Staat, Korruption, Macht

30.04.2021, Lesezeit 25 Min.
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Foto: Macaco do Sul / Instagram: @macacodosul

Über die Tradition der Bestechung in der BRD, ihre Wurzel im Kapitalismus und ein radikaldemokratisches Programm gegen jegliche Korruption

„Jedermann befolgt des Judas‘ Regel: Was wollt ihr mir geben?“ So lautet ein deutsches Sprichwort in Anlehnung an das Matthäus-Evangelium. Nach den zahlreichen Korruptionsaffären der letzten Zeit ist klar: Im deutschen Bundestag besitzt es heute seine volle Gültigkeit. Es beginnt bei CDU/CSU und reicht über die SPD bis hin zu den Grünen, die sich nach einer Dienstzeit im Parlament gern in gut bezahlte Interessenvertreter:innen verwandeln.

Anders als in der Vergangenheit, als Korruptionsskandale für die Bevölkerung eine abstrakte Größe waren, wühlt die aktuelle Maskenaffäre große Teile der Bevölkerung auf. Sie erfahren am eigenen Leib, welche direkten Auswirkungen die Korruption auf ihre Lebensbedingungen hat. Millionen Menschen sahen mit an, wie sich korrupte Politiker:innen und ihre Freund:innen und Kumpan:innen in der Wirtschaft bereichern konnten, während sie selbst tiefer in die Taschen greifen mussten, um die plötzlich steigenden Preise für Schutzmasken zu bezahlen. Cui bono? Um diese Frage zu beantworten, brauchte man lediglich in den eigenen Geldbeutel zu schauen.

Als die Maskenaffäre bekannt wurde, stürzten CDU/CSU in den Umfragen zur Bundestagswahl ab. In wenigen Tagen sanken sie von 38 Prozent auf zuletzt nur noch 22 Prozent. Die Union bestätigte damit wieder einmal ihre Rolle als die korrupteste Partei Deutschlands, was sich wie ein roter Faden durch ihre Parteigeschichte zieht. Die Akteur:innen sind dabei nicht nur die kleinen Fische, sondern auch ganz große wie Gesundheitsminister Jens Spahn. Er kaufte sich eine Luxusvilla für rund fünf Millionen Euro – ganz ohne Eigenbeteiligung – und verkaufte über seinen Ehemann überteuerte FFP2-Masken an das Gesundheitsministerium.

Rasch wurde versucht zu beschwichtigen, alles auf „Einzelfälle“ zu reduzieren. Den freien Fall in den Umfragen konnte das nicht aufhalten, denn diesmal sehen Millionen, was Korruption bedeutet: Reiche werden reicher auf Kosten der Mehrheit, auf Kosten der Gesundheit von Kindern und Alten, auf Kosten der Beschäftigten.

Die Bevölkerung scheint in der Krise weniger Verständnis für die „Verfehlungen“ derjenigen „da oben“ zu haben; die „unethische“, aber weitgehend legale Bereicherung von Abgeordneten scheint ihre Grenze am Geldbeutel derjenigen „da unten“ zu haben. Vielen wurde nun klar, dass es Union und FDP gewesen waren, die – manchmal flankiert von der SPD – parlamentarische Anträge zur Auskunftspflicht für Nebeneinkünfte von Abgeordneten oder Vorstöße für ein Lobbyregister stets abgeschmettert hatten.

Plötzlich jedoch endete wie von Zauberhand die Berichterstattung über die Affäre. Nachrichtenseiten und Fernsehprogramme waren tagelang damit beschäftigt, die Aufmerksamkeit auf andere Schauplätze zu lenken. Im Fokus standen nun entweder Merkels Rückzieher zu der angeordneten Osterruhe oder der Vorwahlkampf um die Kanzlerkandidatur der Union. Das „Machtvakuum“ angesichts von Merkels Rückzieher und die „Zänkerei“ zwischen Laschet und Söder waren der bürgerlichen Presse offensichtlich wichtiger als die Offenlegung der schmutzigen Geschäfte der CDU/CSU-Fraktion.

Wir werden in diesem Artikel eine tour de force durch die korrupte Geschichte der Bundesrepublik von ihrer Gründung bis heute unternehmen und ein Programm vorschlagen, mit dem wir damit aufräumen können.

Wie korrupt ist die Bundesrepublik Deutschland?

Um diese Frage zu beantworten, lohnt ein Blick auf die Wurzeln dieses Staates. Hitler wäre ohne die Unterstützung der Industriellen nie an die Macht gekommen. Das NS-Regime verschaffte dem deutschen Kapital astronomische Gewinne in der Rüstungsindustrie, durch die Ausplünderung der besetzten Länder und durch Zwangsarbeit in den Konzentrationslager. Die Niederlage des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg bedeutete aber nicht das Ende der Industriellen. Die Westalliierten wollten ein starkes Bollwerk gegen den Kommunismus und so konnten Schlüsselfiguren aus Industrie, Verwaltung, Polizei, Justiz und Militär auch in der jungen BRD ihre Posten behalten. Die großen deutschen Konzerne wie Bayer, BASF, BMW, VW oder Daimler hatten zwar einen großen Teil ihres Kapitals im Krieg zusammengerafft. Doch bildeten sie die wirtschaftliche Basis der Bonner Republik, während die Eigentümer:innen der Unternehmen unbehelligt an deren Spitzen blieben. Und sie nahmen maßgeblich Einfluss auf politische Entscheidungen, indem sie mittels ihrer Verbände Druck ausübten – wenn nötig auch durch direkte Bestechung.

Den ersten Untersuchungsausschuss wegen Korruptionsvorwürfen richtete der deutsche Bundestag noch in seiner ersten Wahlperiode ein. Im Nachrichtenmagazin Der Spiegel waren 1950 Bestechungsvorwürfe gegen Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen erschienen. Im Mittelpunkt der Affäre stand die Entscheidung darüber, welche Stadt Regierungssitz der BRD werden sollte. Das Parlament gründete den Ausschuss jedoch nicht etwa, um die Integrität des Parlaments zu wahren, sondern um „die Ehre und die Stellung des ganzen Bundestages“ zu verteidigen. Das Untersuchungsverfahren wurde durch einige verweigerte Aussagen erschwert, verschiedene Abgeordnete trafen nachweislich falsche Aussagen, der Ausschuss verhängte in mehreren Fällen Zwangs- und Ordnungsmaßnahmen. Welche Abgeordneten für welche Entscheidungen bezahlt wurden, konnte dennoch nicht festgestellt werden. Der Bundestag empfahl fünf Abgeordneten ihre Mandate niederzulegen, was diese nicht taten.

Der nächste Skandal ließ nicht lange auf sich warten. 1956 bestellte Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) die ersten Schützenpanzer für die Wiederaufrüstung der Bundeswehr. Ein Schweizer Unternehmen, das Maschinenkanonen, Werkzeuge und Mofas herstellte, hatte zuvor 2,3 Millionen Deutsche Mark an den persönlichen Referenten von Strauß und weitere Gelder an Unionspolitiker und Waffenhändler gezahlt. Insgesamt sollen 50 Millionen D-Mark an die Union geflossen sein. Auch die neue Luftwaffe der Bundeswehr wurde von Strauß hochgerüstet. Entgegen einiger Expertisen und trotz offensichtlich technisch überlegener Konkurrenzangebote wurde dazu die US-amerikanische Lockheed F-104 „Starfighter“ bestellt. Erst 1966 wurde bekannt, dass der Flugzeugkonzern Lockheed insgesamt 22 Millionen Dollar an Schlüsselpersonen verschiedener Staaten gezahlt hatte, um sich Rüstungsverträge zu sichern. Lockheed gab auch zu, zehn Millionen Dollar an Strauß und seine CSU gezahlt zu haben. Mehr als eine weitere Million Dollar ging an Bundeswehrfunktionäre. Aufgrund von weitreichenden technischen Mängeln wurde der Flugzeugtyp in der Luftwaffe als „Witwenmacher“ oder „Sargfighter“ bezeichnet, 300 der 916 Abfangjäger gingen in 30 Dienstjahren verloren, 116 Piloten verloren dabei ihr Leben. Der Bundestag kam zu dem Schluss, dass Strauß keine Bestechung nachzuweisen sei.

Die Unionsparteien standen besonders häufig im Zentrum politischer Korruptionsskandale. Bestechungsgelder sind schließlich bei den höchsten Entscheidungsträger:innen am klügsten investiert und CDU/CSU stellten in der Geschichte der BRD meist die Regierung. In den 1970ern hatte der vom Weltkriegsgewinnler Friedrich Flick gegründete Flick-Konzern über Jahre hinweg politische Entscheidungen zu seinen Gunsten erkauft, unter anderem Steuererleichterungen in Höhe von 986 Millionen D-Mark durch das Bundeswirtschaftsministerium. Die 1981 ermittelten Zahlungen erfolgten hauptsächlich in bar, unter anderem 750.000 D-Mark an Franz Josef Strauß, 565.000 D-Mark an Helmut Kohl (CDU) und mehrere hunderttausend D-Mark an verschiedene Bundesminister. 1986 kam ein CDU-geleiteter Untersuchungsausschuss zu dem Schluss, der Flick-Konzern habe alle damaligen Bundestagsparteien – CDU, CSU, FDP und SPD – über Geldwaschanlagen mit insgesamt über 25 Millionen Mark bezahlt und den Niedergang der Regierungskoalition aus SPD und FDP betrieben. Der inzwischen zum Bundeskanzler aufgestiegene Helmut Kohl behauptete bei seiner Vernehmung im Ausschuss, Erinnerungslücken zu haben, ebenso waren im Gerichtsprozess kaum Zeugen zu brauchbaren Aussagen bereit. Nur der zuständige Flick-Manager Eberhard von Brauchitsch wurde letztlich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, die beteiligten Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und Hans Friderichs (beide FDP) zu Geldstrafen wegen Steuerhinterziehung.

In den 1990ern füllte die CDU ihre Schwarzgeldkassen weiter: Für einen Panzerdeal zwischen der Thyssen AG und Saudi-Arabien nahm der CDU-Schatzmeister Walther Leisler Kiep 1,3 Millionen D-Mark entgegen. Entgegen dem Parteiengesetz flossen diese Gelder unversteuert in die CDU-Kassen. Nachdem dieser Korruptionsfall 1999 aufflog, wurde nach und nach bekannt, dass die CDU illegal mehr als zehn Millionen Mark an Spenden gesammelt hatte. Die zentrale Figur in der Affäre: Bundeskanzler Helmut Kohl, der persönlich zwei Millionen Mark Bargeld entgegengenommen hatte. Das Geheimnis, von wem das Geld kam, hat Kohl mit ins Grab genommen. Ein großer Teil der Gelder floss nach Kohls Angaben in den Aufbau der CDU in Ostdeutschland, wo sie als treibende Kraft die Privatisierungen durch die Treuhand förderte. Teilweise verramschte die Behörde jene Ostfirmen weit unter Wert an westliche Kapitalist:innen, die sich wie im Rausch bereicherten.

Lobbyismus und Korruption in der Berliner Republik

Nachdem die Schwarzgeldkassen aufgeflogen waren, setzte die rot-grüne Bundesregierung einen Untersuchungsausschuss ein. Scheibchenweise räumte die Union ihre Machenschaften ein, doch im Großen und Ganzen kam sie ungeschoren davon. Ein Strafverfahren gegen Kohl wurde gegen die Zahlung von 300.000 Mark eingestellt. Die Schröder-Regierung begnügte sich letztlich mit einer oberflächlichen Aufdeckung. Die Union war zwar vor den Wähler:innen auf Jahre bloßgestellt. Doch den Sumpf aus wirtschaftsnahem Unionspersonal und Lobbyist:innen, der seit der Gründung der BRD das Land dominiert hatte, trockneten SPD und Grüne nicht aus.

Im Gegenteil: Einmal an der Macht, suchten sie selbst die Nähe zu den Konzernen. Schröder erhielt den Beinamen „Genosse der Bosse“, er wurde bekannt für seine persönliche, ja freundschaftliche Beziehung zu Unternehmensvorständen wie Ferdinand Piëch (VW) oder Heinrich von Pierer (Siemens). Für das wichtigste innenpolitische Projekt seiner Regierung, die Hartz-Reformen, holte er sich Rat vom VW-Personalvorstand, Peter Hartz. Es war ein beispielloser Angriff auf die Arbeiter:innen, unmittelbar im Interesse des Großkapitals entwickelt. Im letzten Jahr seiner Amtszeit fädelte Schröder mit Russland einen Deal für eine Ostseepipeline der Nord Stream 2 AG ein. Fünf Monate nach dem Ende seiner Kanzlerschaft wurde er Aufsichtsratsvorsitzender dieses Konzerns mit einer jährlichen „Aufwandsentschädigung“ von 250.000 Euro. Später übernahm er noch Aufsichtsratsposten beim russischen Ölkonzern Rosneft und dem britisch-russischen Energieversorger TNK-BP. Auch mehrere Minister:innen und Staatssekretär:innen aus der Schröder-Zeit machten nach dem Ende ihrer Regierung 2005 eine zweite Karriere in der Wirtschaft. Der grüne Außenminister Joschka Fischer wurde Unternehmensberater, unter anderem für BMW, Siemens und RWE.

Während sich insbesondere die SPD mit der Agenda 2010 vor den Augen der Arbeiter:innen diskreditierte, erholte sich die Union in der Opposition von den Skandalen der Kohl-Ära. Auf den Trümmern von Kohls CDU baute die frische Generalsekretärin Angela Merkel ihre politische Karriere auf. Nach Jahrzehnten, in denen die Regierungsführung der Union auf einem System persönlicher Kumpanei mit den Konzernbossen fußte, modernisierte Merkel ihre Partei und die Mechanismen der Machtausübung. Es ist kein Zufall, dass mit ihr eine ehemalige DDR-Bürgerin 2005 die Kanzlerschaft übernahm. Anders als Kohl oder Schröder hatte sie keine jahrelange Sozialisation an den Tischen der Unternehmenspatriarchen genossen, sondern kam eher als Außenseiterin ins Amt.

Merkel „demokratisierte“ die Möglichkeiten der Konzerne, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Während in den 1970ern nur ein eher elitärer Kreis von etwa 600 Lobbyist:innen in Bonn unterwegs war, stieg ihre Zahl mit dem Umzug der Regierung nach Berlin auf mittlerweile circa 6.000. Zu Füßen der EU-Bürokratie in Brüssel sind es gar 25.000. Anders als noch zu Bonner Zeiten besitzt jeder größere Konzern in Berlin ein eigenes Verbindungsbüro, meist direkt im Regierungsviertel. Heute braucht kein schmieriger Waffenhändler mehr mit Koffern voller Schwarzgeld ins Kanzleramt zu huschen. Lieber eröffnet man gleich einen Lobbysitz, so wie der Rüstungshersteller Krauss-Maffei-Wegmann, dessen Büro einhundert Meter vom Bundestag entfernt liegt. Die Vertreter:innen der Konzerne pflegen enge Kontakte zu Mitgliedern des Bundestages, der Regierung und der Ministerialverwaltungen. Ihr Ziel ist es vor allem, die eigenen Firmeninteressen in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen. Teils schlagen sie den Ministerien sogar direkt Textpassagen vor, die in die Gesetze einfließen.

Allzu häufig kommen die Lobbyist:innen direkt aus dem politischen Umfeld. Viele waren vor ihrem Wechsel in die Konzerne als Bundestagsabgeordnete oder Staatssekretär:innen tätig. Persönliche Connections sind natürlich hilfreich, so wie bei Spahns Ehemann Daniel Funke, der als Vertreter des Burda-Verlags in Berlin sitzt. Wie käuflich die Politik ist, bewies zuletzt auch Philipp Amthor. Der junge CDUler hatte für die US-Hightech-Firma Augustus Intelligence ein Empfehlungsschreiben an Wirtschaftsminister Peter Altmaier übermittelt. Zum Dank erhielt er ein Aktiendepot und einen Direktorenposten. Auch die AfD, die sich gerne als Anti-Establishment-Partei darstellt, unterhält enge Verbindungen zu Konzernen: Olaf Henkel, früherer Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, gehört zu den Großspendern der Partei. Ebenso wie ein gewisser August von Finck, Eigentümer von Mövenpick, der eine illegale Spende an die Partei tätigte. Und Alice Weidel war vor ihrem Wechsel an die AfD-Spitze bei der Investmentbank Goldman Sachs tätig.

Die Finanzjongleur:innen und die große Politik

Politiker:innen und Finanzdienstleister haben ohnehin ein inniges Verhältnis: Sigmar Gabriel (SPD) wechselte nach seiner aktiven Zeit als Bundesminister in den Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Und Friedrich Merz saß vor seinem Comeback auf die Showbühne der CDU im Aufsichtsrat von BlackRock, der größten Vermögensverwaltung der Welt, die weltweit an 17.000 Unternehmen Anteile besitzt und eng mit Regierungen und Banken vernetzt ist.

Als 2007/8 das internationale Finanzsystem einbrach und reihenweise Banken von der Pleite bedroht waren, „rettete“ die Politik der führenden Staaten ihre Geldhäuser mit hunderten Milliarden. Millionen Menschen stürzten über Nacht in die Armut, doch die „systemrelevanten“ Finanzinstitute konnten weitermachen. Kanzlerin Merkel – damals noch in ihrer ersten Amtszeit – verkaufte diese Politik als „alternativlos“.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren die monopolistischen Großbanken aufs Engste mit dem Kapital der Industrieverbände und damit notwendigerweise auch mit den Regierungen verwoben. Seitdem sind sie die treibende wirtschaftliche Kraft, die auf weltweiten Kapitalexport angewiesen ist. Als in den 1980ern und -90ern die westlichen Regierungen nach und nach die Auflagen für Kreditvergabe und Investmentgeschäfte lockerten, um ein stärkeres Wirtschaftswachstum zu befeuern, verselbstständigte sich der Finanzsektor zunehmend. Doch der Crash von 2007/8 brach die Macht der Banken nicht, ganz im Gegenteil. Mit der Bankenrettung gingen die Regierungen Symbiosen mit der Finanzwelt ein, die enger waren als je zuvor. Kein bürgerlicher Staat kann politisch gegen die Stimmung an den Anleihemärkten handeln. Dadurch sind die Regierungen hochgradig abhängig vom Finanzkapital – ohne sie gibt es keine Refinanzierung der Staatsschulden und Unternehmenskredite.

Jede bürgerliche Regierung besitzt einen gewissen Hang zur Korruption. Ihre Ministerien und Bürokratien sind Magnete für Karrierist:innen, die täglich in Verbindung zu den Lobbyist:innen des Kapitals stehen. Da liegt es nahe, der ein oder anderen Aufmerksamkeit nicht abgeneigt zu sein. Doch einige Beamt:innen mit großen Augen machen noch nicht notwendigerweise eine korrupte Regierung. Dafür müssen weitere strukturelle Gegebenheiten hinzukommen, die dann die Korruption fast schon systemimmanent werden lassen. Herauskommt eine Regierung, die aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Finanzkapital gar nicht anders kann, als „alternativlos“ den heimischen Banken und Konzernen schubkarrenweise Steuergeschenke vor die Füße zu kippen und ihnen alle Wünsche zu erfüllen.

Nehmen wir als Beispiel einen gewissen Olaf Scholz (SPD). 2016 bekam er als Bürgermeister der Hansestadt Hamburg von seinen Steuerprüfer:innen Unterlagen über die Privatbank Warburg auf den Tisch. Diese war in die betrügerischen Cum-Ex-Geschäfte verwickelt. Mit dieser Methode von kriminellen Aktiengeschäften erschlichen sich Banken und Superreiche Steuerrückzahlungen, die sie aber nie vorgestreckt hatten. Dem deutschen Staat raubten sie so etwa circa zehn Milliarden Euro. Olaf Scholz lagen Erkenntnisse solcher Betrügereien von Warburg vor, doch nach einem Treffen mit dem Inhaber der Bank entschloss sich die Hamburger Finanzverwaltung, auf die Forderung der Rückzahlung von 47 Millionen Euro zu verzichten. Danach verjährte die Zahlungsfrist, das Geld war weg. Die Opposition wirft Scholz vor, seine Stellung genutzt zu haben, um der Bank das Geld zu schenken und somit ihre drohende Pleite zu verhindern.

Seitdem ist der Fall Gegenstand von Untersuchungsausschüssen und Gerichtsprozessen. Trotz der ungeheuerlichen Vorwürfe stieg Olaf Scholz zum stellvertretenden Bundeskanzler und Finanzminister auf. Dort verwickelte er sich sogleich in den nächsten Skandal: Anfang Februar 2019 veröffentlichte die Financial Times Berichte, in denen sie dem deutschen Finanzdienstleister Wirecard gefälschte Bilanzen und Betrug in Milliardenhöhe vorwarf. Die Finanzaufsichtsbehörde unter Scholz ermittelte jedoch nicht gegen Wirecard, sondern gegen die Journalist:innen der Financial Times. Auch Angela Merkel, der die Betrugsvorwürfe bereits bekannt waren, warb auf einer China-Reise auf Empfehlung des Wirecard-Lobbyisten und früheren Bundesministers Karl-Theodor zu Guttenberg für den Konzern. Im Juni 2020 flog schließlich auf, dass Wirecard 1,9 Milliarden Euro in seinen Geschäftsbüchern erfunden hatte, um Gelder von Aktionär:innen zu kassieren – der größte Wirtschaftsskandal der deutschen Geschichte.

Die beiden Fälle von Cum-Ex und Wirecard zeigen das Ausmaß der Betrügereien im Umfeld der Regierungspolitik. Der Aufstieg Merkels in den 2000ern vollzog sich vor dem Hintergrund der Korruptionsskandale von Helmut Kohl, ließ diese jedoch nicht hinter sich. An ihrer Seite bewegten sich alte Weggefährten wie Wolfgang Schäuble, der 1994 vom Waffenhändler Karlheinz Schreiber 100.000 Mark Bestechungsgeld angenommen hatte. Mit ihm als Finanzminister errichtete sie in den 2010er Jahren das Regime der Troika, durch das deutsche Banken und Konzerne von den Krisen in der europäischen Peripherie profitierten und die dortige Bevölkerung verarmte.

Die Korruptionsskandale im Umfeld der Regierung sind nicht bloß auf persönliche Bereicherung zurückzuführen. Sie entstammen der Architektur eines Systems, in dem das Finanzkapital die dominierende wirtschaftliche und politische Kraft im Staat darstellt. Die FinCEN-Files offenbarten Ende letzten Jahres das Ausmaß der schmutzigen Machenschaften im internationalen Finanzwesen. Sie dokumentierten verdächtige Geschäfte im Wert von zwei Billionen Dollar aus Quellen wie Drogenschmuggel, Waffenhandel oder Prostitution – mit direkten Verbindungen zu despotischen Regimen und in die organisierte Kriminalität. 2016 veröffentlichte ein Recherchenetzwerk von internationalen Zeitungen die Panama Papers, das die Existenz eines weltweiten Systems von Briefkastenfirmen offenbarte, die vor allem der Steuerhinterziehung und Geldwäsche von Superreichen, Top-Manager:innen oder Politiker:innen dienten. Darin verwickelt: 28 Banken aus Deutschland.

Die kriminellen Geschäfte des Großkapitals könnten niemals ohne das wohlwollende Wegsehen oder gar die aktive Förderung der Politik geschehen. Letztlich kann die Bundesregierung nicht anders, da die Funktionsfähigkeit ihres gesamten Staates von einem profitablen Finanzwesen abhängt. Die Korruption ist kein bedauerlicher Unfall, sondern Wesenskern und Konstruktionsmerkmal der Bundesrepublik Deutschland.

Korruption, Kapitalismus und bürgerlicher Staat

Zum besseren Verständnis des Ursprungs der Korruption ist die Verbindung dieses Phänomens mit der Natur des bürgerlichen Staates und des gesamten kapitalistischen Systems von entscheidender Bedeutung. Ein Blick in die Geschichte des Kapitalismus selbst macht deutlich, wie stark er auf offenem Betrug und Diebstahl basiert. Die sogenannte „ursprüngliche Akkumulation“ des Kapitalismus in der frühen Neuzeit fußte auf Massenmord, Plünderung und Raub, die von den europäischen Kolonialmächten in Afrika, Amerika und Asien ausgeübt wurden. Diese Gewalt legte den Grundstein der kapitalistischen Entwicklung der imperialistischen Mächte.

Doch die Verbindung von Betrug und Kapitalismus geht weit über den Frühkapitalismus hinaus: Die kapitalistische Wirtschaftsweise besteht auf der Aneignung des durch die Arbeiter:innen geschaffenen Mehrwertes durch die Kapitalist:innen. Karl Marx bezeichnete diesen Vorgang als Ausbeutung und erkannte in ihr die Quelle des Profits, den die Kapitalist:innen ständig vermehren wollen. Der bürgerliche Staat verteidigt diese „legale“ Form des Diebstahls mit seinen Repressionsorganen als gesetzmäßig und schützt damit das Privateigentum der Kapitalist:innen und die Gewinne der herrschenden Klasse.

Die Korruption ist also nur eine zusätzliche Form der Bereicherung der herrschenden Klasse neben der täglichen Ausbeutung der Lohnarbeiter:innen. Als solches steht sie in einer engen Beziehung mit der kapitalistischen Produktionsweise, dem bürgerlichen Staat und der politischen Kaste, die im Auftrag der Bourgeoisie die Institutionen des Staates (Regierung, Parlament, Gerichte) leitet.

Die marxistische Staatstheorie widerspricht der in der breiten Öffentlichkeit verbreiteten Vorstellung des Staates direkt. In den bürgerlichen Medien wird der Staat entweder als unparteiisch bzw. neutral, als „Vater Staat“, oder als Ausdruck des „Volkswillens“ dargestellt, der durch seinen Aufbau (Parlamentarismus, Gewaltenteilung) demokratisch sei. Diese Illusionen in die Mechanismen der bürgerlichen Demokratie, wie etwa die „Rechtsstaatlichkeit“, werden von großen Teilen der Bevölkerung in Deutschland geteilt. Das liegt zu einem großen Teil in der einzigartigen Position der BRD im Kalten Krieg und im imperialistischen Weltsystem insgesamt begründet, die hierzulande im Vergleich zu vielen anderen kapitalistischen Ländern über Jahrzehnte hinweg eine weitgehend stabile Situation geschaffen hat.

Friedrich Engels arbeitet in seinem Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ heraus, dass Staaten als Ausdruck der auftretenden Klassenwidersprüche zwischen Besitzenden und Besitzlosen und der Notwendigkeit der herrschenden Klasse zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung mittels des Gewaltmonopols entstanden sind. Lenin synthetisierte in seinem Werk „Staat und Revolution“ diesen Aspekt von Engels’ Untersuchungen in seiner Definition vom Staat als „besonderer Formation bewaffneter Menschen“ entgegen der in der deutschen und internationalen Sozialdemokratie vorherrschenden pazifistischen Vorstellung vom Staat als einer Institution, die für einen Ausgleich zwischen den Klassen sorgt.

Der Staat ist ein Herrschaftsorgan, der bürgerliche Staat ein Organ zur Durchsetzung der Interessen der Bourgeoisie. Er dient dazu, die Ausbeutung der Arbeiter:innen aufrechtzuerhalten und auszuweiten und das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu verteidigen. Marx spitzte diese Erkenntnis im Kommunistischen Manifest zu der Aussage zu, nach der „die moderne Staatsgewalt […] nur ein Ausschuß [ist], der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“. Die Herrschaft der Kapitalist:innen und ihre fortwährende Bereicherung auf Kosten der Lohnarbeiter:innen ist also nicht auf einzelne Korruptionsskandale beschränkt, sondern wird durch den gesamten Aufbau des Staates mit seinen Vertreter:innen, Gesetzen, Repressionsorganen sowie –um mit dem italienischen Revolutionär Antonio Gramsci zu sprechen – den Teilen des „erweiterten Staates“ wie den Medien, NGOs, Parteien sowie den Bürokratien der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen, gedeckt.

Daher beinhaltet der bürgerliche Parlamentarismus starke Mechanismen der sozialen Kooptierung von Parlamentarier:innen und sämtlichen Amtsträger:innen in öffentlichen Institutionen zugunsten der Bourgeoisie, ihren Gesetzen und ihrer Rechtmäßigkeit. Mit Privilegien und Diäten „erkauft“ sich die herrschende Klasse so vollkommen legal die Gefolgschaft der politischen Kaste, welche die „gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“. Veruntreuung öffentlicher Gelder oder der Weg aus dem Parlamentsbüro in den Vorstandssitz sind zusätzliche Formen individueller Bereicherung, welche die Grenzen zwischen „legaler“ und „illegaler“ Korruption verschwimmen lassen.

Ein Programm gegen Korruption

Die Korruption geht weit über eine Reihe von Einzelfällen hinaus, sondern ist vielmehr ein wesentlicher Bestandteil jeder kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Es stellt sich also die Frage: Wie kann sie erfolgreich bekämpft werden?

Aus bürgerlicher Sicht genügt die Einführung eines Lobbyregisters, wie es der Bundestag zuletzt beschlossen hat. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um einen Placebo, denn es wird nur das absolut Notwendige bekannt gemacht, nicht aber die zugrundeliegenden Mechanismen, die weiterhin im Verborgenen volle Gültigkeit besitzen. Ein Lobbyregister sagt also nichts darüber aus, wer in den Ministerien zu welchem Zweck Lobbyarbeit geleistet hat.

Nun aber machen Millionen die Erfahrung, das Lobbyarbeit bzw. Korruption direkte Auswirkungen auf ihre eigenen Lebensbedingungen haben. Masken, die vor der Pandemie etwa vier bis fünf Cents kosteten, sind heute plötzlich für das Zigfache zu haben. Das bedeutet einen direkten Angriff auf die Taschen der Familien aus der Arbeiter:innenklasse und den verarmten Sektoren der Bevölkerung, die nun die Profitgier verschiedener Lobbyist:innen finanzieren müssen. Deshalb muss der Staat die Masken zahlen, auf Kosten der Profiteur:innen. Jeder, der sich durch Lobbyarbeit und geheime Deals während der Pandemie auf Kosten der Allgemeinheit bereichert hat, soll den gemachten Profit nebst Zinsen zurückzahlen müssen.

In den bürgerlichen Medien ist die Sorge groß, dass die letzten Korruptionsskandale auch das Ansehen des Parlaments dauerhaft beschädigen und so das bundesrepublikanische Regime in eine Legitimationskrise stürzen könnten. Schließlich sind CDU/CSU gemeinsam mit der SPD die politischen Hauptsäulen der bestehenden Ordnung. Wenn sie ins Wanken geraten, bleibt die gesamte Ordnung davon nicht unberührt. Vor den Augen von Millionen wird ersichtlich, dass vor allem die Union, aber auch die SPD eigentlich im Dienste der Interessen großer Konzerne und Finanzinstitute stehen.

Aus unserer Sicht lenkt die Einführung eines Lobbyregisters vom strukturellen Problem ab. Statt ein solches Register zu führen, sollte die Lobbyarbeit einfach verboten werden. Wer dennoch Lobbyarbeit betreibt, sollte nicht im Parlament sitzen dürfen, und Unternehmen und Konzerne, die Lobbyarbeit betreiben, sollten enteignet werden, selbstverständlich ohne jegliche Entschädigung. Dass eine solche Forderung nicht von der SPD oder den Grünen und noch weniger von der Union kommen wird, sollte klar sein.

Um ein solches Verbot zu erzwingen, reichen die parlamentarischen Mechanismen nicht aus. Dazu ist eine Bewegung auf den Straßen und in den Betrieben nötig, die von denjenigen getragen wird, die für die millionenschweren Villen eines Spahns und vieler Weiterer zur Zeit aufkommen. Es sind die Arbeiter:innen und ihre Familien, die Arbeitslosen, die Jugend ohne Jobs und ohne Zukunft, die wohnungslosen Student:innen, die unter der Last der steigenden Mieten nicht mehr wissen, wie es weiter gehen soll. All sie und viele andere müssen mittels Mobilisierungen im Schulterschluss mit den Gewerkschaften für Vermögensabgaben und Verstaatlichungen eintreten, damit entgegen des Vorhabens der Regierung und Bosse die Krise durch die Reichen und Kapitalist:innen bezahlt wird.

Diese Sektoren sollen vom Staat, den Konzernen und dem Parlament unabhängige Kommissionen ins Leben rufen, die mit der Offenlegung der Zuwendungen aus Industrie und Handel beauftragt sind. Alle Nebeneinkünfte müssen auch rückwirkend zurückgezahlt werden und sollten genutzt werden, um Ermittlungen durch eine solche Kommission voran zu treiben.

Denn warum sollten diese Sektoren, die die ganze Last der Pandemie tragen, für die üppigen Gehälter von wie Fürsten lebenden bürgerlichen Politiker:innen, Verfassungsrichter:innen, etc. aufkommen? Warum sollte eine privilegierte Minderheit die Lebensbedingungen der großen leidenden Mehrheit bestimmen und sich auf Kosten ihrer Gesundheit bereichern?

Für ein wirklich radikales Programm gegen Korruption können wir uns auch auf fortschrittliche Erfahrungen aus der Geschichte der Arbeiter:innenbewegung beziehen, wie die der Pariser Kommune. Nachdem die arbeitenden Massen von Paris die bürgerliche Regierung gestürzt hatten, sorgten sie dafür, dass Staatsbeamt:innen und Abgeordnete jederzeit gegenüber der Bevölkerung rechenschaftspflichtig waren und sich nicht länger bereichern können. Sie konnten für ihre Taten jeden Tag und nicht wie heute hierzulande alle vier Jahre verantwortlich gemacht werden, denn sie waren jederzeit abwählbar und ihre Gehälter waren an einen durchschnittlichen Arbeiter:innenlohn gekoppelt. Wenn ein solches Programm heute umgesetzt werden würde, würden sich die Lebensbedingungen der breiten Massen sofort ändern. Abgeordnete sollten keine Immunität genießen, sondern wie alle anderen bestraft werden können. Ihre Sitze sollten nach einem rotativen Prinzip zeitlich begrenzt werden. So ließe sich die Korruption in den Parlamentsfluren und -kantinen erfolgreich unterbinden.

Diese Vorschläge sind keineswegs utopisch – im Gegenteil zeigen die Erfahrungen der FIT-Einheit (Front der Linken und der Arbeiter*innen – Einheit) in Argentinien erste Schritte ihrer praktischen Umsetzung. Die FIT-Einheit ist Wahlbündnis revolutionärer Organisationen, die die parlamentarische Tätigkeit als Tribüne des Klassenkampfes auffassen. Sie treten also nicht an, um die Institutionen von „innen“ zu reformieren, sondern um ihre Parlamentssitze in den Dienst der Kämpfe der Massen zu stellen. Die Parlamentsposten der FIT-Einheit werden rotativ besetzt, d.h. die Abgeordneten der Liste nehmen das Mandat nur für eine zeitlich begrenzte Zeit wahr, bevor sie es an die nächste Person auf der Liste weitergeben. Von den Diäten behalten sie nur einen Arbeiter:innenlohn und spenden bis zu 90 Prozent an Streikkassen. Zugleich kämpfen sie dafür, dass auch die Mandate und Diäten aller anderen Parlamentarier:innen begrenzt werden.

Lasst uns daran ein Beispiel nehmen, um eine politische Kraft aufzubauen, die sich nicht mit der kapitalistischen Misere abfindet, sie nicht mitgestaltet, sie nicht vermenschlicht, sondern sich vornimmt – um es mit Trotzki zu sagen – den Himmel und die Erde zu erstürmen, um die ganze Welt von Ausbeutung, Elend und Zerstörung zu befreien.

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