Streit mit Erdogan: Bricht Merkels Kartenhaus in sich ein?

02.06.2016, Lesezeit 6 Min.
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Zwei Monate nach Inkrafttreten werden immer mehr Risse im Gebilde des EU-Türkei-Deals deutlich. Hält das Merkelsche Kartenhaus? Und wenn ja, zu welchem Preis?

Merkels Lösung der „Migrationskrise“ schien so einfach wie brutal: Statt mit der Bundeswehr die deutsche Grenze dicht zu machen, sollte die Rolle des Grenzgendarmen an die EU-Außengrenze ausgelagert werden.

Neues Grenzregime

Ein Teil dieser Aufgabe erledigte die österreichische Regierung durch die „Schließung der Balkanroute“. Österreich schickte mit Unterstützung von Tschechien, Polen, Ungarn und der Slowakei Soldat*innen nach Mazedonien, um deren Grenze abzusichern und sperrte damit hunderttausende Geflüchtete ein, die sich in Griechenland aufhielten.

Die Bilder aus dem Geflüchtetencamp in Idomeni an der mazedonisch-griechischen Grenze waren Produkt dieser rassistischen Abschottung. Gleichzeitig wurden sie als Abschreckung verwendet. Jetzt, wo diese Bilder nicht mehr notwendig sind, wird das Camp geräumt – und die Asylsuchenden abgeschoben. Back to normal in der Festung Europa.

Denn dieses neue Grenzregime wurde durch den EU-Türkei-Deal ergänzt, den der ehemalige türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu Ende März gemeinsam mit Jean-Claude Juncker und Donald Tusk vereinbarten. Dies sieht die Rücknahme aller Geflüchteten vor, die von der Türkei aus nach Griechenland gelangen.

Kein Ende der Spannungen

Damit schien Merkel der große Coup gelungen zu sein: Die Anzahl der ankommenden Geflüchteten reduzierte sich drastisch, die Intensität der öffentlichen Debatte um die „Migrationskrise“ und die Kritik an der Regierung nahm ab. Doch die monatelange Regierungskrise und der Aufstieg der offensiv auftretenden Rechten hinterließen ihre Spuren. Die Rechten konnten in Wahlen auftrumpfen, sowohl im März bei den Landtagswahlen in Deutschland, als auch in den beiden Runden der österreichischen Bundespräsidentenwahlen.

Deshalb wurde auch der EU-Türkei-Deal zur Angriffsfläche gegenüber der rechtsextremen AfD und Seehofers CSU. Sie wollen zwar, genauso wie Merkel, keine Geflüchteten mehr in Deutschland aufnehmen. Doch dafür sind sie nicht bereit, im Gegenzug der türkischen Bevölkerung die Visumfreiheit zu gewähren. Hinter der Fassade der „Verteidigung europäischer Werte“ und der Kritik „autoritärer Regime“ verbirgt sich die blanke und ungefesselte Fremdenfeindlichkeit.

Tatsächlich jedoch bietet diese Klausel, die allen türkischen Staatsbürger*innen die gleiche Visumfreiheit in der EU zugesteht, wie sie für die Bevölkerung der EU-Staaten schon in großen Teilen der Welt gilt, das einzig fortschrittliche Element des gesamten Abkommens. Nicht ohne Grund führten die europäischen Innenminister*innen vor wenigen Wochen eine Notfall-Regelung ein für den Fall, dass „zu viele“ Menschen dieses Recht in Anspruch nehmen sollten.

Blutiger Deal

Doch auch wenn die Kritik von Seehofer und Petry aus einer reaktionären Perspektive geschieht, ist der EU-Türkei-Deal auf mehreren Ebenen „blutig“. Einerseits sperrt er Hunderttausende Geflüchtete in der Türkei ein, die unter elenden Bedingungen in Lagern leben müssen, wenn sie nicht für Hungerlöhne überausgebeutet werden oder an der türkisch-syrischen Grenze erschossen werden.

Gleichzeitig belebt er die „Mittelmeerroute“ – vom fragmentierten Libyen nach Italien – wieder neu. Berichten zufolge warten schon 800.000 Menschen, aus Eritrea, Sudan, Mali, Senegal, und vielen weiteren afrikanischen Staaten auf eine Überfahrt. Die Festung Europa füllt das Massengrab im Mittelmeer – alleine in der vergangenen Woche starben zwischen 700 und 900 Geflüchtete.

Andererseits bestärkte erst die diplomatische Anerkennung der EU Erdogan zu einem neuen Kapitel der Offensive gegen die kurdische Bevölkerung sowohl durch den Krieg in den kurdischen Gebieten als auch durch die undemokratischen Angriffe auf die Abgeordneten der pro-kurdischen HDP. Das reiht sich in ein allgemeines Panorama der Freiheitseinschränkungen und der Bonapartisierung des türkischen Regimes ein, wie man im Falle der oppositionellen Journalist*innen von „Cumhuriyet“ und der Entmachtung Ahmet Davutoglus sehen kann.

Bricht das Kartenhaus ein?

Der Streit um die Visumfreiheit und die Reform der Anti-Terror-Gesetze könnten das Abkommen jedoch zum Scheitern bringen. Eine der 72 Bedingungen, welche die EU für die Visumfreiheit für Türk*innen stellt, ist eine Reform der Anti-Terror-Gesetze. Diese werden von der türkischen Regierung jedoch dafür benutzt, Journalist*innen, Oppositionspolitiker*innen und Kurd*innen zu verfolgen und hinter Gitter zu stecken. Solange die Opposition noch nicht vollkommen am Boden liegt, wird Erdogan keine Reform der Anti-Terror-Gesetze zulassen.

Das EU-Parlament kündigte daraufhin an, ohne die Erfüllung aller Bedingungen würden sie kein grünes Licht für die Visumfreiheit geben, die eigentlich schon Anfang Juni in Kraft treten sollte. Erdogan antwortete deutlich: Ohne Visumfreiheit, kein Rückführungsabkommen. Die Gespräche zwischen der EU und der Türkei, zwischen Merkel und Erdogan sind in einer Sackgasse.

Erdogans Aussagen entsprechen jedoch nicht dem realen Kräfteverhältnis, sondern sind ein einfacher Kartentrick: International isoliert befindet sich das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise, die besonders durch den Konflikt mit Russland verschärft wurde, und kann sich von den inneren Unruhen nicht befreien. Sollte jetzt der EU-Türkei-Deal scheitern, abgesehen von den wichtigen Milliardenversprechen, wäre das auch eine Schwächung Erdogans Position in der Türkei.

Merkel ihrerseits kann aufgrund der zunehmenden Kritik an dem Deal keine weiteren Zugeständnisse mehr machen. Ein Scheitern würde ein zentrales Element ihrer „europäischen Lösung“ zerstören. Doch während das Abkommen Ende letzten Jahres unumgänglich war und der Abschluss zu einer kurzzeitigen Stärkung ihrer Position in der EU führte, sucht die Bundesregierung schon nach neuen Wegen, um die Festung Europa dicht zu halten. Zahlreiche Asylpakete und Rückführungsabkommen wie mit den Maghreb-Staaten oder Afghanistan zur reibungslosen Abschiebung wurden getroffen. Angesichts der Wiederbelebung der Mittelmeerroute wird auch die Militarisierung des Mittelmeers und Nordafrikas weiter zunehmen. Im Falle eines Scheiterns hat Merkel also schon einen „Plan B“ in der Hinterhand, der genauso blutig wie der „Plan A“ ist.

Es nähern sich entscheidende Stunden für den Erhalt des reaktionären EU-Türkei-Deals. Nach einer kurzen Verschnaufpause kommen die großen Verwerfungen in dem imperialistischen Staatengebilde und der deutschen Parteienlandschaft erneut ans Tageslicht, die sich in der „Migrationskrise“ bildeten oder vertieften. Es ist klar: Es braucht nur eine Sommerbrise, um Merkels Kartenhaus zum Einsturz zu bringen.

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