Streikwelle erreicht Rostock
Bismarck sagte einmal, in Mecklenburg komme alles 50 Jahre später. Das Überschwappen der aktuellen Streikwelle ließ allerdings nicht so lange auf sich warten.
Bild: Rostock – „IMG_1087“ by Red_One is licensed under CC BY-NC-SA 2.0
Vor zwei Jahren fand im Rostocker Nahverkehr der „erste richtige Streik“ statt. Damals fuhr, von Betriebsbeginn um drei Uhr morgens bis acht Uhr Vormittag, kein Bus und keine Straßenbahn. Am 23. Januar 2020 gab es nun den ersten ganztägigen Streik der Rostocker Bus- und Straßenbahnfahrer*innen seit dem Zweiten Weltkrieg. Schon eine Woche zuvor hatte ver.di zu einem siebenstündigen Streik aufgerufen.
Dieser Streik gliedert sich in eine allgemeine Streikkonjunktur in Deutschland ein. Die Streikflaute zu Beginn der 2010er Jahre ist überwunden. Besonders das Jahr 2018 schlug mit 1,2 Millionen Streiktagen heftig zu Buche. Dabei war vor allem die große IG-Metall Tarifrunde entscheidend, die alleine 60 Prozent des Streikvolumens ausmachte. Da die IG Metall für die diesjährigen Tarifverhandlungen bereits einen Rückzieher macht und angesichts der schleppenden Weltkonjunktur eine Burgfriedenpolitik anbietet, wird sich das in der Streikstatistik 2020 niederschlagen.
Auch befindet sich Deutschland in Bezug auf seine Streiktage im internationalen Vergleich immer noch im unteren Mittelfeld. Nicht erst mit dem großen Streik gegen die Rentenreform oder gegen das „Loi Travail“ führt Frankreich die Statistik an. Trotzdem gibt es in Deutschland angesichts der guten wirtschaftlichen Konjunktur der letzten Jahre und steigender Mieten einen größeren Streikwillen. Für die Gewerkschaftsbürokratie wird es zunehmend schwierig die Arbeiter*innen mit kampflosen Kompromissen am Verhandlungstisch ruhig zu stellen. Vor allem durch die wachsenden Lebenshaltungskosten und der wirtschaftlichen Entwicklung seit der Agenda-Reform wollen immer mehr Beschäftigten, dass das Versprechen eingelöst wird, dass auch sie etwas vom Kuchen abhaben. Denn das war das grundlegende Versprechen dahinter.
Dass die SPD ihre neoliberale Politik überhaupt durchsetzen konnte, verdankt sie der Vermittlung durch die Gewerkschaftsbürokratie. Diese konnte jedoch die Waffenruhe nicht einfach verordnen. Dafür waren die Beschäftigten zu unzufrieden und wütend. Und so kündigte man an, das Geld müsse vor der Umverteilung erst einmal erwirtschaftet werden. Man versprach aber, nach Jahren des „den Gürtel enger schnallen“ bald wieder aus satten Trögen schöpfen zu können. Dieses Versprechen wird jedoch nicht eingehalten und sind die materiellen Bedingungen für die aktuelle Streikkonjunktur.
Seit dem hat sich die deutsche Konjunktur prächtig entwickelt. Das deutsche Kapital konnte trotz Krise seine Gewinne erhöhen. Aus dem „kranken Mann Europas“ wurde der Exportweltmeister und die unangefochtene Wirtschaftsmacht Europas.
Doch wie die aktuelle Tarifrunde der IG Metall schon andeutet, macht der Wirtschaftskrieg zwischen USA und China dem ganzen einen Strich durch die Rechnung. Auswirkungen gibt es vor allem auf die deutsche Metallindustrie, wo vor allem durch den Wandel in der Automobilindustrie Stellenstreichungen und Schließungen erfolgen. Nicht zuletzt hatte sich auch der Streik bei Hallberg-Guss in der Statistik niedergeschlagen.
In diesem Szenario sehen wir eine Streikkonjunktur von kleinem Ausmaß, die sich nun auch im Rostocker Nahverkehr niederschlägt. Die materiellen Bedingungen dafür – das uneingelöste Versprechen der Agenda-Reform nach Jahren der Enthaltsamkeit wieder vom erwirtschafteten Reichtum zu profitieren – werden sich jedoch mit dem Brexit und der protektionistischen US-Handelspolitik von Trump weiter verschärfen. Wie sich die Dinge entwickeln wird eine Frage realer Kräfteverhältnisse. Die Situation ist jedoch offen und so explosiv wie lange nicht und wird sich unwiederbringlich im Bewusstsein der multiethnischen Arbeiter*innenklasse in Deutschland niederschlagen.
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