Stürzt Brasiliens Präsident Temer?
"Du musst damit weiter machen" – mit diesen Worten forderte Brasiliens Präsident Michel Temer den Unternehmer Joesley Batista dazu auf, weiterhin Schmiergeld an den ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha zu zahlen, um dessen Schweigen zu erkaufen. Die neuen Enthüllungen könnten den rechten Präsidenten zu Fall bringen.
Die Zustimmungswerte des brasilianischen Präsidenten Michel Temer sind im Keller. Vor gut einem Jahr, am 12. Mai 2016, übernahm er als Vizepräsident übergangsweise das höchste Amt im Staat von Dilma Rousseff, die aufgrund eines Amtsenthebungsverfahrens suspendiert wurde. Drei Monate später wurde er von Senat und Parlament zum neuen Präsidenten gewählt – ohne dafür jemals von der Bevölkerung legitimiert worden zu sein.
Unbeliebter Präsident mit hartem Sparkurs
Er wurde mit der Unterstützung der rechten und neoliberalen Parlamentsfraktionen, den bürgerlichen Medien, der Justiz und der einheimischen und multinationalen Großunternehmen an die Macht geputscht. Seine Aufgabe war klar: Mit einem brutalen Spar- und Kürzungsplan sollten die Massen für die größte Krise des brasilianischen Kapitalismus seit den 30ern zahlen und damit gleichzeitig ihre nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs gestiegenen Erwartungen gebremst werden. Diese drückte sich in der Jugendbewegung 2013, dem Anstieg von Arbeitskämpfen und den Wahlerfolgen der linksreformistischen PSOL aus. Konkret setzte er schon Ende 2016 ein Gesetz durch, mit dem die Haushaltskosten für Bildung und Gesundheit für 30 Jahre eingefroren werden. Oben auf seiner Liste steht zudem die Privatisierung zahlreicher Staatsbetriebe sowie die Freigabe der Ölfelder an der brasilianischen Atlantikküste für imperialistische Konzerne an.
Die letzten Monate war er damit beschäftigt, im Parlament eine Mehrheit für zwei weitere zentrale Pläne zu bekommen: die Arbeitsmarktreform, die Entlassungen vereinfachen und die Prekarisierung ausweiten soll, sowie die Rentenreform, mit der das Renteneintrittsalter erhöht und das von Frauen und Männern angeglichen wird. Ein von niemandem gewählter Präsident mit dem schlimmsten Sparprogramm der letzten 20 Jahre – kein Wunder, dass er den Unmut der Bevölkerung auf sich zieht.
Legitimationskrise und Unzufriedenheit
Zudem befindet sich die gesamte politische Kaste des Landes in einem riesigen Korruptionsskandal, der alle großen Parteien und zahlreiche große Konzerne wie den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras und das Bauunternehmen Odebrecht durch jahrelange Bestechungsgelder miteinander verbindet. 80 Prozent aller Parlamentsabgeordneten stehen mit dem „Lava-Jato-Skandal“ in Verbindung, erst vor wenigen Wochen wurde eine Liste von 98 Abgeordneten und ehemaligen Bundesstaatgouverneuren veröffentlicht, gegen die von der Justiz untersucht wird. Auch gegen Temer selbst wird wegen Unregelmäßigkeiten bei der Finanzierung seiner Wahlkampagne untersucht, die 2014 Rousseff im Amt bestätigte und ihn zum Vizepräsidenten machte. In nur einem Jahr mussten acht seiner ausschließlich weißen Minister wegen Korruptionsfällen zurücktreten. Für die arbeitenden Massen ist das Parlament und die Regierung nur eine korrupte Horde.
Diese Unzufriedenheit entlud sich seit Beginn Temers Präsidentschaft in zahlreichen Bewegungen: Zuerst die demokratische Bewegung gegen den institutionellen Putsch, mit dem er an die Macht kam, danach Schul- und Universitätsbesetzungen und Lehrer*innenstreiks zur Verteidigung der öffentlichen Bildung. Am 15. März riefen die Gewerkschaften zum ersten Generalstreik gegen Temer aus, der trotz der schlechten Vorbereitung von Seiten der bürokratischen Führungen eine Machtdemonstration der Arbeiter*innenklasse war. Doch an der Basis brodelte es weiter und so kündigten die Gewerkschaften einen weiteren Generalstreik am 28. April an, der mit mehr als 40 Millionen Arbeiter*innen der größte Generalstreik der jüngeren Geschichte des Landes wurde. In der Metallindustrie, der Automobilindustrie, den Chemiewerken, den Ölplattformen, in den Schulen und Krankenhäusern, im Öffentlichen Dienst und im Einzelhandel – das ganze Land stand für einen Tag still im Protest gegen die Renten- und Arbeitsmarktreform.
Diese Massenaktion der Arbeiter*innenklasse erschütterte das politische Panorama und schwächte die Regierung, auch wenn sie mit Freude verkündete, endlich eine Mehrheit für ihre arbeiter*innenfeindliche Rentenreform im Parlament gefunden zu haben.
Temer im Auge des Sturms
In diesem Rahmen kamen Aufzeichnungen an die Öffentlichkeit, die der Unternehmer Joesley Batista der größten Fleischverarbeitungsfirma der Welt JBS der Justiz überreicht hatte, um seine eigene Strafe zu verringern. Die Aufzeichnungen stammen von einer Konversation zwischen Batista und dem Präsidenten, in der ersterer davon berichtet, dass er dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha – damals einer der stärksten Befürworter des Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma und aktuell wegen Korruption im Gefängnis – weiterhin monatlich Geld überweise, damit dieser nicht seine Informationen über korrupte Politiker*innen und Unternehmer*innen preisgibt. Damit hatte Cunha schon häufiger öffentlich gedroht. Temer antwortete daraufhin: „Das musst du weiter machen“. Diese Aufzeichnung wird ihm, und anderen Politiker*innen wie dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der neoliberalen PSDB Aecio Neves und einem ehemaligen Wirtschaftsminister der PT, zum Verhängnis.
Noch am Mittwochabend, als die Aufnahmen bekannt wurden, strömten Zehntausende in zahlreichen Städten Brasiliens mit dem Ruf „Fora Temer“ (Temer raus) auf die Straßen. In der Hauptstadt protestierten Tausende vor dem Regierungspalast und in São Paulo demonstrierten mehr als 10.000 Menschen in der Innenstadt. Auch nachdem Temer am gestrigen Donnerstag einen Rücktritt ablehnte, gingen die Mobilisierungen weiter.
Es ist durchaus möglich, dass Temer diese Krise nicht übersteht. Zum einen könnte diese Veröffentlichung Ausdruck einer abnehmenden Unterstützung von Seiten des Kapitals sein, die Temer für die Durchsetzung eines brutalen Kürzungsprojekts an die Macht gestellt hat. Er kann jedoch die Wünsche nicht in dem Maße erfüllen, da er immer wieder auf den Widerstand der Bevölkerung stößt. Zum anderen könnten die Aufnahmen das Fass zum Überlaufen bringen und zu einer neuen Welle von massiven Mobilisierungen gegen die Regierung führen.
Internationale Bedeutung und Antwort der Linken
Die Ereignisse in Brasilien sind von großer Bedeutung für ganz Lateinamerika: Temer war mit seinem institutionellen Putsch die Speerspitze der kontinentalen Rechten, die mit Macri in Argentinien und Kuczynski in Peru für einen regime change in Venezuela eintreten. Ein Sturz Temers könnte dieser neoliberalen Rechten einen Schlag geben, kann jedoch genauso schnell in die Hände anderer bürgerlicher Fraktionen gelangen. So setzt die PT der ehemaligen Präsidentin Dilma und des beliebten Ex-Präsidenten und Gewerkschafters Lula auf Neuwahlen, um sich als Garant der Ordnung zu präsentieren.
Revolutionäre Organisationen wie die Bewegung Revolutionärer Arbeiter*innen (MRT) fordern die Gewerkschaftsführungen dazu auf, sofort zu einem unbefristeten Generalstreik aufzurufen, der von der Basis diskutiert und organisiert wird, bis Temer fällt. Außerdem schlagen sie anstelle von Neuwahlen, die das angeschlagene Regime legitimieren würden, eine freie und souveräne Verfassungsgebende Versammlung vor, die alle Reformen von Temer sowie die Privatisierungen aller vergangenen Regierungen zurücknimmt und die großen Probleme der arbeitenden Bevölkerung diskutiert und in ihrem Sinne löst. Nur so kann garantiert werden, dass die Kapitalist*innen nicht ihre Lösung der aktuellen Krise durchsetzen können, sondern die Arbeiter*innen.