Streikmonitor 2022: „Härtere Tarifkonflikte nötig“
Erst noch Pandemie, dann Inflation: Der aktuelle Streikmonitor dokumentiert ein Jahr des Umbruchs im Arbeitskampfgeschehen. Eine wichtige Frage aber bleibt unbeantwortet.
Die wichtigste Nachricht zuerst: Im Jahr 2022 fanden in Deutschland 246 einzelne Arbeitskämpfe statt – so viele wie noch nie seit 2016. Damals ging unter der Leitung des Soziologen Stefan Schmalz das Projekt Streikmonitor an der Universität Erfurt an den Start. Gefördert von der Heinz-Jung-Stiftung ist das Ziel, alle Streikaktivitäten in der Bundesrepublik in einer Datenbank zu sammeln. Die Berichte erscheinen halbjährlich in der ZeitschriftZ. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. Das Ergebnis der aktuellen Untersuchung: „Das Streikjahr 2022 war ein Jahr des Umbruchs im Streikgeschehen.“
Dieser Umbruch betrifft weniger die absoluten Zahlen. 930.000 Menschen haben sich 2022 an Streiks beteiligt, insgesamt gingen dadurch 674.000 Arbeitstage verloren – etwas mehr als noch 2021 und um ein Vielfaches mehr als während des Lockdownjahres 2020. Damit war 2022 „kein streikarmes Jahr“. Von einem Ausreißer wie 2015 war es jedoch weit entfernt. Die meisten der insgesamt 246 Konflikte wurden von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ausgetragen (43 Prozent), gefolgt von der IG Metall (30 Prozent). Die kleineren DGB-Gewerkschaften IG BCE, GEW, IG BAU und EVG waren gemeinsam hingegen nur an knapp sieben Prozent der Arbeitskämpfe beteiligt. Hervor sticht hier die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Nicht nur führte sie fast so viele Kämpfe wie die vier zuvor Genannten zusammen. Mit dem Arbeitskampf bei Teigwaren Riesa geht auch ein besonders wichtiges Beispiel auf das Konto der Lebensmittelgewerkschaft.
Kämpfe für einen Inflationsausgleich
Was sich im Laufe des Jahres deutlich verändert hat, war der gesellschaftliche und politische Hintergrund. Während viele Arbeitskämpfe im ersten Halbjahr 2022 noch von den Auswirkungen der Covid19-Pandemie bestimmt waren, drängte im Jahresverlauf die rapide steigende Inflation in den Vordergrund.
Der Konflikt bei Teigwaren Riesa fällt in diesen „neuen Zyklus inflationsgetriebener Kämpfe“, wie die Autoren des Berichts, Sebastian Liegl und Juri Kilroy, schreiben. Bei dem sächsischen Lebensmittelhersteller waren die Beschäftigten am 17. Oktober nach mehreren Warnstreiks in einen mehrwöchigen Ausstand getreten – mit Erfolg. Mit rund sieben Wochen Streik erkämpften sie eine Erhöhung des Stundenlohns um insgesamt zwei Euro und verkleinerten damit das Lohngefälle zu ihren westdeutschen Kolleg:innen. Auf diese politische Dimension des Kampfes hatten die Streikenden mit einer Protestkundgebung vor dem Brandenburger Tor am 9. November verwiesen. Am Jahrestag des Mauerfalls traten die Beschäftigten dafür ein, die „Niedriglohn-Mauer“ einzureißen. Teigwaren Riesa zeige, so die Autoren, „die Mobilisierungskraft einer ostdeutschen Belegschaft unter widrigen Bedingungen.“ Zur Unterstützung des Streiks war ein Solidaritätsfonds eingerichtet worden, da das Streikgeld wegen der niedrigen Löhne vielen Beschäftigten nicht zum Leben reichte. Auch wir von Klasse Gegen Klasse haben Spenden gesammelt.
Das zweite Beispiel, das der Bericht ausführlich bespricht, ist die bedeutendste Auseinandersetzung des Jahres: die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie. Mit einer Forderung nach acht Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von 12 Monaten war die IG Metall im September in die Verhandlung gegangen. Heraus kam nach etwas über zwei Monaten etwas ganz anderes: 8,5 Prozent mehr bei einer Laufzeit von 24 Monaten, dazu Einmalzahlungen. Die erste tabellenwirksame Lohnerhöhung gab es sogar erst jetzt – im Juni 2023. Die Ergebnisse seien „durchwachsen, aber vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation vertretbar“ gewesen, so der Streikmonitorbericht. Dass nicht alle Mittel ausgeschöpft wurden, um einen besseren Abschluss zu erkämpfen, klingt aber auch in dem nüchtern gehaltenen Bericht durch. So habe die IG Metall zwar sogenannte 24-Stunden-Streiks angekündigt, nachdem die Warnstreiks mit 900.000 Beteiligten erfolgreich verlaufen waren. Genutzt hat sie diese weitergehende Streikform jedoch nicht – von einem Erzwingungsstreik ganz zu schweigen.
Über den Streikmonitorbericht hinaus sollten auch die Streiks der Beschäftigen an den norddeutschen Seehäfen Erwähnung finden, die nach monatelangen Auseinandersetzungen Mitte Juli ihren Höhepunkt fanden. Anschließend einigte sich die ver.di-Führung mit den Arbeitgeber:innen vor Gericht auf eine sechswöchige Friedenspflicht, wobei das Ergebnis letztlich vor Ende der Frist ausgehandelt wurde – und das ohne Mitgliederentscheid. Mit Lohnsteigerungen von 9,4 Prozent in den Vollcontainerbetrieben, 7,9 Prozent in den Stückgutbetrieben sowie 3,5 beziehungsweise 2,5 Prozent in Betrieben der Kategorie C bei einer Laufzeit von 24 Monaten konnte von einem Inflationsausgleich keine Rede sein.
Streiks ganz ohne Gewerkschaft
Während die große Mehrheit der Hunderttausenden Streikenden von einer DGB-Gewerkschaft zur Arbeitsniederlegung aufgerufen worden war, gab es durchaus auch Auseinandersetzungen jenseits ihres Einflussbereichs. 18 Arbeitskämpfe wurden von Organisationen ausgefochten, die nicht zum Gewerkschaftsbund gehören, darunter die Vereinigung Cockpit an den Flughäfen oder die Ärzt:innen beim Marburger Bund.
Der Streikmonitor verzeichnet jedoch auch Arbeitsniederlegungen, die völlig ohne Gewerkschaft stattfinden, „wilde“ oder „nicht-normierte“ Streiks. Elf solche Konflikte sind Teil der Datensammlung. 2021 hatte der Streik der Kurier:innen des Lieferdienstes Gorillas für großes Aufsehen gesorgt. Im Folgejahr waren die Kämpfe vergleichsweise weniger öffentlichkeitswirksam. Mit vielleicht einer Ausnahme: Weil nach der Verurteilung des Starkochs Alfons Schuhbeck wegen Steuerhinterziehung dessen Konten eingefroren wurden, blieben zwei Monate lang Löhne unbezahlt – und dann die Arbeit liegen. Die Folge: ein „Küchen-Streik beim FC Bayern“, wie die Bild schrieb, denn Schuhbecks Firma kochte für den deutschen Fußballrekordmeister der Männer.
Härtere Kämpfe – aber wie?
Der Streikmonitor konstatiert eine „Logik plötzlicher hoher Inflation“, wobei die Tarifparteien in Angeboten und Forderungen mitunter weit auseinander lägen. Daraus ergebe sich ein gewerkschaftlicher Lernprozess für die kommenden Jahre: „Tarifkonflikte müssen härter geführt werden, wenn Reallohnverluste verhindert werden sollen.“
Was aber bedeutet es, solche Kämpfe härter zu führen? Oder anders gefragt: Was hindert die Gewerkschaften bisher daran? In dem Bericht bleibt die Gewerkschaftsbürokratie völlig unsichtbar. Dabei ist sie es, die zu verantworten hat, dass die Metall- und Elektrorunde weit unter ihren Möglichkeiten geblieben ist. Mit ihrer Beteiligung an der Konzertierten Aktion, also dem Verhandlungstisch mit Unternehmen und Regierung, hatte sie selbst Anteil daran, dass der berechtigte Unmut der Beschäftigten gebremst wurde. Schließlich wurden dort eben jene steuerfreien Sonderzahlungen ausgehandelt, die die Unternehmen dann benutzen konnten, um die Forderungen nach tabellenwirksamen Lohnerhöhungen zu kontern. Damit erkauften sie sich lange Laufzeiten, die ihnen in der Inflationskrise Ruhe verschaffen sollten.
Dass es mitunter zwar hohe Forderungen gab, wie der Streikmonitor festhält, steht außer Frage. Zweistellige Lohnerhöhungen wie etwa bei Suhler Tiefkühlkost im Mai oder dem Logistik-Unternehmen MOSOLF im Leipziger Porschewerk im November blieben jedoch die absolute Ausnahme. Angesichts der Inflation genügt es nicht, wenn sich die Gewerkschaftsbürokratie in aller Regel nur unter Druck gesetzt sieht, etwas höhere Lohnforderungen aufzustellen, um die Beschäftigten dann doch mit Einmalzahlungen abspeisen zu lassen. So auch in der Metall- und Elektrobranche: Die 24-Stunden-Streiks hätten nur der Auftakt eines Kampfplanes mit einem unbefristeten Erzwingungsstreik sein dürfen. Angesichts horrender Preise muss das Ziel heute heißen: automatischer Inflationsausgleich!
Der Ausblick, mit dem der Bericht zum Streikmonitor endet, ist inzwischen von den Ereignissen überholt worden. Nach dem „Streikfrühling“ sieht es aber tatsächlich so aus, als könnte 2023 in Deutschland wie auch international als ein streikintensives Jahr in die Datensammlung eingehen.
Um Tarifkonflikte härter führen zu können, muss eine linke Opposition innerhalb der Gewerkschaften aufgebaut werden, die sich antibürokratisch und klassenkänpferisch organisiert. Um dies voranzutreiben, beteiligen wir uns als Klasse Gegen Klasse an der Vernetzung für Kämpferische Gewerkschaften (VKG). In dieser Perspektive wollen wir Kolleg:innen aus unterschiedlichen Sektoren zu gemeinsamen Streiks zusammenbringen, um auch politische Forderungen wie den Inflationsausgleich für alle, Milliardeninvestitionen in Soziales, die Einführung einer Vermögenssteuer und das Ende der Aufrüstung, ebenso wie die Enteignung aller Kriegs- und Krisenprofiteur:innen und eine soziale und ökologische Umwandlung der Wirtschaft durchzusetzen.