „Warnung vor Eskalation mit Russland“. Ein mögliches Ziel des Abschusses könnte es gewesen sein, die Unterstützung von Obama in der Errichtung einer „Friedenszone“ an der türkisch-syrischen Grenze zu bekommen, wo sich heute große Teile der kurdischen Gebiete in Syrien befinden.

Derweil droht Russland mit Sanktionen gegen Türkei. Einerseits könnten sie die türkische Regierung das Öl teurer bezahlen lassen, von dem sie zu 20 Prozent abhängt. Andererseits könnten sie in Syrien Gebiete bombardieren, um die die Kurd*innen kämpfen, um sie als großen Feind von Erdogan zu stärken.

Tatsächlich konfrontiert die russische militärische Intervention in den Bürger*innenkrieg in Syrien besonders die Interessen der Türkei. Denn der türkische Staat ist seit dem Beginn des Bürger*innenkriegs mit militärischer, logistischer und finanzieller Unterstützung für die reaktionären Rebellen aktiv dabei, um den Sturz von Assad zu beschleunigen. Russland hingegen setzt sich dafür ein, die kommende Machtkonstellation in Syrien zu beeinflussen. Mit der Bekämpfung von IS ermöglichte Putin dem Assad ein Atemzug. Doch letztendlich geht es Putin nicht unbedingt um das Überleben von Assad. Assad ist zwar noch nicht gestürzt worden, aber dafür enorm geschwächt. Der Bürger*innenkrieg in Syrien und die geopolitischen Interessen deuten, dass unter Assad eine Re-Stabilisierung nicht möglich ist. Das Interesse von Russland besteht deshalb darin, den Einfluss auf Syrien nicht zu verlieren – was geschehen würde, wenn sich ein neues Regimes unter Kontrolle der USA konsolidieren würde.

Stellvertreter*innenkrieg

Der Bürger*innenkrieg in Syrien bestimmt deshalb weiterhin die Tagesordnung der Weltpolitik: die sogenannte „Flüchtlingskrise“, der Zerfall des Sykes-Picot-Abkommens und die Ausdehnung der Anschläge auf Europa seitens der IS, der Kampf der Kurd*innen in Rojava und geopolitische Interessenkonflikte zwischen den Regionalmächten und Imperialismen. Das Schicksal des Bürger*innenkrieges liegt aber in den Händen der internationalen Akteure.

Schon in der Phase der Umwandlung der syrischen Massenproteste gegen Assad in einen Bürger*innenkrieg wurde den syrischen Massen die eigenständige politische Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung entzogen. Es werden ständig Konferenzen organisiert über das Schicksal von Syrien, wo die Syrier*innen selber kein Rederecht haben. Die syrische Bevölkerung sollte nach den Interessen der Großmächte nur noch als Spielfiguren vor Ort dienen. So verhält sich einerseits Assad nach den Aufträgen von Russland oder Iran. Auf der anderen Seite versuchen die pro-imperialistischen Rebellen der Free Syrian Army (FSA) die Interessen der westlichen Mächte zu erfüllen. So wurde Syrien zum Ort von mehreren zusammengeflossenen Kriegen und dient als Spiegelbild der Barbarei des Imperialismus. Ein klares Beispiel eines Stellvertreter*innenkrieges.

Die heutige tiefgreifende Krise in der Region drückt sich unter anderem durch den Zerfall des Sykes-Picot-Abkommens aus, welches 1916 zur Aufteilung osmanischen Reiches führte. Der IS konnte vom Scheitern der imperialistischen Interventionen in der Region profitieren, die eine politische und wirtschaftliche Krise sowie konfessionelle Konflikte zwischen Schiit*innen und Sunnit*innen produziert haben. Besonders mit der finanziellen und politischen Unterstützung von Saudi-Arabien, Qatar und der Türkei konnte der IS über die Grenzen hinweg zwischen Syrien und Irak strategische Stellungen erobern und verwalten. Noch dazu gewann er gewisse Sympathien bei der hiesigen Bevölkerung, da sie es war, welches die mit dem kolonialistischen Stift gezogene Grenze ausradierte. Zum anderen liegt der Aufschwung der IS darin, dass der „moderate Islamismus“ sich in den Krisensituationen nicht handlungsfähig beweisen konnte. Dies zeigte sich im Niedergang der Muslimbruderschaft (besonders in Ägypten) und dem Scheitern der Außenpolitik der türkischen Regierung (AKP) mehr als deutlich.

Der Krieg in Syrien kommt im Westen an

Der Krieg in Syrien kam in den letzten Monaten immer stärker im Westen an – nicht nur im Bewusstsein der Bevölkerung, sondern vor allem durch den starken Zuwachs an Geflüchteten sowie die Anschläge des IS in Paris. Dadurch wurde das Europa des Kapitals erschüttert.

Die Methoden, die jetzt zur Bewältigung der Krise in Europa eingesetzt werden, sind aber nicht weniger barbarisch, als die Bedingungen vor Ort: Die EU versucht mit dem mörderischen Erdogan-Regime in der Türkei ein Lager zu errichten, um Geflüchtete fernzuhalten. Dafür soll der türkische Staat drei Milliarden Euro erhalten. Es ist die selbe Union, die zynischerweise in den jährlichen Menschenrechtsberichterstattungen über den türkischen Staat aufgrund der Verletzungen der Meinungs- und Pressefreiheit und der weiteren Repressionen „kritische“ Töne spuckt. Der türkische Staat hält über zwei Millionen Syrier*innen als de facto Geisel, um die EU an den Verhandlungstisch zu zwingen. Am 29. November wird der erste Gipfel zwischen 29 Staaten stattfinden, um die Verhandlungen zu konkretisieren.
Im Innern verschärfen die westlichen Regierungen die Asylgesetzgebungen und bereiten die Abschiebungen vor, z.B. mit der Erklärung Afghanistans als „sicheres“ Herkunftsland. Gleichzeitig werden die Pariser Anschläge benutzt, um massive Beschränkungen demokratischer Rechte durchzusetzen, wie sich am Ausnahmezustand in Frankreich und Belgien zeigt.

Besonders am imperialistischen Kurs im Nahen und Mittleren Osten erkennen wir, dass die losen Sprüche über Demokratie und Menschenrechte nur Instrumente für die tatsächlichen materiellen Interessen der Großmächte sind. Der politische Kurs ist nach den Interessen des Kapitals jederzeit flexibel. Daher sollten die Zick-Zack-Kurse der Anti-Assad-Front, welche nun vom Übergangsprozess mit Assad überzeugt ist, keine Verwirrungen produzieren.

Wie weiter?

Es ist offensichtlich, dass der Stellvertreter*innenkrieg nicht mit einfachen diplomatischen oder militärischen Methoden zu beenden ist. Die US-Regierung setzt seit langer Zeit auf zahlreiche Milizen vor Ort, die sie mit Luftangriffen und Militärstrategen unterstützt. Diese Politik reicht aber nicht aus, um einen Konflikt zu gewinnen. Obama betonte beim letzten G20-Gipfel in der Türkei, dass die Entsendung von Bodentruppen nach Syrien „ein Fehler“ wäre – auch wenn die USA inzwischen einige Spezialeinheiten an die Front geschickt hat. Er bestand darauf, dass die aktuelle Strategie zwar „erfolgreich sein wird, aber Zeit in Anspruch nimmt“. Die Realität ist, dass die „aktuelle Strategie“ der USA ein Fiasko ist. Der Plan, die syrische Opposition auszubilden, um den IS und Assad zu besiegen, ist gescheitert.

Die IS-Gefahr und die unterschiedlichen Interessen der zahlreichen Akteure ermöglicht es kaum, den Konflikt zwischen USA und Russland, der sich schon in der Ukraine manifestiert hat, in Syrien offen auszutragen. Deshalb tritt Russland selbstbewusst auf. Es ist kein Zufall, dass die USA und die NATO die Türkei in Schutz nehmen, da die Verstärkung von Russland für die USA eine noch größere Bedrohung als der IS wäre. In einem Stellvertreter*innenkrieg spielen die Prinzipien keine Rolle. Es geht eher darum, mit möglichst wenig Schaden die Interessen zu bewahren.

Denn es ist in einem Stellvertreter*innenkrieg nicht ausreichend, welche Spielfigur auf dem Kampffeld siegt. Vielmehr geht es um die Interessen der „wahren Parteien“, die durch Spielfiguren vertreten sind. Je mehr die Parteien am Krieg beteiligt sind, desto komplizierter gestalten sich die geopolitischen Konflikte.

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