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Streiks gegen Abschiebungen und für offene Grenzen

03.11.2019, Lesezeit 7 Min.
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Mit weltweit über 70 Millionen Menschen auf der Flucht gibt es heute die höchste Zahl an Geflüchteten seit dem Zweiten Weltkrieg. Die militärische Aufrüstung der nationalen Grenzen, die Errichtung von Inhaftierungslagern, die Sperrung der Fluchtwege, die willkürliche Definition von „sicheren Herkunftsländern“ und die Entrechtung von asylsuchenden Menschen drücken in aller Schärfe aus, dass der Imperialismus die Triebkraft der gesellschaftlichen Stagnation ist. Aus der ersten Ausgabe der neuen Druckzeitung KlasseGegenKlasse.

Foto: Osnabrück Alternativ

Im Jahr 2013 schrieb der französische Intellektuelle Etienne Balibar, es werde notwendig sein, „dass die Gesellschaften der Gegenwart, mit ihrem Anspruch, alle Vorteile aus der Globalisierung der Kommunikations- und Geschäftsbeziehungen zu ziehen, sich dazu durchringen, ein neues Recht einzusetzen: ein Recht, das die Bewegung der Menschen, ihren Aufenthalt, ihre Arbeit, ihren sozialen Schutz betrifft und das es über die Grenzen hinweg zu etablieren gilt.“ Im Grunde genommen handelte es sich bei der Forderung nach offenen Grenzen um genau dieses Element, das Balibar hervorgehoben hat: Ein Recht zu etablieren, um die Bewegungsfreiheit der Menschen, ihren Aufenthalt, ihre Arbeit, ihren sozialen Schutz über die Grenzen hinweg zu garantieren. Es handelte sich dabei um eine defensive Forderung, die angesichts der akuten Lage aufgestellt wurde. Um die Aussage zu überspitzen: Es wurde verlangt, die asylsuchenden Menschen im Rahmen der Werte des Universalismus zu empfangen. Komme der Staat seiner Verantwortung nicht nach, müsse die Zivilgesellschaft an seine Stelle treten. Aus diesem Konflikt ist eine Praxis hervorgegangen, in der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in der Asylfrage eine Verantwortung als Vermittlungsinstanzen übernehmen.

Es gibt keinen Kapitalismus ohne Rassismus

Trotzki betont 1938, die kapitalistische Demokratie sei „die aristokratischste aller Herrschaftsformen“1 und hebt die Metaphysik der Demokratie hervor, die auf das Naturrecht zurückgreift, sich aber in ihrer Umsetzung nicht vom Partikularismus lösen kann, da die Interessen der kapitalistischen Klasse die Grundlagen der Gesellschaftsformation bestimmen.

Die Debatte über offene Grenzen hat diese Metaphysik bestärkt, denn „zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt“2. Veranschaulicht wird dies durch den Widerspruch, dass für das deutsche Kapital und seine Eigentümer*innen offene Grenzen bereits Realität sind. Wer wird einer deutschen Firma die Investition oder Investor*innen ein Visum verweigern? Währenddessen müssen Arbeiter*innen aus ausgebeuteten Ländern Gefahren und Qualen überstehen, um ihr Recht auf Migration durchzusetzen. An anderer Stelle stellten wir die These auf, dass wir es in Deutschland mit einem Widerspruch zu tun haben, „dass die globalisierten deutschen Konzerne als ‚progressive‘ Akteure in der Migrationsfrage wahrgenommen werden“. Wir haben das Bild eines Siebes angewendet, um die Methode zu veranschaulichen, „wodurch die Abschiebung der ‚Unnützlichen‘ und das Beibehalten der jungen billigen Arbeitskräfte zu legitimieren versucht wird“. Seit dem “Migrationspaket” der Bundesregierung können Geflüchtete, wenn sie nach einem Jahr keine Arbeit gefunden haben, abgeschoben werden. Im ökonomischen Kern dieser Methode erkennen wir vor allem, dass der Rassismus ein essenzieller Bestandteil des kapitalistischen Systems ist. Das Kapital sucht, grundlegende Rechte wie das Bleiberecht so zu konditionieren, dass sie unter den Zwang der Mehrwertproduktion fallen. Das Kapital in seiner Phase sogenannter ursprünglicher Akkumulation hat Lektionen gezogen, um effiziente Techniken zur Mehrwertschaffung zu finden, die außerdem zur Disziplinierung, Ausgrenzung und Fragmentierung der Arbeiter*innen beigetragen haben.3

Kosmopolitisches Kapital und nationalistische Arbeiter*innen?

In der aktuellen Krise scheint die Welt Kopf zu stehen: Die Mehrheit der europäischen Parteien gibt sich als „kosmopolitisch“ und progressiv. Sie verkaufen uns die EU, das Gebiet mit den tödlichsten Außengrenzen, als einen Schutzwall gegen den aufkommenden Nationalismus von Johnson, Weidel und Co. Es wird von der Großartigkeit der EU geredet, in der noch die Bewegungsfreiheit existiere. Jedoch wird das Recht auf offene Grenzen nicht für Geflüchtete und Migrant*innen verallgemeinert: Die Bewegungsfreiheit existiert, indem sie für den Großteil der Menschheit nicht existiert.

“Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom”, schrieb Walter Benjamin. Im Zuge der neoliberalen Angriffe auf den Lebensstandard der Massen, die mit dem Versagen der SPD und der Krise der Sozialpartnerschaft zusammengehören, endete die Ilussion, mit dem Strom zu schwimmen. Die Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg scheint nicht mehr zu existieren. Allerdings wiederholt sich die Geschichte in dem Sinne, dass Teile der Arbeiter*innenklasse die Schuld am Verlust ihres Lebensstandards in den entrechteten und überausgebeuteten Teilen der Klasse suchen. Die Spaltung unserer Klasse wird vom Kapital und seinen Handlangern aufrechterhalten, weil sie in ihrem Interesse ist. Somit zerfällt die Lüge der „gutmenschlichen“ Kapitalist*innen, die ihre Moral nur so lange aufrechterhalten können, wie es Grenzkontrollen und Obergrenzen gibt. Die aktuelle Krise, die als „Flüchtlingskrise“ bezeichnet wird, ergibt sich daher aus der Tatsache, dass die Arbeiter*innenklasse stark fragmentiert ist und es momentan keine Partei gibt, die die rassistischen und anderen Spaltungen bekämpfen könnte.

Wer zerreißt die Grenzen?

Wenn wir also in einer Welt ohne Grenzen leben wollen, in der die Bewegungsfreiheit nicht nur für eine kleine Minderheit gilt, müssen wir uns nach dem Weg fragen. Die Durchsetzung der offenen Grenzen würde in imperialistischen Ländern wie Deutschland die kapitalistische Demokratie zersprengen, da der Nationalstaat, in dem sich diese entfaltet, in Frage gestellt werden würde. Da es um politische Rechte geht, die theoretisch innerhalb einer kapitalistischen Demokratie möglich sind, können wir sie demokratische Übergangsforderungen nennen, die den Klassencharakter und die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaats in Frage stellen. Antirassistische Forderungen wie diese, die den Bewusstseinsstand der Avantgarde erhöhen, werden die fortgeschrittenen Arbeiter*innen zu der einzig logischen Schlussfolgerung bringen: die Emanzipation der Arbeiter*innen und Unterdrückten ist mit dem Nationalstaat und seinen Grenzen unvereinbar. Der Kampf für offene Grenzen kann daher nicht improvisiert, sondern muss vorbereitet werden. Die Grundlage dafür ist der Kampf für die Einheit der Arbeiter*innenklasse und ihrer Verbündeten gegen Rassismus und Reaktion. Die antirassistische Bewegung muss in der Arbeiter*innenklasse ihre strategische Verbündete sehen, ohne die ihre Forderungen nicht durchgesetzt werden können. Gleichzeitig müssen die Gewerkschaften als Kampforgane der Arbeiter*innen sich das Ziel setzen, jede Form von Unterdrückung und Überausbeutung mit allen Mitteln zu bekämpfen. Lenin formulierte diesen Aspekt als konsequenter Demokratismus der Arbeiter*innen: “Dem nationalen Gezänk der verschiedenen bürgerlichen Parteien wegen der Sprachenfrage usw. stellt die Arbeiterdemokratie die Forderung entgegen: unbedingte Einheit und restlose Verschmelzung der Arbeiter aller Nationalitäten in allen Gewerkschafts-, Genossenschafts-, Konsum-, Bildungs- und allen anderen Arbeiterorganisationen, als Gegengewicht gegen jeden bürgerlichen Nationalismus. Nur bei einer solchen Einheit, einer solchen Verschmelzung kann die Demokratie behauptet werden, können die Interessen der Arbeiter gegen das Kapital – das bereits international ist und es immer mehr wird – behauptet, können die Interessen der Entwicklung der Menschheit zu einer neuen Lebensform, der jedes Privileg und jede Ausbeutung fremd sind, behauptet werden.“4 Es ist offensichtlich, dass dies nicht im Rahmen der aktuellen Passivität geschehen kann: Streiks gegen Abschiebungen und für offene Grenzen sind die stärksten Mittel, die unsere Klasse in ihrem Arsenal hat, um den Rassismus und das Grenzregime zu beseitigen.

Fußnoten

1. Leo Trotzki: Das Übergangsprogramm. Arbeiterpresse-Verlag 1997. S. 5.
2. Karl Marx: Das Kapital. Bd. 1. In: MEW Bd. 23. S. 249.
3. Susan Bock-Morrs stellt in dem Buch „Hegel und Haiti“ ihre Forschungen diesbezüglich dar: „Auch wenn spätere Historiker darauf hinweisen sollten, die mangelnde Effizienz der Sklavenarbeit sei mit der kapitalistischen Modernisierung nicht kompatibel gewesen, so bestand das eigentliche Problem (…) darin, wie die Arbeiter sich dazu bewegen ließen, sich freiwillig in ihr Schicksal zu fügen. Ein klarer Fall von Verleugnung: Je größer das Volumen der von afrikanischen Sklaven geleisteten Arbeit wurde und je poröser (und damit fiktiver) die Grenze zwischen den Kolonien, in denen Sklavenarbeit weit verbreitet war, und Europa wurde, wo man die Sklaverei ablehnte, desto strengere Gesetze wurden verabschiedet, um das System aufrechtzuerhalten.“
4. W. I. Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage. In: Werke Bd. 20. S. 6f.

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